David Copperfield

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Bei dieser Gelegenheit hörte ich allerlei Geschichten von der Schule und was damit zusammenhängt. Ich hörte, daß Mr. Creakle nicht ohne Grund ein Barbar zu sein behauptete, daß er der unbarmherzigste Schulhalter und der strengste aller Lehrer war, daß er jeden Tag wie ein richtiger Holzhacker schonungslos und unbarmherzig über die Knaben herfiel und um sich schlug, daß er weiter nichts wisse, als die Kunst Schläge auszuteilen, und unwissender sei (J. Steerforth sagte das) als der dümmste Knabe in der Schule. Denn er war früher ein kleiner Hopfenhändler in der Vorstadt gewesen und hatte sich dem Schulgeschäft erst zugewandt, als er Bankrott gemacht und das Geld seiner Frau verludert hatte. Und ich hörte noch ein gut Teil mehr von diesen Dingen, und ich wunderte mich nur, woher sie das alles wußten.

Ich hörte ferner, daß der Mann mit dem hölzernen Beine, der Tungay hieß, ein hartherziger Barbar war, der in Mr. Creakles Diensten im Hopfengeschäfte gestanden hatte und von diesem auch in die Schulbranche übernommen war, da er, wie die Schüler munkelten, in Mr. Creakles Diensten das Bein gebrochen, so manche Betrügerei für seinen Chef ausgeführt hätte und dessen Geheimnisse kannte. Ich erfuhr, daß Tungay mit Ausnahme Mr. Creakles die ganze Anstalt, Schullehrer und Knaben, als seine natürlichen Feinde betrachtete, und daß das einzige Vergnügen seines Lebens war, mürrisch und boshaft zu sein: Ich erfuhr ferner, daß Mr. Creakle einen Sohn hatte, der Unterlehrer in Salemhaus, aber nicht Tungays Freund war, und seinem Vater einmal eine besondere Grausamkeit gegen einen Schüler mißbilligend vorgehalten, auch gegen die Behandlung der Mrs. Creakle, seiner Mutter, protestiert hatte, und dann deswegen von Mr. Creakle des Elternhauses verwiesen worden war. Und seitdem trauerten Frau und Tochter.

Aber das allerwunderbarste, was ich von Mr. Creakle hörte, war, daß sich in der Schule ein Junge befand, an den er nie Hand zu legen wagte, und daß dieser Junge Steerforth war. Steerforth bestätigte das selbst, als es erzählt wurde, und sagte, er möchte doch sehen, wenn er es einmal versuchen wollte. Als ihn ein schüchterner Knabe (nicht ich) fragte, was er in diesem Falle tun werde, tauchte er einen Zünder in die Phosphorbüchse, wohl um einen geheimnisvollen Schein über seine Antwort zu verbreiten, und sagte, er wollte ihn zu allererst mit der großen Tintenkruke, die immer auf dem Kamine stand, durch einen Schlag vor die Stirn zu Boden schmettern. Wir blieben eine Zeitlang atemlos im Dunkeln sitzen.

Ich hörte, daß Mr. Sharp und Mr. Mell beide sehr schlecht bezahlt wurden, und daß man, wenn warmes und kaltes Fleisch auf Mr. Creakles Tafel stand, Mr. Sharp stets zu der Aussage verpflichtet sei, daß er kaltes vorziehe; und das bestätigte Steerforth, der als einziger Pensionär erster Klasse allein an der Tafel des Direktors speiste. Ich hörte, daß Mr. Sharps Perücke nicht fest säße, und daß er nicht so »eitel« darauf zu sein brauche, da man ganz deutlich sehen könnte, wie hinten sein rotes Haar darunter hervorguckte.

Ich hörte, daß ein Junge, der Sohn eines Kohlenhändlers, in die Anstalt aufgenommen wäre, als Ausgleich für die Kohlenrechnung, und daher den Spitznamen Tausch oder Kompens führte, Ausdrücke die dem Rechenbuch entnommen waren und jenes Verhältnis ausdrücken sollten. Ich hörte, daß das Tischbier eine an den Eltern verübte Räuberei und der Pudding ein Betrug sei. Ich hörte, daß Mr. Creakle im allgemeinen dafür galt, in Steerforth verliebt zu sein; und wie ich im Dunkeln dasaß und an seine wohlklingende Stimme, sein hübsches Gesicht, sein ungeniertes Benehmen und sein lockiges Haar dachte, hielt ich es durchaus nicht für unwahrscheinlich. Ich hörte, daß Mr. Mell im Grunde nicht so schlimm war, aber keinen gebogenen Dreier besaß, und daß kein Zweifel darüber war, daß seine alte Mutter, Mrs. Mell, so arm war wie eine Kirchenmaus. Ich dachte an mein Frühstück und an den Ausruf: mein Charley! aber ich war mucksstill, und das ist mir heute noch lieb!

