Oliver Twist

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Oliver Twist
Oliver Twist
Audiobook
Is reading Artur Ziajkiewicz
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Oliver Twist
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Is reading Staff Audiolibros Colección
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10. Kapitel.

Oliver gewinnt Erfahrung um einen hohen Preis.

Oliver blieb acht bis zehn Tage im Zimmer des Juden, wurde fortwährend beschäftigt, Zeichen aus den Taschentüchern, von denen eine große Menge nach Hause gebracht wurde, herauszutrennen, und nahm bisweilen an dem beschriebenen Spiele teil, das täglich gespielt wurde. Er fing immer mehr an, sich nach frischer Luft zu sehnen, und bat den alten Herrn mehrmals auf das dringendste, ihn mit seinen beiden Kameraden zum Arbeiten ausgehen zu lassen.

Endlich wurde ihm eines Morgens die Erlaubnis erteilt, unter Jacks und Charleys Aufsicht auszugehen. Es waren keine Taschentücher mehr da, an denen Oliver hätte arbeiten können, und vielleicht war dies der Grund, weshalb der alte Herr seine Zustimmung gab. Die Knaben gingen und gerieten sogleich in ein sehr langsames Schlendern, was Oliver höchst mißbilligte, eingedenk der vielfachen Warnungen des alten Herrn vor dem verderblichen Müßiggange. Der Baldowerer verübte mannigfachen Mutwillen an Knaben, und Charley erlaubte sich sogar, die Heiligkeit des Eigentums zu verletzen, wenn er an einem Apfel- oder Zwiebelkorbe vorüberkam. Oliver war daher schon im Begriff, unwillig heimzukehren, als seine Begleiter auf einmal anfingen, sich äußerst geheimnisvoll zu benehmen, wodurch er von seinem Vorhaben abgelenkt wurde.

Sie umschlichen einen alten Herrn, auf den sie ihn aufmerksam gemacht hatten, ohne seine Fragen anders als durch einige ihm unverständliche Worte und Winke zu beantworten. Er hielt sich einige Schritte hinter ihnen und stand endlich, unschlüssig, ob er weitergehen oder sich zurückziehen solle, verwundert zuschauend da.

Der alte Herr sah sehr respektabel aus, trug Puder in den Haaren und eine goldene Brille. Er hatte sich vor einen Bücherladen hingestellt, ein Buch zur Hand genommen, las darin, sein spanisches Rohr unter dem linken Arme, und hörte und sah offenbar nicht, was um ihn her vorging.

Wer beschreibt Olivers Bestürzung, als der Baldowerer dem alten Herrn das Tuch aus der Tasche zog, es Charley Bates reichte, und als darauf beide spornstreichs davonliefen! Im Augenblick war ihm das Geheimnis der Taschentücher, Uhren und Kleinodien klar. Das Blut stockte ihm in den Adern, ihm schwindelte vor Furcht und Schrecken, und ohne zu wissen, was er tat, lief er seinen Kameraden nach, so schnell seine Füße ihn tragen mochten. In demselben Augenblick griff der alte Herr nach seinem Tuche in die Tasche, vermißte es, drehte sich rasch um, sah Oliver laufen und erhob den Ruf: «Halt den Dieb!» – den magischen Ruf, auf welchen sofort alles lebendig wird, der Krämer aus seinem Laden auf die Straße stürzt, der Gemüsehändler seinen Korb, der Milchmann seinen Eimer, der Pflasterer seine Ramme, der Schulknabe seine Bücher im Stiche läßt und alles nachläuft.

Jack und Charley hatten Aufsehen zu vermeiden gewünscht und waren daher nur bis um die nächste Ecke gelaufen, worauf sie sich unter einem Torwege neugierigen Blicken zu entziehen suchten. Sobald sie das Geschrei «Halt den Dieb!» vernahmen, stimmten sie aus allen Kräften ein und schlossen sich wie gute Bürger den Verfolgern an. Diese Anwendung des großen Naturgesetzes der Selbsterhaltung war Oliver vollkommen neu. Er wurde noch mehr verwirrt und bestürzt und verdoppelte seine Eile, sah sich indes nach einiger Zeit eingeholt und wurde obendrein zu Boden geschlagen.

