Charles Dickens

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Im Lauf der Unterhaltung erfuhr ich, daß Mr. Skimpole, ursprünglich Arzt, als solcher am Hofe eines deutschen Fürsten gelebt hatte. Er erzählte uns, er sei in allem, was Maße und Gewichte beträfe, von jeher ein Kind gewesen und habe nie das Geringste von diesen Sachen gewußt, außer, daß sie ihm höchst zuwider wären; und so sei er nie imstande gewesen, mit der nötigen, alle Einzelheiten genau ins Auge fassenden Genauigkeit Rezepte zu verschreiben. »Überhaupt«, sagte er, »habe ich keinen Kopf für Einzelheiten.«

Er erzählte uns mit großem Humor, man habe ihn, wenn er den Fürsten hätte zur Ader lassen oder einem seiner Umgebung Arzneien geben sollen, meistens im Bett liegen gefunden, mit Zeitunglesen oder Phantasieskizzenzeichnen beschäftigt und außerstande zu kommen. »Da dem Fürsten zuletzt die Sache nicht mehr paßte – worin er vollkommen recht hatte«, gestand Mr. Skimpole freimütig, »wurde das Dienstverhältnis aufgelöst, und da ich von nichts mehr zu leben hatte als von der Liebe, so verliebte ich mich, heiratete und umgab mich mit rosigen Wangen.«

Sein guter Freund Jarndyce und einige andere hätten ihn dann unterstützt – bei verschiedenen Gelegenheiten und neuen Lebensanfängen; aber das wäre ganz umsonst gewesen, denn er müßte sich, sagte er, zu zwei der seltsamsten Schwächen auf der Welt bekennen. Nämlich, daß er keinen Begriff von Zeit und noch weniger von Geld habe. Infolgedessen hielte er nie eine Abmachung ein und kenne nicht den Wert auch nur einer einzigen Sache auf der Welt! Gut! So wäre er durchs Leben getrieben und sei jetzt hier. Er läse sehr gern Zeitungen, zeichne gern Phantasieskizzen, liebe die Natur außerordentlich – und die Kunst. Bloß das eine verlange er von der menschlichen Gesellschaft, nämlich, ihn leben zu lassen. Das sei nicht viel. Er habe wenig Bedürfnisse. Zeitungen, Konversation, Musik, Hammelbraten, Kaffee, eine hübsche Landschaft, Obst zur Zeit der Reife, ein paar Bogen Zeichenpapier, ein paar Gläser Rotwein – mehr verlange er nicht. Er sei ein reines Kind auf der Erde, aber er verlange nicht nach dem Monde. Er sage zur Welt: Gehet eure verschiedenen Wege in Frieden, traget rote Röcke, blaue Röcke, Linonärmel, stecket Federn hinter die Ohren, traget Schürzen; jaget nach Ruhm, nach Heiligkeit, nach Handel, nach was ihr wollt, nur – lasset Harold Skimpole leben.

Das alles und noch viel mehr erzählte er uns nicht nur mit der größten Lebendigkeit und Selbstzufriedenheit, sondern auch mit einer gewissen munteren Offenheit, indem er von sich sprach, als ob er sich selbst gar nichts anginge und Skimpole eine dritte Person wäre; als ob er wohl wüßte, daß Skimpole seine Eigenheiten hätte, aber auch seine berechtigten Ansprüche, die Sache der Menschheit wären und nicht übersehen werden dürften.

Er war wirklich bezaubernd.

Wenn ich schon damals etwas verwirrt wurde bei dem Bemühen, das, was er sagte, mit dem in Einklang zu bringen, was ich über die Pflichten und Verbindlichkeiten des Lebens dachte, so machte es mich erst recht konfus, daß ich nicht begreifen konnte, warum gerade er frei von ihnen sein sollte. Daß er frei von ihnen sei, bezweifelte ich keinen Augenblick; und er selbst war davon vollständig überzeugt.