Das Erzählen dieser und vieler anderer Sachen dauerte viel länger als das Festmahl. Der größere Teil der Gaste war indessen zu Bett gegangen, sobald das Essen und Trinken vorbei war; und wir, die wir halb entkleidet im flüsternden Gespräch noch ausgeblieben waren, verfügten uns endlich auch zu Bett.

»Gute Nacht, kleiner Copperfield,« sagte Steerforth, »ich will dich unter meinen Schutz nehmen,«

»Du bist sehr freundlich«, erwiderte ich dankbar. »Ich bin dir sehr verpflichtet.«

»Du hast wohl keine Schwester?« sagte Steerforth gähnend.

»Nein«, antwortete ich.

»Das ist schade«, sagte Steerforth. »Wenn du eine hättest, glaube ich, sie müßte ein kleines, schüchternes, hübsches Mädchen mit hellen Augen sein, das ich wohl hätte kennen mögen. Gute Nacht, kleiner Copperfield.«

»Gute Nacht, Sir«, erwiderte ich.

Ich dachte an ihn sehr viel, als ich im Bette lag, und richtete mich manchmal auf, nach ihm zu sehen, wie er im Mondenscheine dalag, das schöne Gesicht aufwärts gewendet und den Kopf lässig und leicht auf dem Arme ruhend. In meinen Augen war er eine Person von großer Macht; deshalb beschäftigten sich meine Gedanken so viel mit ihm. Keine verschleierte Zukunft umschimmerte ihn trübe im Mondlicht, und in dem Garten, in dem ich die ganze Nacht spazieren ging, hatte er noch keine dunkeln Fußstapfen zurückgelassen.

Siebentes Kapitel. Mein erstes Semester in Salemhaus.

Die Schule fing am nächsten Morgen in vollem Ernste an, und ich weiß, es machte einen tiefen Eindruck auf mich, wie der laute Lärm in der Schulstube plötzlich zur Totenstille wurde, als Mr. Creakle nach dem Frühstück eintrat, in der Tür stehen blieb und sich umsah, wie der Menschenfresser im Märchen seine Gefangenen betrachtet.

Tungay stand neben Mr. Creakle. Ich dachte bei mir, der hätte keine Ursache gehabt, so grimmig Ruhe! zu rufen, denn die Knaben saßen alle stumm und regungslos da.

Jetzt sah man Mr. Creakle sprechen, und Tungay wiederholte laut seine Worte.

»Nun, ihr Jungen, ein neues Semester ist angegangen. Nehmt euch in acht in diesem neuen Semester. Seid gut vorbereitet für die Lektionen, das rate ich euch, denn ich werde gut vorbereitet für die Strafe sein. Ich werde nicht wanken. Es nützt euch nichts, wenn ihr euch reibt; ihr werdet die Striemen nicht wegreiben, die ihr von mir bekommen sollt. Nun macht euch an die Arbeit, ihr Jungen!«

Als diese schreckliche Rede zu Ende und Tungay hinausgestelzt war, kam Mr. Creakle zu mir und sagte mir, wenn ich gut beißen könne, so könne er mir es gleichtun. Er zeigte mir alsdann ein spanisches Röhrchen und fragte mich: »Wie kommt dir der Zahn vor, he? Ist's ein scharfer Zahn, he? Ist's ein Backzahn, he? Hat er eine lange Spitze, he? Beißt er, he? Beißt er wirklich?« Bei jeder Frage gab er mir einen Hieb über den Rücken, daß ich mich vor Schmerzen krümmte; und so war ich bald in Salemhaus eingeführt und zu Hause (wie Steerforth sich ausdrückte) und sehr bald in Tränen. Nicht etwa daß diese Behandlung eine besondere Auszeichnung gewesen wäre. Im Gegenteil, bei der großen Mehrzahl der Knaben (vornehmlich bei den kleinen in der großen Mehrzahl) machte sich Mr. Creakle auf dieselbe Weise bemerklich, wie er die Runde im Zimmer machte.