In wenigen Augenblicken war ein zahlreicher Haufen um ihn versammelt. «Drückt ihn doch nicht tot!» – «Verdient er's besser?» – «Wo ist der bestohlene Herr?» – «Da kommt er schon; macht Raum für den Herrn!» – «Ist dies der Bursch, Sir?» – «Ja!»

Oliver lag da, mit Schmutz bedeckt, blutend aus Nase und Mund, und sah betäubt und geängstet umher.

«Ich fürchte, daß es der Knabe ist», sagte der Herr sehr milde.

«Das fürchten Sie? Der ist auch wohl der Rechte.»

«Der arme Kleine hat sich beschädigt!» fuhr der Herr fort.

«Das hab' ich getan», fiel ein vierschrötiger Mensch, hervortretend, ein; «traf ihn gerade mit der Faust auf die Schnauze – ich hab' ihn aufgehalten für Sie, Sir.»

Er zog grinsend den Hut, eine Belohnung seiner Dienstfertigkeit erwartend; allein der alte, dicke Herr blickte ihn unwillig an und hätte sich offenbar gern entfernt, wenn sich nicht ein Polizist, der in solchen Fällen gewöhnlich zuletzt kommt, in diesem Augenblick durch die Menge gedrängt und Oliver beim Kragen gepackt hätte.

«Steh auf!» sagte der Mann barsch.

«Ich bin es wirklich nicht gewesen, Sir, wirklich und wahrhaftig nicht. Es waren zwei andere Knaben», sagte Oliver, die Hände bittend zusammenlegend. «Sie müssen hier irgendwo in der Nähe sein.»

«O nein, sie sind nicht hier», entgegnete der Beamte. Er meinte dies ironisch, aber es war die volle Wahrheit, denn der Baldowerer und Charley Bates hatten sich längst aus dem Staube gemacht. «Steh auf!»

«Tun Sie ihm nichts zuleide», sagte der menschenfreundliche Herr.

«O nein, ich werde ihm nichts zuleide tun», erwiderte der Polizist, indem er zum Beweise dafür Oliver die Jacke halb vom Rücken riß. «Komm nur; ich kenne dich schon. Willst du mal auf deinen Füßen stehen, verdammter kleiner Strolch!»

Oliver machte einen Versuch, sich zu erheben, konnte sich aber kaum aufrecht erhalten und wurde am Kragen seiner Jacke im Laufschritt durch die Straßen geschleppt. Der alte Herr ging mit, und ein immer anwachsender Volkshaufen folgte johlend und lärmend den drei nach der nächsten Polizeiwache.

11. Kapitel.

Wie Mr. Fang die Gerechtigkeit handhabte.

Der Diebstahl war im Bezirke dieses Polizeiamtes begangen worden. Als der Zug auf der Wache anlangte, wurde Oliver vorläufig in ein kellerartiges Gemach eingeschlossen, das über alle Beschreibung schmutzig war, denn sechs Betrunkene hatten es fast drei Tage inne gehabt. Doch das will nichts sagen. Sperrt man doch Tag für Tag und Nacht für Nacht Männer und Weiber um der geringfügigsten, leichtfertigsten Anschuldigungen willen in Spelunken ein, gegen welche die Zellen der schwersten und bereits verurteilten Verbrecher im Newgategefängnisse für Prunkgemächer gelten könnten!

Der alte Herr sah Oliver mitleidig und wehmütig nach. –

«Es liegt ein Ausdruck in den Zügen des Knaben, der mich ganz wunderbar ergreift», sprach er bei sich selbst. «Sollte er nicht unschuldig sein? Er sah aus, als wenn er – hm! – ist mir's doch in der Tat, als wenn ich dieses Gesicht oder ein ganz ähnliches schon gesehen hätte.»