»Ich strebe nach nichts«, erklärte er sorglos. »Aus Besitz mache ich mir gar nichts. Hier ist meines Freundes Jarndyce vortreffliches Haus. Ich fühle mich ihm verbunden, daß er es besitzt. Ich kann eine Skizze davon machen und es beliebig verändern. Ich kann es in Musik setzen. Wenn ich hier bin, genieße ich das Gute davon und habe weder Beschwerden noch Kosten noch Verantwortlichkeit. Der Name meines Verwalters ist Jarndyce, und er kann mich nicht übervorteilen. Wir sprachen vorhin von Mrs. Jellyby. Sie ist eine Frau von klarem Blick, starkem Willen und großer Umsicht in allen geschäftlichen Details und kann sich mit wunderbarer Energie auf eine Sache werfen. Ich bedauere nicht im mindesten, daß ich mich eines starken Willens und der Beherrschung geschäftlicher Details nicht rühmen kann, um mich mit wunderbarer Energie auf eine Sache zu werfen. Ich kann die Dame ohne Neid bewundern. Ich kann mit der Sache sympathisieren, von ihr träumen. Ich kann mich ins Gras legen – bei schönem Wetter – und einen afrikanischen Fluß hinabschwimmen und alle Eingebornen, denen ich begegne, umarmen und das tiefe Schweigen empfinden und das undurchdringliche Dach üppig wuchernder tropischer Pflanzen so genau zeichnen, als ob ich dort wäre. Ich weiß nicht, ob mir das unmittelbar Nutzen bringt, aber es ist alles, was ich kann, und ich betreibe es gründlich. Um Himmels willen, wenn auch schon Harold Skimpole, ein vertrauensvolles Kind, bittet, euch, die Welt, die Gesamtheit der praktischen Leute mit Geschäftssinn, bittet, ihn leben und die menschliche Familie bewundern zu lassen, so seid doch gutherzig, so oder so, und laßt ihn sein Steckenpferd reiten.«

Offenbar war Mr. Jarndyce dieser Beschwörung nachgekommen. Das bewies schon Mr. Skimpoles Stellung im Hause, ohne daß er uns darüber aufzuklären nötig gehabt hätte.

»Nur ihr hochherzigen Menschen seid die einzigen, die ich beneide«, sagte Mr. Skimpole und wendete sich an uns, seine neuen Freunde. »Ich beneide euch um die Fähigkeit, das zu tun, was ihr tut. Darin möchte ich selbst schwelgen. Ich fühle keine sogenannte Dankbarkeit für euch. Es kommt mir fast vor, als ob ihr mir Dank schuldig wäret, weil ich euch Gelegenheit gebe, das Hochgefühl des Edelmutes zu genießen. Ich weiß, ihr habt es gern. Vielleicht bin ich bloß zu dem Zweck auf die Erde gekommen, um eure Glückseligkeit zu vergrößern, nur geboren, um euer Wohltäter zu sein, indem ich euch Gelegenheit gebe, mir in meinen kleinen Verlegenheiten beizustehen. Warum sollte ich meine Unfähigkeit in weltlichen Dingen beklagen, wenn sie solche unangenehmen Folgen hat? Ich beklage sie gar nicht.«

Von allen scherzhaften Reden, die wohl scherzhaft klangen, von Mr. Skimpole aber in vollem Ernste gemeint waren, schien keine mehr nach Mr. Jarndyces Geschmack zu sein als diese. Ich fühlte mich später oft versucht, mich verwundert zu fragen, ob es wirklich an sich merkwürdig sei oder nur mir so schiene, daß er, der wahrscheinlich beim geringsten Anlaß der dankbarste aller Menschen gewesen wäre, so sehr danach verlangte, sich der Dankbarkeitsäußerung andrer zu entziehen.

Wir alle waren förmlich bestrickt. Mir erschien es wie eine verdiente Anerkennung der gewinnenden Eigenschaften Adas und Richards, daß Mr. Skimpole schon bei seinem ersten Zusammentreffen mit ihnen sich so rückhaltlos gab und sich so außerordentlich liebenswürdig vor ihnen zergliederte. Sie beide – hauptsächlich Richard – fanden natürlich aus ähnlichen Gründen ihre Freude daran und betrachteten es als Geschenk, daß ein so anziehender Mann ihnen so offenes Vertrauen entgegenbrachte.