Die halbe Schule weinte und krümmte sich vor Schmerzen, ehe die Arbeit des Tages begann; und wie groß die Zahl der Weinenden noch wurde, bevor der Tag zu Ende ging, getraue ich mich gar nicht anzugeben, aus Furcht, der Übertreibung beschuldigt zu werden.

Ich glaube, es hat nie einen Menschen gegeben, der in seinem Berufe mehr Genuß fand, als Mr. Creakle. Die Knaben zu schlagen bereitete ihm eine Wollust, die der Befriedigung einer heißen Begierde gleich kam. Ich bin fest überzeugt, daß er sich pausbäckigen Knaben gegenüber nicht halten konnte, daß darin etwas für ihn lag, was ihn nicht ruhen ließ, bevor er den Knaben für den Tag gezeichnet hatte. Ich war selbst pausbäckig und muß es wissen.

Wahrhaftig, wenn ich an diesen Kerl denke, so siedet mein Blut noch heute mit derselben unparteiischen Entrüstung, als wenn ich dies alles von ihm nur gehört und nie selbst unter seiner Fuchtel gestanden hätte, weil ich weiß, daß er ein unfähiger, brutaler Tatar war, der nicht größeres Recht hatte, einen solchen Vertrauensposten einzunehmen, als Großadmiral oder Höchstkommandierender zu sein, und doch würde er wahrscheinlich in beiden Stellungen viel weniger Schaden hätte stiften können, als er hier tat!

Wie demütig wir gegen ihn waren! wir unglücklichen kleinen Zitterer vor einem erbarmungslosen Götzen.

Wenn ich jetzt daran zurückdenke, so muß ich mir sagen: was es doch für ein vielversprechender Anfang für mein Leben war, daß ich gegen einen so unfähigen, anmaßenden Menschen untertänig und kriechend sein mußte.

Hier sitze ich wieder in Gedanken auf meiner Bank und folge seinem Auge – voll Untertänigkeit folge ich ihm, wie er ein Rechenbuch für ein anderes Opfer liniiert, das mit dem Lineal eben etwas auf die Hand bekommen hat und die Schwiele mit dem Taschentuch reibt. Ich habe die Fülle zu tun. Doch ich folge seinem Auge nicht, weil ich müßig bin, sondern weil es mich unnatürlich anzieht, und im bangen Verlangen, zu wissen, was er in der nächsten Minute tun und ob er über mich oder über einen andern herfallen werde. Eine doppelte Reihe kleiner Jungen hinter mir beobachtet ihn mit demselben Interesse. Ich denke, er weiß es, obgleich er sich anders stellt. Er zieht schreckliche Grimassen, während er das Rechenbuch liniiert, und jetzt wirft er einen Seitenblick auf uns, und wir alle lassen den Blick aufs Buch sinken und fangen an zu zittern. Einen Augenblick später beobachten wir ihn schon wieder. Ein Unglücklicher, der seine Sache schlecht gemacht hat, wird vorgerufen. Er stammelt Entschuldigungen und verspricht es morgen besser zu machen. Mr. Creakle macht einen schlechten Witz, ehe er ihn züchtigt, und wir lachen darüber – ja, wir elenden, erbärmlichen Schelme lachen darüber mit Gesichtern so weiß wie Kalk, und Herzen, die uns in die Hosen gefallen sind.

 

Wieder sitze ich am Pult an einem erschlaffendheißen Sommernachmittag; um mich herum summt und schwirrt es, als wären die Schüler lauter Brummfliegen. Der widerliche Geschmack von dem lauwarmen Fett an dem Fleisch, das wir vor zwei Stunden verzehrt haben, ist mir noch geblieben und mein Kopf so schwer wie ein Bleiklumpen. Ich gäbe alles in der Welt hin, wenn ich jetzt ein wenig schlafen dürfte. Ich sitze da und richte die Augen auf Mr. Creakle, blinzle wie eine junge Eule, und wenn der Schlaf mich für einen Augenblick übermannt, verfolgt sein Bild mich bis in den Schlummer und ich träume, daß er Bücher liniiert, bis er leise hinter mich tritt und mich durch einen roten Striemen auf meinem Rücken zu einem klarem Bewußtsein seiner Gegenwart weckt.