Er sann und sann, rief sich die Züge seiner Freunde, Feinde und Bekannten, alter und neuer, längst vergessener, längst im Grabe ruhender ins Gedächtnis zurück, vermochte sich aber dennoch auf keines zu entsinnen, mit welchem Oliver Ähnlichkeit gehabt hätte. «Nein, es muß Einbildung sein», sagte er endlich seufzend und kopfschüttelnd.

Er wurde durch eine Berührung an der Schulter aus seinem Sinnen aufgeschreckt und bemerkte, als er sich umwandte, den Schließer, der ihn aufforderte, ihm ins Amtszimmer zu folgen. Als er eintrat, saß Mr. Fang, der Polizeirichter, bereits hinter einer Barriere am oberen Ende, und neben der Tür befand sich eine Art von hölzernem Verschlag, in dem der arme Oliver, an allen Gliedern zitternd, hockte. Mr. Fangs Antlitz hatte den Ausdruck der Härte und war sehr rot. Wenn er nicht mehr zu trinken pflegte, als ihm gut war, so hätte er gegen sein Gesicht eine Injurienklage anstellen können, und sicher würden ihm beträchtliche Entschädigungsgelder zuerkannt worden sein.

Der alte Herr verbeugte sich ehrerbietig.

«Hier ist mein Name und meine Adresse, Sir!» sagte er und reichte Mr. Fang seine Karte.

Mr. Fang, der eben seine Zeitung las, war unwillig über die Störung und blickte ärgerlich auf.

«Wer sind Sie?»

Der alte Herr wies ein wenig erstaunt auf seine Karte.

Mr. Fang stieß sein Zeitungsblatt nebst der Karte verächtlich zur Seite.

«Gerichtsdiener! Wer ist dieser Mensch?»

«Sir, ich heiße Brownlow», fiel der alte Herr mit dem Anstande eines Gentleman in starkem Kontrast zu Mr. Fang ein. «Erlauben Sie, daß ich um den Namen des Richters bitte, der einen anständigen Mann ohne alle Veranlassung im Gerichtslokale beleidigt.»

«Gerichtsdiener!» herrschte Fang; «wessen ist dieser Mensch angeklagt?»

«Er ist nicht angeklagt, Ihr Edeln, sondern erscheint als Ankläger des Knaben.»

Seine Edeln wußten das sehr wohl, konnten jedoch auf die Weise ganz sicher unangenehme Dinge sagen.

«Erscheint als Ankläger des Knaben – so!» sagte Fang, Brownlow verächtlich von Kopf bis zu den Füßen betrachtend. «Nehmen Sie ihm den Eid ab.»

«Bevor das geschieht, muß ich mir ein paar Worte erlauben», fiel Brownlow ein. «Ich würde nämlich, ohne daß es mir wirklich widerfahren wäre, niemals geglaubt haben –»

«Halten Sie den Mund, Sir!» unterbrach ihn Fang in befehlshaberischem Tone.

«Ich will und werde reden!» sagte Brownlow ebenso bestimmt.

«Sie halten augenblicklich den Mund, Sir, oder ich lasse Sie hinausbringen. Sie sind ein unverschämter Mensch! Wie können Sie es wagen, sich den Anordnungen eines Richters widersetzen zu wollen?»

Dem alten Herrn stieg das Blut ins Gesicht.

«Vereidigen Sie dieses Individuum!» rief Fang dem Schreiber zu. «Ich will durchaus nichts mehr hören.»

Brownlow war im höchsten Grade entrüstet, glaubte aber, dem Knaben möglicherweise schaden zu können, wenn er seine Gefühle nicht unterdrückte, und legte daher den Eid ab.

«Wohin geht Ihre Anklage?» fragte ihn Fang darauf. «Was haben Sie zu sagen, Sir?»

 

«Ich stand vor einem Bücherladen», begann Brownlow, allein Fang unterbrach ihn.

«Schweigen Sie, Sir. Wo ist der Polizist? Vereidigen Sie den Polizisten. Polizist – reden Sie!»

Der Polizist berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, wie er den Knaben gefunden, und wie er ihm die Taschen durchsucht und nichts gefunden habe; – mehr wisse er nicht.

«Sind Zeugen vorhanden?» fragte Fang.