Je eifriger wir zuhorchten, desto lebendiger wurde Mr. Skimpole. Seine hübsche heitere Art, seine gewinnende Offenheit, mit der er mit seinen Schwächen spielte, als ob er sagen wollte, ich bin ein Kind, das wißt ihr doch! – im Vergleich mit mir seid ihr erfahrene Leute (ich selbst kam mir ihm gegenüber in diesem Lichte vor), aber ich bin heiter und unschuldig; vergeßt eure prosaischen Sorgen und spielt mit mir –, brachten eine wahrhaft blendende Wirkung auf uns hervor.

Er war so voller Empfindung und hatte einen so feinen Sinn für alles Schöne, daß er schon dadurch allein hätte mein Herz gewinnen müssen.

Als ich den Tee aufgoß und Ada im Nebenzimmer Klavier spielte und Richard eine Melodie, von der sie zufällig gesprochen hatten, vorsummte, setzte er sich aufs Sofa in meine Nähe und sprach von Ada in einer Weise, daß mir das Herz aufging.

»Sie ist wie der Morgen«, schwärmte er. »Mit dem goldnen Haar und den blauen Augen und diesen frisch blühenden Wangen ist sie wie der Sommermorgen. Die Vögel hier werden sie dafür halten. Wir wollen ein so liebliches junges Wesen wie sie, die die Freude aller Menschen ist, nicht eine Waise nennen. Sie ist das Kind des Universums.«

Ich bemerkte, daß Mr. Jarndyce nicht weit von uns stand, die Hände auf dem Rücken und ein aufmerksames Lächeln in der Miene.

»Das Universum«, wendete er ein, »ist kein besonders guter Vater, fürchte ich.«

»Oh, das weiß ich nicht«, rief Mr. Skimpole überschwenglich.

»Ich glaube, ich weiß das genau«, lächelte Mr. Jarndyce.

»Gut, Sie kennen die Welt, die in Ihrem Sinn das Universum ist, und ich kenne sie nicht, und daher sollen Sie Ihren Willen haben. Aber wenn es nach mir ginge«, setzte Mr. Skimpole mit einem Blick auf Richard und Ada hinzu, »so dürften keine Dornen jämmerlicher Wirklichkeit auf ihrem Wege liegen. Er müßte mit Rosen bestreut sein und durch freundliche Gefilde führen, wo weder Frühling, Herbst noch Winter, sondern immerwährender Sommer herrscht. Die Jahre und die Vergänglichkeit dürften dort keinen Schaden tun. Das gemeine Wort Geld dürfte dort nie gehört werden.«

Mr. Jarndyce tätschelte ihm lächelnd mit der Hand auf den Kopf wie einem Kinde, trat einen Schritt vor, blieb stehen und warf einen Blick auf die beiden jugendlichen Gestalten. Sein Auge war gedankenvoll, und ein Ausdruck des Wohlwollens lag darin, den ich später oft – so oft – wieder gesehen habe und der sich tief in mein Herz geprägt hat. Das Zimmer, in dem sie sich befanden, lag neben dem unsrigen und war nur vom Kaminfeuer erhellt. Ada saß am Klavier; Richard stand daneben und beugte sich zu ihr herab. An der Wand verschmolzen ihre Schatten miteinander, umgeben von seltsamen Gestalten, die in dem flackernden Schein des Feuers gespenstisch zu schwanken schienen. Ada spielte und sang so leise, daß der die fernen Hügel umseufzende Wind so hörbar war wie die Musik. Das Geheimnis der Zukunft und dunkle Vorbedeutung schienen sich symbolisch in dem ganzen Vorgang auszudrücken.

 

Aber nicht um dieses Bild zurückzurufen, so deutlich ich mich seiner auch erinnern kann, stelle ich mir die Szene wieder vor Augen. Vor allem blieb mir der Kontrast in Meinung und Absicht zwischen dem stummen Blick, den Mr. Jarndyce nach den jungen Leuten warf, und dem Schwall von Worten, der ihm vorhergegangen war, nicht ganz verborgen. Obgleich Mr. Jarndyces Auge nur einen Augenblick auf mir ruhte, fühlte ich doch, daß er mir in dieser Sekunde seine Hoffnung anvertraut habe, Ada und Richard möchte dereinst ein engeres Band verknüpfen, und ich sein Vertrauen verstanden hatte.