Auch auf dem Spielplatz hängt mein Auge wie gebannt an ihm, obwohl ich ihn nicht sehen kann. Das kleine Fenster dort, hinter dem er, wie ich weiß, sein Mittagmahl verzehrt, bedeutet ihn, und deshalb richte ich mein Auge darauf. Zeigt er sein Antlitz, so nimmt das meine einen flehenden unterwürfigen Ausdruck an. Steckt er den Kopf heraus, so hält der keckste Junge (mit Ausnahme von Steerforth) in seinem Freuden- oder Schmerzensschrei ein und wird plötzlich nachdenklich. Eines Tages zerbrach Traddles (der größte Pechvogel von der Welt) durch Zufall jene Scheibe mit einem Ball. Noch jetzt schaudre' ich vor Entsetzen, als ich diese Tat geschehen sah, und merkte, daß der Ball gegen Mr. Creakles geweihtes Haupt geflogen war.

Der arme Traddles, in einem engen himmelblauen Anzug, worin seine Arme und Veine wie Bratwürste aussahen, war der lustigste und zugleich unglücklichste unter allen Schülern. Er bekam immer Schläge – ich glaube, in diesem Semester an jedem Tag, mit Ausnahme eines Ferienmontags, wo er nur mit dem Lineal etwas auf die Hand bekam – und wollte immer deshalb an seinen Onkel schreiben und unterließ es doch stets. Nachdem er mit dem Kopf eine kleine Weile auf dem Pult gelegen hatte, wurde er wieder heiter und fing zu lachen an und, auf seine Schiefertafel Gerippe zu zeichnen, ehe noch seine Augen trocken waren. Ich konnte mir lange Zeit nicht erklären, welchen Trost Traddles im Zeichnen dieser Skelette fand, und betrachtete ihn als eine Art Einsiedler, der sich durch diese Symbole der Vergänglichkeit ins Gedächtnis zurückrufen wollte, daß Schläge nicht ewig dauern können. Aber ich glaube jetzt, er zeichnete die Klappermänner nur, weil sie so leicht waren und er ihnen keine Gesichter zu geben brauchte.

Traddles war sehr ehrenhaft, das ist wahr, und er betrachtete es als eine heilige Pflicht der Schüler, treu einander beizustehen. Er hatte dafür mehr als einmal zu leiden, und vornehmlich einmal, wo Steerforth während des Gottesdienstes lachte und der Kirchendiener glaubte, es sei Traddles gewesen, und ihn hinaus führte. Ich sehe ihn noch jetzt, wie er in den Karzer hinausging, von der Gemeinde verabscheut. Er verriet niemals den eigentlichen Täter, obgleich er es den nächsten Tag zu fühlen bekam und so viel Stunden eingesperrt wurde, daß er einen ganzen Kirchhof voll Gerippe in seinem lateinischen Wörterbuch mit herausbrachte. Aber er erhielt auch seinen Lohn. Steerforth sagte, Traddles sei ein grundbraver Kerl, und hätte nicht die mindeste Anlage zu einer Petze, und wir fühlten alle, daß dies das höchste Lob war. Ich selbst hätte viel ertragen mögen, obschon ich weniger herzhaft als Traddles war und noch lange nicht so alt, um eine solche Belobigung einzuheimsen.

Steerforth Arm in Arm mit Miß Creakle in die Kirche vor mir hergehen zu sehen, war nichts Kleines. Ich konnte Miß Creakle, der kleinen Emilie hinsichtlich der Schönheit nicht gleichstellen, und ich liebte sie nicht (das wagte ich überhaupt nicht), aber sie erschien mir doch als eine junge Name von ungewöhnlichen Reizen und von unübertrefflicher Eleganz des Benehmens. Wenn Steerforth in weißen Beinkleidern einherstolzierte und ihr Sonnenschirmchen trug, so war ich stolz auf seine Freundschaft und ich glaubte, das Fräulein müsse ihn von Herzen bewundern. Mr. Sharp und Mr. Mell waren ja beides wichtige Persönlichkeiten in meinen Augen, aber Steerforth war im Vergleich zu ihnen, was die Sonne gegen zwei Sterne ist.