«Nein, Ihr Edeln.»

Fang saß ein paar Minuten schweigend da, wendete sich darauf zu Brownlow und sagte in großer Hitze: «Denken Sie Ihre Anklage gegen den Knaben anzubringen oder nicht? Sie haben geschworen. Verweigern Sie Ihr Zeugnis, so werd' ich Sie wegen Nichtachtung der Richterbank in Strafe nehmen; das werd' ich, beim –»

Es ist und bleibt unbekannt, bei wem; denn der Schreiber hustete im rechten Augenblick und ließ ein Buch zur Erde fallen – natürlich nur zufällig.

Brownlow konnte endlich vorbringen, was er zu sagen hatte, und fügte hinzu, daß er die Hoffnung hege, der Richter werde die Gesetze so mild wie möglich anwenden, wenn er es als erwiesen annehmen sollte, daß der Knabe, wenn er nicht selbst ein Dieb sei, doch mit Dieben in Verbindung stehe.

«Er ist bereits hart beschädigt,» schloß er, «und ich fürchte, daß ihm sehr unwohl ist.»

«Unwohl – so, so!» sagte Fang mit einem höhnischen Lächeln. «Du spielst mir hier keine Komödie, du kleiner Landstreicher, das sag' ich dir; kommst mir damit nicht durch. Wie heißest du?»

Oliver wollte antworten, aber die Zunge versagte den Dienst. Er war totenblaß, und alles schien sich mit ihm zu drehen.

«Wie heißest du, du verhärteter Schlingel?» donnerte ihn Fang wiederholt an. «Gerichtsdiener, wie heißt der Bube?»

Der Gerichtsdiener beugte sich über Oliver und wiederholte die Frage, gewahrte aber, daß der Knabe wirklich nicht imstande war zu antworten, und sagte daher, weil er wußte, daß der Richter sonst nur noch wütender werden und eine noch härtere Strafe diktieren würde: «Er sagt, sein Name wäre Tom White, Ihr Edeln.»

«Wo wohnt er?» fragte Fang weiter.

«Wo er eben kann!» erwiderte der gutherzige Gerichtsdiener abermals für Oliver.

«Hat er Eltern?»

«Er sagt, sie wären in seiner Kindheit gestorben, Ihr Edeln!» entgegnete der Gerichtsdiener. Es war die gewöhnliche Antwort in Fällen dieser Art.

Oliver hob bei der letzten Frage den Kopf empor, sah mit flehenden Blicken umher und bat mit schwacher Stimme um ein Glas Wasser.

«Albernheiten!» sagte Fang. «Hab' mich ja nicht zum Narren, Bursch!»

«Ich glaube wirklich, daß ihm unwohl ist, Ihr Edeln!» wendete der Gerichtsdiener ein.

«Ich weiß es besser», fuhr Fang auf.

«Gerichtsdiener, halten Sie ihn!» rief der alte Herr, «oder er sinkt zu Boden.»

«Zurück da, Gerichtsdiener!» tobte Fang; «mag er, wenn's ihm beliebt.»

Oliver bediente sich der freundlichen Erlaubnis und fiel ohnmächtig von seiner Bank herunter.

Der Richter befahl, ihn liegen zu lassen, bis er wieder zu sich käme; der Schreiber fragte leise, wie Mr. Fang zu verfahren gedächte.

«Summarisch», erwiderte Mr. Fang. «Er wird drei Monate eingesperrt – natürlich bei harter Arbeit.»

Zwei Schließer schickten sich an, den ohnmächtigen Knaben in seine Zelle zu tragen, als plötzlich ein ältlicher, ärmlich, aber anständig gekleideter Mann atemlos hereintrat.

«Halt – halt!» rief er; «um des Himmels willen noch einen Augenblick Geduld.»

Obgleich die Polizeibeamten die willkürlichste Gewalt über die Freiheit, den guten Ruf und Namen, ja fast das Leben der königlichen Untertanen, besonders der ärmeren Klassen, zu üben pflegen, und obgleich in den Polizeigerichten genug Dinge vorgehen, um den Engeln blutige Tränen auszupressen, so erfährt das Publikum doch nichts davon, ausgenommen durch das Medium der Tagespresse. Mr. Fang war daher nicht wenig entrüstet, einen ungebetenen Gast eintreten und so ordnungswidrig auftreten zu sehen.