Mr. Skimpole konnte Klavier und Cello spielen, komponierte – er hatte einmal eine halbe Oper geschrieben, aber sie wieder liegen lassen – und trug seine Kompositionen mit vielem Geschmack vor.

Nach dem Tee hatten wir ein regelrechtes kleines Konzert, wobei Richard, der ganz bezaubert von Adas Gesang war und mir sagte, sie schiene alle Lieder, die jemals geschrieben worden, zu kennen, und Mr. Jarndyce und ich die Zuhörerschaft bildeten.

Nach einer kleinen Weile vermißte ich zuerst Mr. Skimpole und dann Richard, und während ich mich noch wunderte, wie Richard nur solange wegbleiben und soviel versäumen könnte, sah das Mädchen, das mir die Schlüssel übergeben hatte, zur Türe herein und sagte: »Möchten Sie wohl die Güte haben, Miß, eine Minute herauszukommen?«

Als ich mit ihr draußen in der Vorhalle stand, bat sie mich mit aufgehobenen Händen: »Ach, wenn Sie die Güte haben wollten, Miß – Mr. Carstone läßt Ihnen sagen, Sie möchten doch einmal herauf in Mr. Skimpoles Zimmer kommen, es ist ihm etwas zugestoßen, Miß.«

»Zugestoßen?«

»Ja, zugestoßen, Miß. Ganz plötzlich.«

Ich fürchtete, sein Zustand könnte gefährlicher Art sein, und bat sie, zu schweigen und niemand zu alarmieren, und sammelte mich unterwegs soweit, daß ich mir im Geiste zurechtlegte, welche Mittel angewendet werden könnten. Sie öffnete die Tür, und ich trat ins Zimmer, wo ich zu meinem Erstaunen Mr. Skimpole, anstatt ihn auf dem Bett oder auf dem Fußboden liegen zu finden, vor dem Kamin stehen und Richard anlächeln sah, während dieser sehr verlegen einen Mann in einem weißen Überrock ansah, der auf dem Sofa saß und sein glattes dünnes Haar mit dem Taschentuch noch glätter und dünner strich.

»Miß Summerson«, sagte Richard hastig, »ich bin froh, daß Sie gekommen sind. Sie können uns vielleicht einen Rat geben. Unser Freund – erschrecken Sie nicht – soll wegen einer Schuld verhaftet werden.«

»Wahrhaftig, liebe Miß Summerson«, bestätigte Mr. Skimpole mit seiner liebenswürdigen Offenherzigkeit. »Ich war noch nie in einer Lage, in der mir die Verständigkeit, der Ordnungssinn und der richtige Takt, den jeder an Ihnen bemerken muß, der nur eine Viertelstunde das Glück gehabt hat, mit Ihnen zusammen gewesen zu sein, mehr von Nöten gewesen wären.«

– Der Mann auf dem Sofa, der den Schnupfen zu haben schien, brach in ein so lautes Schnauben aus, daß ich zusammenfuhr. –

»Ist die Summe groß, Sir?« fragte ich.

Mr. Skimpole schüttelte freundlich den Kopf. »Liebe Miß Summerson, ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist die Rede von einigen Pfund, ein paar Schillingen und Pence.«

– »24 £ 16 sh. und 7½ d«, bemerkte der Fremde. –

»Und es klingt – es klingt wie eine kleine Summe«, sagte Mr. Skimpole.

– Der Fremde schwieg und ließ wieder ein Schnauben hören. So gewaltig, daß es ihn ordentlich in die Höhe zu heben schien. –

»Mr. Skimpole«, erklärte mir Richard, »möchte aus Zartgefühl sich nicht gern an unsern Vetter Jarndyce wenden, weil er vor kurzem... sagten Sie nicht, vor kurzem, Sir...?«

»Jawohl«, gab Mr. Skimpole lächelnd zur Antwort. »Ich habe allerdings vergessen, wieviel es war und wann. Jarndyce würde mir gerne wieder aushelfen, aber ich bin so sehr Genußmensch, daß ich eine Abwechslung in der Unterstützung vorziehen würde und lieber« – er sah Richard und mich an – »Hochherzigkeit auf einem neuen Boden zur Blüte entwickeln möchte.«

»Was ist da wohl zu tun, Miß Summerson?« fragte mich Richard halblaut.