Steerforth blieb mein Beschützer und zeigte sich mir als einen sehr nützlichen Freund, da niemand einem Knaben, dessen Gönner er war, etwas zu tun wagte. Gegen Mr. Creakle konnte er mich allerdings nicht schützen, oder er tat es wenigstens nicht, und dieser war sehr hart gegen mich; aber wenn er mich einmal härter gestraft hatte als gewöhnlich, sagte er mir stets, mir fehlte ein wenig von seinem Mute, und er würde es nicht ertragen haben. Damit beabsichtigte er, mich zu trösten, und ich fand es sehr freundlich. Einen Vorteil, aber nur einen einzigen, hatte Mr. Creakles Strenge. Die Pappe auf meinem Rücken genierte ihn, wenn er mir im Vorbeigehen an den Bänken eins überziehen wollte, und aus diesem Grunde wurde sie entfernt: – ich sah sie nicht wieder.

Ein zufälliger Umstand befestigte das vertrauliche Verhältnis zwischen Steerforth und mir in einer Weise, die mich mit stolzer Befriedigung erfüllte, obgleich sie manchmal etwas beschwerlich war. Als er mir einmal die Ehre erwies, auf dem Spielplatze mit mir zu sprechen, erwähnte ich, daß der oder jener, oder dies oder das Vorkommnis – was es war, habe ich vergessen, einer entsprechenden Szene in Peregrine Pickle ähnlich war. Er sagte nichts; aber als wir abends zu Bett gingen, fragte er mich, ob ich das Buch besitze.

Ich sagte: nein, und erzählte ihm, wie ich es gelesen habe, und erwähnte auch die andern Bücher, an denen ich mich damals gelabt hatte.

»Und weißt du die Geschichten noch?« sagte Steerforth.

»O ja«, gab ich zur Antwort; ich hatte ein gutes Gedächtnis und glaubte sie fast auswendig zu wissen.

»Dann will ich dir was sagen, kleiner Copperfield,« meinte Steerforth, »dann sollst du sie mir erzählen! Ich kann abends nicht sehr zeitig einschlafen und wache meistens schon früh auf. Wir wollen sie alle miteinander durchmachen. Wir wollen Tausend und eine Nacht spielen.«

Ich fühlte mich durch diesen Vorschlag außerordentlich geschmeichelt, und wir fingen gleich diesen Abend an. Welche Sünden ich im Verlauf meiner Erzählung an meinen Lieblingsdichtern beging, sie verstümmelte oder entstellte, das weiß ich nicht mehr und möchte es auch gar nicht wissen; aber ich glaubte an sie aufrichtig, und hatte, so viel ich mich erinnern kann, eine einfache und sinnige Weise, zu erzählen: und das entschädigte für vieles, und damit kann man schon weit kommen.

Die Schattenseite dabei war nur, daß ich abends oft schläfrig oder niedergeschlagen und daher wenig aufgelegt war, die angefangene Geschichte weiter zu erzählen. Dann war es ein saures Stück Arbeit, das jedoch getan werden mußte, denn Steerforth etwas abzuschlagen oder sein Mißfallen zu erregen, war natürlich nicht möglich. Auch morgens, wenn ich noch müde war und gern eine Stunde langer geschlafen hätte, war es recht lästig, wie die Sultanin Scheherazade geweckt zu werden und eine lange Geschichte erzählen zu müssen, ehe die Glocke für das Aufstehen erklang. Aber Steerforth beharrte dabei, und da er mir dafür die Exerzitien und Rechenexempel erklärte, oder was mir sonst an meinen Schulaufgaben zu schwer war, so war dies Abkommen auch nicht unvorteilhaft für mich. Doch will ich selbst gerecht gegen mich sein. Ich ließ mich nicht durch selbstsüchtige oder gewinnsüchtige Absichten leiten, und auch nicht etwa durch Furcht vor ihm. Ich bewunderte und liebte ihn, und seine Anerkennung war mir Lohn genug. Sie war mir so köstlich, daß ich jetzt an diese kleinen Vorfälle mit zuckendem Heizen zurückdenke.

Doch Steerforth war auch nachsichtig und bewies seine Rücksichtnahme bei einer Gelegenheit auf eine unnachgiebige Weise, die dem armen Traddles und den übrigen Tantalusqualen bereitete. Peggottys versprochener Brief – was für ein kostbarer Brief war's – kam richtig an, ehe das Semester viele Wochen alt war, und in Begleitung des Schreibens ein Kuchen, in einem wahren Nest von Apfelsinen gebettet, und zwei Flaschen Johannisbeerwein. Ich legte diesen Schatz pflichtgemäß zu Steerforths Füßen nieder und bat ihn um dessen Verteilung.