«Was ist das? Wer ist das? Werft den Menschen hinaus!» rief er.

«Ich will und muß reden, Sir; ich lasse mich nicht hinauswerfen; hab's alles angesehen. Ich bin der Besitzer des Buchladens. Ich verlange, vereidigt zu werden. Mr. Fang, Sie müssen mich anhören – Sie können es nicht wagen, mein Zeugnis zurückzuweisen, Sir.»

Er war im Recht und sah zu entschlossen aus, als daß der Richter es hätte wagen dürfen, ihn abzuweisen. Fang ließ ihm daher den Eid abnehmen und fragte darauf, was er zu sagen habe.

«Ich sah drei Knaben – zwei andere und diesen hier – um den Herrn da herumschleichen, der vor meinem Laden stand und las. Der Diebstahl wurde von einem anderen Knaben begangen, und dieser war ganz erstaunt darüber – sah aus, als wenn ihn der Schlag gerührt hätte.»

«Warum kamen Sie nicht schon früher her?»

«Ich hatte niemand, nach meinem Laden zu sehen, und bin hergelaufen, sobald ich jemand auftreiben konnte.»

«Also der Ankläger las?»

«Ja, Sir – in dem Buche, das er in diesem Augenblicke in der Hand hat.»

«Ah – ist es bezahlt?»

«Nein!» erwiderte der Buchhändler lächelnd.

«Mein Himmel, das hab' ich ganz vergessen!» rief der zerstreute alte Herr ganz unbefangen aus.

«Vortrefflich! – Und Sie werfen sich zum Ankläger eines unglücklichen, armen Knaben auf!» bemerkte Fang mit komisch aussehender Anstrengung, eine menschenfreundliche Miene anzunehmen. «Es scheint mir, Sir, daß Sie unter sehr verdächtigen und unehrenhaften Umständen zu dem Buche gelangt sind, und Sie können sich sehr glücklich schätzen, wenn der Eigentümer nicht als Ankläger gegen Sie auftreten will. Nehmen Sie sich dies zur Lehre, mein Freund, oder Sie verfallen noch einmal dem Gesetze. Der Knabe ist freizulassen. Räumen Sie das Gerichtszimmer!»

Der alte Herr wurde unter Ausbrüchen der Entrüstung, die er nicht länger mehr zurückzuhalten vermochte, hinausgeführt. Er stand im Hofraume, und sein Zorn verschwand. Oliver lag auf dem Steinpflaster; man hatte ihm die Schläfe mit Wasser gewaschen; er war weiß wie eine Leiche und zitterte krampfhaft am ganzen Leibe. «Armes Kind, armes Kind!» sagte Mr. Brownlow, sich über ihn hinunterbeugend. «Leute, ich bitte, schaff' mir doch jemand sogleich einen Mietwagen.»

Gleich darauf fuhr ein leerer Wagen vorüber, Oliver wurde sorgfältig hineingehoben und auf einen Sitz gelegt, während der alte Herr auf dem anderen Platz nahm.

«Darf ich Sie begleiten?» fragte der Buchhändler.

«Ja, ja, mein werter Herr!» erwiderte Brownlow. «Ich habe Sie vergessen; verzeihen Sie. Und da hab' ich auch das unglückliche Buch noch. Steigen Sie geschwind ein, es ist keine Zeit zu verlieren.»

Der Buchhändler setzte sich zu Brownlow, und sie fuhren ab.

12. Kapitel.

In welchem für Oliver bessere Fürsorge getragen wird, als er sie noch in seinem ganzen Leben erfahren. Die Geschichte kehrt zu dem lustigen alten Herrn und seinen hoffnungsvollen Zöglingen zurück.