Ehe ich antwortete, wagte ich die Frage, was wohl geschehen würde, wenn das Geld nicht aufgebracht werden könnte.

»Gefängnis«, sagte der Fremde und steckte kaltblütig sein Taschentuch in den Hut, der vor ihm auf dem Fußboden lag. »Oder Coavinses!«

»Darf ich fragen, Sir, was das ist?«

»Coavinses? n Haus.«

Richard und ich sahen uns wieder ratlos an. Es war so merkwürdig, daß die Verhaftung uns in Aufregung versetzte und Mr. Skimpole nicht im geringsten. Er beobachtete uns mit großer Teilnahme, schien aber in all dem, so widerspruchsvoll es klingen mag, keine Spur von Selbstsucht zu sehen. Er hatte einfach die Verlegenheit auf uns abgewälzt.

»Ich habe mir gedacht«, sagte er, wie um uns gutmütig aus der Klemme zu helfen, »da Mr. Richard und seine schöne Kusine Parteien in einem Kanzleigerichtsprozeß um ein, wie die Sage geht, sehr großes Vermögen sind, könnten sie etwas unterzeichnen oder unterschreiben oder eine Verpflichtung oder sonst dergleichen eingehen. Ich weiß nicht, wie man das Ding geschäftlich nennt, aber ich sollte meinen, irgend ein Dokument müßte die Sache in Ordnung bringen.«

»Keine Spur!« mischte sich der Fremde ein.

»Wirklich nicht? Das muß jemandem, der kein Urteil in solchen Dingen hat, recht seltsam erscheinen.«

»Seltsam oder nicht«, sagte der Fremde barsch. »Ich versichere Ihnen, keine Spur.«

»Nur ruhig, lieber Freund«, besänftigte Mr. Skimpole und skizzierte den Kopf des Mannes auf das Umschlagblatt eines Buchs. »Verderben Sie sich durch Ihr Geschäft nicht die Laune. Wir können Ihre Person ganz gut von Ihrem Amte trennen und brauchen den Mann nicht mit der Sache zu verwechseln. Wir sind nicht so voreingenommen, Sie im Privatleben für etwas andres zu halten als für einen sehr achtbaren Menschen mit sehr viel unbewußter Poesie in sich.«

– Der Fremde antwortete nur mit einem abermaligen heftigen Schnauben; ob in Anerkennung des poetischen Tributs oder in verächtlicher Zurückweisung desselben, sprach er nicht aus. –

»Meine liebe Miß Summerson und mein lieber Mr. Richard«, wandte sich Mr. Skimpole heiter, unbefangen und vertrauensvoll an uns und betrachtete dabei, den Kopf schief gelegt, seine Zeichnung. »Sie sehen mich ganz unfähig, mir zu helfen, und mich ganz in Ihre Hände gegeben. Ich verlange nichts als frei zu sein. Die Schmetterlinge sind frei. Die Menschheit wird sicherlich Harold Skimpole das nicht verweigern, was sie den Schmetterlingen zugesteht.«

»Liebe Miß Summerson«, flüsterte mir Richard zu. »Ich habe zehn Pfund, die mir Mr. Kenge gegeben hat. Ich muß sehen, was sich damit ausrichten läßt.«

Ich selbst besaß fünfzehn Pfund und ein paar Schillinge, die ich mir von meinem Vierteljahrsgehalt im Lauf der Zeit zusammengespart hatte. Für den Fall, daß ich, ohne Verwandte und Vermögen, einmal in die Welt geschickt werden könnte, war ich immer bemüht gewesen, mir einen Notpfennig zurückzulegen, um nicht ganz von Geld entblößt dazustehn. Ich sagte Richard, daß ich eine kleine ersparte Summe besäße und ihrer gegenwärtig nicht bedürfe, und bat ihn, das Mr. Skimpole zartfühlend beizubringen, während ich es holte, damit wir das Vergnügen haben könnten, seine Schuld zu tilgen.