»Ich will dir was sagen, kleiner Copperfield,« sagte er, »wir wollen den Wein aufheben, um dir den Schnabel feucht zu halten, wenn du Geschichten erzählst.«

Der Gedanke machte mich erröten, und ich bat ihn in meiner Bescheidenheit, nicht an so etwas zu denken. Aber er sagte, ich sei manchmal ein wenig heiser (»krächzend« wie er sagte), und jeder Tropfen davon sollte für mich allein bleiben. Demnach füllte er die Kruke in eine Medizinflasche um, schloß die Flasche in seinen Koffer ein, und labte mich mit dem Inhalt durch eine im Kork angebrachte Federspule, wenn ich seiner Meinung nach der Stärkung bedurfte. Manchmal war er so gütig, den Trank zu verbessern, Pommeranzensaft hineinzupressen oder ihn mit Ingwer umzurühren oder ein Pfefferminzplätzchen darin aufzulösen, und obgleich ich nicht behaupten kann, daß der Geschmack dadurch sehr verbessert wurde, oder daß er abends vor dem Einschlafen und früh nüchtern genossen besonders magenstärkend war, so trank ich ihn doch dankbar und empfand solche Aufmerksamkeit von Steerforth mit Anerkennung.

Ich glaube, wir hatten monatelang mit Peregrine Pickle und mehrere Monate mit den andern Geschichten zugebracht. Mangel an Stoff trat nie ein, das weiß ich gewiß, und der Wein hielt fast so lange aus wie der Stoff. Der arme Traddles, dessen ich stets nur mit einer Anwandlung zu lachen gedenken kann, und trotzdem habe ich seinetwegen Tränen in den Augen, spielte dabei gewissermaßen die Rolle des Chorus, bekam entweder bei den komischen Partien förmliche Lachkrämpfe, oder stellte sich von übertriebener Furcht ergriffen, wenn die Erzählung ängstliche Spannung zu erwecken geeignet war. Das brachte mich oft aus dem Konzepte. So z.B. war es ein Hauptspaß von ihm, zu sagen, er könne sich des Zähneklapperns nicht enthalten, wenn in den Abenteuern des Gil Blas ein Alguajil vorkam, oder wenn Gil Blas in Madrid den Räuberhauptmann antraf. Und einmal ahmte der unglückliche Spaßmacher den Angstschauer so natürlich, aber leider zu geräuschvoll nach, daß es ihm wegen ungebührlichen Betragens im Schlafzimmer die schönsten Prügel eintrug, als Mr. Creakle draußen auf dem Gange spionierend herumschnüffelte.

Die romantischen und träumerischen Seiten meines Charakters fanden viel Nahrung an diesem Erzählen im Dunkeln; und in dieser Hinsicht war die Beschäftigung Wohl nicht sehr nützlich für mich. Aber der Umstand, daß ich in meiner Stube als eine Art Spielzeug gehätschelt wurde, und das Bewußtsein, daß meine Fertigkeit den übrigen Knaben zu Ohren kam und mir einiges Ansehen gab, obgleich ich der jüngste war, spornte mich an, mein Bestes zu leisten. In einer Schule, wo bloße brutale Strenge herrscht, wird schwerlich viel gelernt, mag an ihrer Spitze ein Dummkopf stehen oder nicht. Ich glaube, meine Kameraden waren im allgemeinen so unwissende Schüler, als es sie nur in einer Anstalt geben konnte; sie wurden viel zu sehr verprügelt und verschüchtert, um etwas lernen zu können; sie konnten dies ebensowenig mit Vorteil tun, als irgend wer etwas anderes in einem Leben von beständiger Mühsal und Plage mit Glück und Erfolg zu Ende führen kann. Aber ein bißchen Eitelkeit auf meiner Seite und Steerforths Hilfe auf der andern trieben mich an, und dieser Eifer machte mich, ohne mich von den Strafen zu befreien, zu einer Ausnahme von den übrigen, indem ich sicher wenigstens einige Brosamen von Kenntnissen auflas.

Mr. Mell, der eine Teilnahme für mich an den Tag legte, für die ich ihm noch heute dankbar bin, unterstützte mich darin sehr. Ich bemerkte stets mit Schmerz, daß Steerforth ihn mit Geringschätzung behandelte, und selten eine Gelegenheit vorübergehen ließ, wo er seine Gefühle verletzen konnte. Dies beunruhigte mich einige Zeit um so mehr, als ich Steerforth, vor dem ich ein Geheimnis ebensowenig wie einen Kuchen oder einen andern greifbaren Gegenstand behalten konnte, von den beiden alten Frauen erzählt hatte, zu denen mich Mr. Mell gebracht hatte, und ich fürchtete immer, Steerforth werde es ausplaudern und den Lehrer gar damit necken.