Der Wagen hielt nach ziemlich langer Fahrt vor einem hübschen Hause in einer stillen Straße, nicht weit von Pentonville. Mr. Brownlow ließ Oliver sogleich zu Bett bringen und sorgte mit einem Eifer für Pflege jeder Art, der keine Grenzen kannte. Sein Schützling verfiel in ein heftiges Fieber und erwachte erst nach acht Tagen aus einem langen und unruhigen Traume, wie es ihm schien. «Wo bin ich?» rief er mit schwacher Stimme. «Wer hat mich hierher gebracht?»

Der Vorhang seines Bettes wurde rasch zurückgeschoben, und eine mütterlich aussehende, sauber gekleidete alte Frau beugte sich über ihn und sagte: «Ruhig, mein Söhnchen, du mußt ganz still liegen oder wirst sonst wieder krank werden. Denn du hast an der Schwelle des Todes gestanden; also verhalte dich ja recht ruhig.»

Sie sah so freundlich und liebevoll dabei aus und strich ihm so sorglich das Haar von der Stirn zurück, daß er sich nicht enthalten konnte, seine abgezehrte Hand auf die ihrige zu legen und einige, wenn auch unverständliche Worte gerührten Dankes zu murmeln.

«Was es für ein lieber Kleiner ist!» sagte sie mit Tränen in den Augen. «Wie würde sich seine Mutter freuen, wenn sie so wie ich bei ihm gesessen hätte und ihn jetzt sähe!»

«Vielleicht sieht sie mich,» flüsterte Oliver und faltete seine Hände. «Vielleicht war sie bei mir, Ma'am. Es ist mir fast, als wäre sie hier gewesen.»

«Das macht das Fieber, mein Kind», bemerkte Frau Bedwin.

«Kann wohl sein», erwiderte Oliver nachdenklich; «denn der Himmel ist sehr fern, und die Seligen haben es dort zu gut, als daß sie an das Krankenbett eines armen Knaben herunterkommen sollten. Wenn sie es aber gewußt hat, daß ich krank war, so hat sie gewiß Mitleid mit mir gehabt, denn sie war selbst sehr krank, ehe sie starb. Aber – sie mag wohl nichts von mir wissen, denn wenn sie mich hätte niederschlagen sehen, so würde sie sehr betrübt geworden sein, und ihr Gesicht war immer so froh und vergnügt, wenn ich von ihr geträumt habe.»

Frau Bedwin wischte sich die Augen, brachte ihm zu trinken und ermahnte ihn abermals, ganz still zu liegen, weil er sonst wieder krank werden würde. Er schwieg daher und hielt sich vollkommen ruhig, teils weil er der guten Frau nicht ungehorsam sein wollte, und andernteils, weil er durch das, was er gesagt hatte, bereits vollkommen erschöpft war. Er schlief ein, und als er erwachte, stand ein Herr an seinem Bette, der seinen Puls fühlte. «Nicht wahr, mein Kind, du fühlst dich weit besser?» fragte ihn der Herr.

«Ja, ich danke, Sir!» antwortete Oliver.

«Das wußte ich wohl. Und du bist hungrig – nicht wahr?»

«Nein, Sir.»

«Hm! Ja, ganz recht. Du kannst auch in der Tat keinen Hunger empfinden. Er ist nicht hungrig, Frau Bedwin», sagte der Herr mit sehr weiser Miene.

Frau Bedwin neigte ehrfurchtsvoll den Kopf, wodurch sie andeuten zu wollen schien, daß sie den Doktor für einen äußerst gescheiten Mann hielte. Der Doktor schien vollkommen derselben Meinung zu sein.

«Du bist müde, nicht wahr, mein Sohn?» sagte er.

«Nein, Sir.»

«Nicht?» wiederholte der Doktor; «das freut mich, und ich dachte es wohl. Aber durstig bist du?»

«Ach ja, Sir», erwiderte Oliver.

«Ganz wie ich es erwartet habe. Frau Bedwin, es ist sehr natürlich, daß er Durst fühlt. Sie können ihm ein wenig Tee mit Weißbrot ohne Butter geben. Halten Sie ihn nicht zu warm, Ma'am, und haben Sie acht, daß er nicht zu kalt wird.»