Als ich zurückkam, küßte mir Mr. Skimpole die Hand und schien wirklich gerührt zu sein. Nicht seinetwegen – ich fühlte abermals diesen verwirrenden und merkwürdigen Widerspruch –, sondern lediglich unsertwegen, als ob ihm seine eignen Angelegenheiten vollkommen uninteressant wären und ihn ganz allein die Mitfreude an unserm Glück in Anspruch nähme. Richard bat mich, um die Sache »angenehmer zu gestalten«, mit Coavinses, wie Mr. Skimpole den Fremden scherzhaft nannte, abzurechnen. Ich zählte also das Geld hin und nahm die Quittung in Empfang. Auch das freute Mr. Skimpole außerordentlich.

Seine Komplimente waren von so zarter Art, daß ich weniger errötete, als es sonst der Fall gewesen wäre, und ich rechnete mit dem Fremden im weißen Überzieher ab, ohne einen Fehler zu machen. Dieser steckte das Geld in die Tasche und sagte kurz: »Wir sind fertig. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend, Miß.«

»Lieber Freund«, wendete sich Mr. Skimpole, an den Kamin gelehnt, an Coavinses, und legte die fertige Skizze weg, »ich möchte Sie etwas fragen, wenn Sie erlauben.«

»Schießen Sie los.«

»Wußten Sie heute früh schon, daß Sie den Auftrag erhalten würden?«

»Wußte es schon gestern nachmittag.«

»Schadete es nicht Ihrem Appetit? Beunruhigte es Sie gar nicht?«

»Ka Spur«, sagte Coavinses. »Wenn man Sie heut noch nicht vermißt hat, wären Sie morgen auch noch dagwesen. Auf einen Tag mehr oder weniger kommts not an.«

»Aber als Sie hierher unterwegs waren, meine ich«, fuhr Mr. Skimpole fort, »war ein schöner Tag. Die Sonne schien, der Wind wehte, Licht und Schatten wechselten auf den Feldern, die Vögel sangen...«

»Niemand hat das geleugnet, soviel ich weiß«, entgegnete Coavinses.

»Nein. Aber was dachten Sie sich auf dem Wege?«

»Was meinen S?« brummte Coavinses, als ob er die Frage sehr übel nähme. »Denken? Ich hab eh schon gnug zu tun und bekomm wenig genug dafür, ohne erst zu denken... Denken!« setzte er mit tiefster Verachtung hinzu.

»Sie dachten also nicht: Harold Skimpole sieht gern die Sonne scheinen, hört gern den Wind wehen, freut sich über den Wechsel von Licht und Schatten auf den Auen, hört gern den Vögeln zu, diesen Chorsängern in dem großen Dome der Natur, – und ich gehe jetzt, Harold Skimpole seinen Anteil an diesen Dingen, das einzige, was er besitzt, zu rauben? Sie dachten nichts dergleichen?«

»Ich – gewiß – nicht!« Coavinses wies diesen Gedanken mit solch störrischer Entschiedenheit zurück, daß er sich nur dadurch verständlich machen zu können glaubte, daß er hinter jedes Wort eine lange Pause setzte und das letzte mit einem Schütteln des Kopfs hervorstieß, das ihm leicht die Halswirbel hätte ausrenken können.

»Sehr sonderbar und merkwürdig ist der Denkprozeß bei euch Geschäftsleuten«, murmelte Mr. Skimpole gedankenvoll. »Ich danke Ihnen, mein Freund. Gute Nacht!«

Da unsere Abwesenheit schon lange genug gedauert hatte, um Mr. Jarndyce aufzufallen, ging ich sofort wieder hinunter. Ich fand Ada am Kamin sitzen, mit einer Handarbeit beschäftigt und in eifrigster Unterhaltung mit ihrem Vetter John. Mr. Skimpole erschien ebenfalls bald und kurz nach ihm Richard. Ich war während des übrigen Abends so ziemlich mit einer Lektion Pochbrett in Anspruch genommen, die mir Mr. Jarndyce erteilte. Er spielte es sehr gern, und ich wünschte natürlich, es so schnell wie möglich zu erlernen, um gelegentlich, wenn er keinen bessern Gegner hätte, mit ihm spielen zu können.

Erst spät in der Nacht trennten wir uns; denn als Ada um elf Uhr aufstehn wollte, setzte sich Mr. Skimpole noch ans Klavier und spielte ein lustiges Lied, mit dem Text:

Das beste Bestreben,

Um länger zu leben,

Ist der Nacht ein paar Stunden

zu rauben,

Juchhe!