 

Wer von uns hätte gedacht, als ich an jenem ersten Morgen in London mein Frühstück aß und unter dem Schatten der drei Pfauenfedern beim Blasen der Flöte einschlief, was für Folgen die Einführung meiner kleinen Wenigkeit in dies Armenhaus haben würde? Doch dieser Besuch hatte seine unvorhergesehenen Folgen, und zwar recht ernste in ihrer Art.

Eines Tages nämlich, als Mr. Creakle wegen Unpäßlichkeit das Zimmer hütete, was natürlich die lebhafteste Freude über die ganze Schule verbreitete, wurde schon während der Morgenstunde viel Lärm gemacht. Die Stimmung der Knaben war so übermütig, daß mit ihnen nur schwer auszukommen war, und obgleich der gefürchtete Tungay mit dem hölzernen Beine ein- oder zweimal hereingestelzt kam und die Namen der Hauptmissetäter aufschrieb, so machte dies doch wenig Eindruck, da alle wußten, sie würden morgen doch in Strafe kommen, mochten sie tun, was sie wollten, und es deshalb jedenfalls für das beste hielten, sich des heutigen Tages möglichst zu erfreuen.

Es war eigentlich ein halber Feiertag, nämlich Sonnabend. Aber da der Lärm auf dem Spielplatze Mr. Creakle hätte stören können und das Wetter zum Spazierengehen nicht günstig war, so mußten wir nachmittags in der Klasse bleiben und einige leichtere Arbeiten verrichten. Es war der Tag in der Woche, wo Mr. Sharp ausging, um sich die Perücke kräuseln zu lassen, und so traf auf Mr. Mell, dem immer alle Plackereien zufielen, das Amt, für heute allein Schule zu halten.

Wenn ich den Vergleich mit einem Stier oder Bären auf einen so sanften Menschen wie Mr. Mell anwenden könnte, so würde ich sagen, daß er an jenem Nachmittage, als der Tumult seinen Höhepunkt erreicht hatte, einem jener von tausend Hunden gehetzten Tiere glich. Ich sehe ihn seinen schmerzenden Kopf auf seine knochendürre Hand stützen, über das Buch auf seinem Pulte gebeugt, umsonst kläglich bemüht, sich mit seiner Aufgabe unter einem so rasenden Aufruhr abzufinden, daß er den Sprecher des Unterhauses betäubt hätte. Die Lümmels schossen hin und her, sprangen auf die Bänke und wieder hinunter, spielten Haschens miteinander, lachten, sangen, tanzten, johlten, scharrten mit den Füßen, drehten sich um ihn im Kreise, grinsten, schnitten Gesichter, äfften ihm hinter seinem Rücken nach und vor seinen Augen, verspotteten seine Armut, seine Stiefel, seinen Rock, seine Mutter, kurz alles, war nur irgend einen Bezug auf ihn haben konnte, aber was sie hätten achten und ehren sollen.

»Ruhe!« rief Mr. Mell plötzlich aufspringend und mit dem Buche auf das Pult schlagend. »Was soll das heißen? Es ist nicht auszuhalten. Es ist zum Verrücktweiden. Wie könnt Ihr mir das antun, Jungens.«

Es war mein Buch, mit dem er auf das Pult geschlagen hatte, und da ich neben ihm stand und seinem Auge, das im Zimmer umherflog, folgte, sah ich, wie alle Knaben schwiegen, einige aus plötzlicher Überraschung, manche aus halber Furcht, manche vielleicht aus Reue über ihr Betragen.

Steerforths Platz war am untern Ende der langgestreckten Schulstube. Er hatte sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Hände in den Taschen, und sah Mr. Mell an, die Lippen gespitzt, als wollte er pfeifen.

»Still, Mr. Steerforth!« sagte Mr. Mell.

»Seien Sie selber still!« sagte Steerforth mit gerötetem Gesicht. »Zu wem sprechen Sie?«

»Setzen Sie sich!« sagte Mr. Mell.