Frau Bedwin knixte, und der Doktor ging. Oliver schlief bald wieder ein, und als er erwachte, war es fast zwölf Uhr. Frau Bedwin sagte ihm gute Nacht und überwies ihn der Pflege einer eingetretenen alten Frau, die in ihrem Bündel ein kleines Gebetbuch und eine große Nachtmütze mitgebracht hatte, sich an den Kamin setzte und sehr bald einschlief.

Oliver lag noch einige Zeit wach. Es herrschte eine feierliche Stille, und als er daran dachte, daß der Tod viele Tage und Nächte über seinem Bette geschwebt hätte und das Gemach auch wohl noch mit Schmerz und Wehe erfüllen könnte, begann er inbrünstig zu beten. Er versank darauf wieder in jenen festen Schlummer, den nur heitere Ruhe nach erduldeten Leiden gibt und aus welchem man nicht ohne Bedauern erwacht. Wenn es der Tod wäre – wer möchte aus ihm wieder aufwachen wollen zu den Mühen und Ängsten des Lebens, zu den Nöten der Gegenwart, den Sorgen um die Zukunft, und zumal den trüben Erinnerungen an die Vergangenheit!

Es war heller Tag, als Oliver die Augen aufschlug, er fühlte sich heiter und froh, die Krise war überstanden, und er gehörte der Welt wieder an. – Nach drei Tagen konnte er, durch Kissen gestützt, in einem Lehnstuhle sitzen. Frau Bedwin ließ ihn in ihr kleines Zimmer hinunterbringen, setzte sich zu ihm an das Feuer und fing vor Freude von Herzen zu schluchzen an.

«Sie sind sehr gütig gegen mich, Ma'am», sagte Oliver.

Sie wollte nichts davon hören und bereitete ihm sorglich ein für seinen Zustand passendes Frühstück. Oliver heftete unterdes seine Blicke auf ein ihm gerade gegenüber an der Wand hängendes Porträt. Sie wurde aufmerksam darauf.

«Magst du gern Bilder leiden, mein Kleiner?»

«Ich habe noch wenige gesehen; aber wie schön und liebevoll das Gesicht der Dame ist!»

«Ah, die Maler machen die Damen immer hübscher, als sie sind, denn sie würden sonst keine Kundschaft haben. Der Mann, der die Konterfeimaschine erfand, hätte vorauswissen können, daß es nichts damit wäre, denn es ist viel zu viel Ehrlichkeit dabei.»

 

Sie lachte, Oliver aber blieb ernst und fragte: «Wen stellt denn das Bild vor, Ma'am?»

«Ich weiß es nicht, mein Kind; aber sicher niemand, den wir beide kennen. Es scheint dir ja erstaunlich zu gefallen.»

«Ach, es ist gar zu schön!» rief Oliver aus.

«Du fängst doch nicht an, dich zu fürchten?» sagte Frau Bedwin, denn sie gewahrte mit großer Verwunderung, daß Oliver das Porträt mit einer Art von Beben betrachtete.

«O, nein, nein,» erwiderte er rasch; «aber die Augen blicken so traurig, und es ist, als wären sie gerade, wo ich sitze, auf mich geheftet. Es macht mir das Herz schlagen», setzte er mit leiser Stimme hinzu, «als wenn es lebte und zu mir reden wollte und könnte doch nicht.»

«Gott sei uns gnädig!» rief Frau Bedwin bestürzt aus; «sprich nicht so, Kind. Du mußt noch sehr schwach und fieberisch sein. So, so – nun kannst du es nicht mehr sehen.»

Sie drehte bei diesen Worten seinen Stuhl herum; Oliver aber sah im Geiste das Bild so deutlich, als ob es ihm noch immer vor Augen hinge. Er wollte indes die gute alte Frau nicht ängstigen und lächelte ihr freundlich zu, als sie ihm seine Brühe mit Weißbrot brachte. Er hatte kaum einen Löffel voll genossen, als Mr. Brownlow eintrat.