Und so war es zwölf geworden, als er seine Kerze nahm und strahlenden Gesichts das Zimmer verließ.

Ich glaube wirklich, er hätte uns bis zum Morgen festhalten können.

Ada und Richard standen noch ein paar Augenblicke am Fenster und erörterten lustig die Frage, ob Mrs. Jellyby um diese Zeit wohl ihr Tagewerk schon beendet habe, als Mr. Jarndyce, der bereits das Zimmer verlassen hatte, wieder zurückkehrte.

»O mein Gott, was ist da wieder geschehen!« sagte er und rieb sich in gutgelaunter Verdrießlichkeit den Kopf und ging auf und ab. »Was muß ich hören! Rick, mein Junge, und liebe Esther, was habt ihr mir da gemacht. Was habt ihr da angestellt! Wieviel kommt auf jeden? Der Wind hat sich schon wieder gedreht. Ich fühle es über und über.«

– Wir wußten beide nicht, was antworten. –

»Nur heraus mit der Sprache, Rick! Vor dem Schlafengehen muß das abgemacht werden. Wieviel habt ihr beide ausgelegt? Ihr habt das Geld zusammengeschossen, höre ich. Wie konntet ihr das tun? Mein Gott, ja, es ist wirklich Ostwind – muß Ostwind sein.«

»Ich weiß wirklich nicht, Sir«, sagte Richard, »ob ich es Ihnen verraten darf. Mr. Skimpole verließ sich auf uns und...«

»Gott steh uns bei, mein lieber Junge! Er verläßt sich auf jeden.« Mr. Jarndyce rieb sich den Kopf gewaltig und blieb stehen.«

»Wirklich, Sir?«

»Jawohl, auf jeden, und er wird nächste Woche wieder in derselben Klemme sein«, sagte Mr. Jarndyce und ging mit langen Schritten, eine ausgelöschte Kerze in der Hand, im Zimmer auf und ab. »Er ist immer in derselben Klemme. Er ist sozusagen in der Klemme auf die Welt gekommen. Ich glaube wahrhaftig, seine Geburtsanzeige hat gelautet:

 

Am vergangenen Dienstag in ihrer Wohnung zu Schuldenhausen genas Mrs. Skimpole unter größten Schwierigkeiten eines Sohnes.«

Richard lachte herzlich, setzte aber hinzu:

»Dennoch, Sir, möchte ich nicht gern einen Vertrauensbruch begehen, und wenn ich Ihnen nochmals zu bedenken gebe, daß ich meiner Ansicht nach doch eigentlich sein Geheimnis zu bewahren verpflichtet bin, so hoffe ich, Sie werden nicht weiter in mich dringen. Natürlich, wenn Sie es doch tun, weiß ich, daß ich Unrecht habe, und werde Ihnen die gewünschte Auskunft geben.«

»Na, na«, rief Mr. Jarndyce, blieb wieder stehen und bemühte sich in seiner Zerstreuung vergebens, den Leuchter in die Tasche zu stecken. »Ich... ja so, der Leuchter. Bitte, setzen Sie ihn weg, liebes Kind. Ich bin so zerstreut, der Wind ist schuld daran... Hat immer diese Wirkung... Ich will nicht in Sie dringen, Rick. Sie können Recht haben. Aber – Sie und Esther herzunehmen – und euch auszupressen wie ein paar weiche junge Michaelisorangen!... Wir bekommen gewiß in der Nacht Sturm.«

– Er steckte entschlossen die Hände in die Taschen, als wollte er sie so bald nicht mehr herausziehen. Gleich darauf fuhr er sich aber wieder durch die Haare. –

Ich wendete ein, daß Mr. Skimpole doch in solchen Dingen das reinste Kind sei.

»Wie, mein Liebling?« griff Mr. Jarndyce sofort das Wort auf.

»Da er ein vollkommenes Kind ist, Sir«, fing ich an, »und so ganz anders als andre Leute...«

»Sie haben Recht.« Mr. Jarndyces Gesicht strahlte. »So ein weiblicher Verstand trifft immer gleich das Richtige. Er ist ein Kind – das reinste Kind. Ich sagte es euch doch gleich.«

»Gewiß, gewiß«, bestätigten wir.