»Setzen Sie sich selber!« sagte Steerforth, »und bekümmern Sie sich um Ihre Arbeit.«

Ich hörte ein Kichern und hier und da leisen Beifall, aber Mr. Mell war so käsebleich, daß es fast augenblicklich wieder still wurde, und ein Knabe, der wieder aufgesprungen war und seine Mutter nachäffen wollte, besann sich anders und ließ sich die Feder schneiden.

»Wenn Sie meinen, Steerforth,« sagte Mr. Mell, »es wäre mir nicht bekannt, welche Macht Sie hier über jedes Gemüt ausüben« – er legte dabei seine Hand wohl unbewußt auf meinen Kopf – »oder ich hätte nicht bemerkt, wie Sie Ihre jüngeren Mitschüler in jeder Weise aufmuntern, mich zu beleidigen, so irren Sie sich sehr.«

»Ich gebe mir gar nicht die Mühe, an Sie zu denken,« sagte Steerforth kaltblütig, »also irre ich mich zufällig gar nicht.«

»Und wenn Sie Ihre Stellung als Günstling hier benutzen, Sir,« fuhr Mr. Mell mit zuckenden Lippen fort, »einen Ehrenmann zu beleidigen –«

»Was? Wo soll einer sein?« sagte Steerforth. Hier rief jemand: »Pfui, Steerforth! Das ist zu arg!« Es war Traddles, den Mr. Mell sofort damit abtrumpfte, daß er ihm Schweigen gebot.

»Wenn Sie einen Mann beleidigen, dem es nicht so gut im Leben geht wie Ihnen, Sir, und der Sie niemals im mindesten beleidigt hat, und wenn Sie zugleich die vielen Gründe kennen, die Sie veranlassen sollten, ihn nicht zu beleidigen, Gründe, die zu kennen Sie alt und klug genug sind,« sagte Mr. Mell, und seine Lippen zitterten immer mehr, »so begehen Sie eine niedrige und schlechte Handlung. Sie können sich niedersetzen oder stehen bleiben, ganz wie Sie wollen, Sir! – Copperfield, weiter!«

»Kleiner Copperfield,« sagte Steerforth und trat vor an das Pult; »warte einen Augenblick. – Ich will Ihnen was sagen. Mr. Mell, ein für allemal. Wenn Sie sich die Freiheit nehmen, mich niedrig oder schlecht zu nennen, oder einen ähnlichen Ausdruck gebrauchen, so sind Sie ein unverschämter Bettler. Sie sind von jeher ein Bettler gewesen, das wissen Sie ja; aber wenn Sie das tun, so sind Sie ein unverschämter Bettler.«

Ich bin nicht recht klar darüber, ob er Mr. Mell oder ob Mr. Mell ihn schlagen wollte, oder ob überhaupt auf einer der beiden Seiten eine solche Absicht vorhanden war. Ich sah nur, daß die ganze Schule plötzlich wie versteinert geworden war, und auf einmal sah ich Mr. Creakle mitten unter uns stehen, neben ihm Tungay, und an der Türe Mrs. und Miß Creakle mit scheuen und erschrockenen Gesichtern. Mr. Mell, die Ellbogen auf das Pult gestützt und das Gesicht in die Hände gelegt, saß einige Augenblicke regungslos da.

»Mr. Mell«, sagte Mr. Creakle und schüttelte ihn beim Arme, und sein Gekrächze war diesmal so laut, daß Tungay die Worte nicht zu wiederholen brauchte. »Sie haben sich doch nicht etwa vergessen?«

»Nein, Sir! Nein, Sir!« erwiderte der Unterlehrer, der jetzt wieder sein Gesicht enthüllte und in großer Aufregung den Kopf schüttelte und die Hände rieb. »Nein, Sir! Nein, ich habe mich nicht vergessen – nein, Mr. Creakle, ich habe mich nicht vergessen. Ich – wünschte nur, Sie hätten mich auch nicht vergessen und etwas eher an mich gedacht – es – es – wäre gütiger gewesen und gerechter, Sir. Es hätte mir manches erspart, Sir.«

Mr. Creakle sah Mr. Mell streng an, legte die Hand auf Tungays Schulter, trat auf eine Bank neben sich und setzte sich auf das Pult. Nachdem er von diesem Throne noch eine Weile Mr. Mell scharf angesehen hatte, der noch immer in großer Aufregung den Kopf schüttelte und die Hände rieb, wendete er sich zu Steerforth und sagte:

»Nun, Sir, da er sich nicht herabläßt, es mir zu sagen, so sagen Sie, was hier vorgefallen ist.«