Oliver sah noch sehr blaß und abgezehrt aus; er machte einen vergeblichen Versuch, aufzustehen, um seinem Wohltäter zu danken, dem die Tränen in die Augen traten.

«Armes Kind, armes Kind», sagte er. «Wie befindest du dich heute, mein Lieber?»

«Vortrefflich, Sir», erwiderte Oliver; «und ich bin Ihnen sehr dankbar für alle Ihre Güte.»

«Gutes Kind,» sagte sein Wohltäter, erkundigte sich darauf, was ihm Frau Bedwin zur Stärkung gegeben, und bemerkte: «Brühe – pfui! Ein paar Gläser Portwein würden ihm besser geschmeckt haben – nicht wahr, Tom?»

«Ich heiße Oliver, Sir!» entgegnete der kleine Patient sehr verwundert.

«Oliver! – Wie? – Oliver White?»

«Nein, Sir, Twist – Oliver Twist!»

«Kurioser Name; – warum sagtest du denn dem Richter, daß du White hießest?»

«Das hab' ich ihm ganz und gar nicht gesagt», erwiderte Oliver äußerst verwundert.

Dies sah einer Lüge so ähnlich, daß ihn der alte Herr etwas strenge ansah. Allein es war unmöglich, seine Aussage zu bezweifeln, denn aus allen seinen Zügen leuchtete die klarste Wahrheit hervor. Brownlow meinte, daß ein Mißverständnis obwalten müsse, sein Verdacht schwand gänzlich, und doch vermochte er die Blicke von Oliver nicht abzuwenden, denn abermals drängte sich ihm die Ähnlichkeit des Knaben mit bekannten Zügen auf. Oliver hob flehend die Augen zu ihm empor.

«Sie sind mir doch nicht böse, Sir?»

«Nein, nein; – aber – barmherziger Himmel! Was ist das? Frau Bedwin – sehen Sie, sehen Sie!»

Und während er hastig die Worte sprach, wies er nach dem Bilde über Olivers Lehnstuhl und dann auf Oliver selbst hin. Es konnte keine größere Ähnlichkeit geben; der Knabe war der Dame auf dem Bilde aus den Augen geschnitten.

Oliver gewahrte die Ursache des plötzlichen Ausrufs seines Wohltäters nicht; der Schrecken war ihm zu viel gewesen; er war ohnmächtig geworden. –

Sobald der Baldowerer und Master Bates ihren Zweck erreicht hatten, alle Aufmerksamkeit von sich ab und auf Oliver zu lenken, schlüpften sie in eine Seitengasse, um eiligst nach Hause zurückzukehren. Sobald sie wieder zu Atem gekommen waren, fing Master Bates laut zu lachen an und rief sich und dem Freunde mit grenzenlosem Vergnügen die unendlich spaßhafte Szene in das Gedächtnis zurück, wie der geängstete Oliver gelaufen und überall angerannt war, und wie er selber und der Baldowerer ihn eifrigst mit gehetzt und das Tuch in der Tasche gehabt hatten. Sein Freund unterbrach jedoch bald seinen Redefluß und warf das Bedenken auf, was Fagin dazu sagen würde?

«Was soll er sagen?» meinte Charley.

«Hm!» sagte Jack, pfiff und schnitt sehr bedeutsame Gesichter.

Charley folgte ihm nachdenklich, bald darauf langten sie zu Hause an. Bei dem Geräusch von Fußtritten auf der krachenden Treppe fuhr der lustige alte Herr, der vor dem Feuer saß und sich sein Mittagessen zubereitete, empor. Auf seinem weißen Gesicht lag ein hämisches Lächeln, als er sich umdrehte und mit einem scharfen Blicke unter seinen dichten, roten Augenbrauen hervor sein Ohr der Tür zuwandte und horchte.

«Wie? Was ist das?» murmelte der Jude erschrocken vor sich hin. «Nur zwei? Wo ist der dritte? Sie werden ihn in dem Gedränge doch nicht verloren haben? Horch!»

Die Fußtritte kamen näher und näher; endlich öffnete sich die Tür, und der Baldowerer und Charley Bates traten in das Zimmer.