»Und er ist ein Kind, das ist doch klar, nicht?« fragte Mr. Jarndyce, und seine Miene hellte sich immer mehr und mehr auf.

»Ja, das ist er.«

»Wenn man sich's genau überlegt, ist es wirklich kindisch von euch – besser gesagt, von mir –, ihn nur einen Augenblick lang als erwachsenen Menschen zu betrachten. Ihn könnt ihr nicht verantwortlich dafür machen. Sich Harold Skimpole in Verbindung mit Plänen, berechnender Handlungsweise oder Logik nur zu denken! Hahaha!«

Es war so köstlich, sein Antlitz immer vergnügter und vergnügter werden zu sehen und zu wissen, daß die Quelle seiner Freude sein gutes Herz war, dem es weh tat, jemand zu verdammen, Unrecht zu tun oder zu mißtrauen, daß ich in Adas Augen Tränen glänzen sah, während sie sich bemühte, in sein Lachen miteinzustimmen, und ich auch die meinen feucht werden fühlte.

»Was ich für ein Stockfisch bin, daß ich nicht gleich daran gedacht habe. Die ganze Geschichte zeigt von Anfang bis zu Ende das Kind. Nur einem Kinde konnte es einfallen, euch beide in die Sache hineinzuziehen. Und wären es tausend Pfund gewesen, er hätte es genau so gemacht.«

– Wir alle stimmten ihm nach dem, was wir diesen Abend gesehen und gehört hatten, vollkommen bei. –

»Natürlich«, sagte Mr. Jarndyce, »aber Rick, Esther und auch Sie, Ada – denn ich weiß nicht, ob selbst Ihre kleine Börse vor seiner Unerfahrenheit sicher ist –, ihr müßt mir alle versprechen, daß das nie mehr wieder geschieht. Keine Vorschüsse! Verstanden? Auch nicht einen Sixpence.«

Wir versprachen es alle getreulich; Richard mit einem verschmitzten Blick auf mich und auf seine Tasche klopfend, um damit anzudeuten, daß wir keine Gefahr mehr liefen, unser Wort zu brechen.

»Was Skimpole betrifft, so würde dem guten Jungen ein bewohnbares Puppenhaus mit einem soliden Tisch und ein paar Zinnsoldaten, die er anpumpen könnte, zum Spielen fürs ganze Leben genügen. Er schläft jetzt gewiß schon den Schlaf eines Kindes; es wird Zeit, daß ich meinen soviel tüchtigeren Kopf auf meine mehr weltlichen Kissen lege. Gute Nacht, liebe Kinder! Gott behüte euch!«

Er guckte wieder mit freundlichem Gesicht herein, als wir gerade unsre Lichter angezündet hatten, und sagte:

»Ich habe nach der Wetterfahne gesehen. Es war doch ein Irrtum mit dem Wind. Er kommt aus Süden.« Und er verließ uns, ein Liedchen summend.

Ada und ich plauderten noch ein paar Worte miteinander, als wir hinauf gingen, und waren uns darüber einig, daß diese Grille mit dem Winde nur ein Vorwand von Mr. Jarndyce sei, um Betroffenheit, Verstimmung oder Rührung zu verbergen. Es erschien uns das als sehr charakteristisch für seine exzentrische Herzensgüte und für den Unterschied zwischen ihm und den gewissen launischen Menschen, die im Gegenteil immer Wetter und Wind als Vorwand benützen, um ihre mürrische und verdrießliche Laune nicht unterdrücken zu müssen.

Zu meiner Dankbarkeit war an diesem einen Abend schon soviel Liebe zu Mr. Jarndyce gekommen, daß ich Hoffnung schöpfte, ihn schon vermittels dieser beiden Gefühle verstehen zu lernen. Scheinbare Inkonsequenz bei Mr. Skimpole oder bei Mrs. Jellyby auf ihre Ursachen zurückführen zu können, durfte ich bei meiner geringen Erfahrung und praktischen Kenntnis nicht erwarten. Ich versuchte es auch gar nicht, und als ich allein war, mußte ich viel an Ada und Richard denken und an das Vertrauen, das mir, wie mir schien, Mr. Jarndyce hinsichtlich ihrer geschenkt hatte.

Meine Phantasie, vielleicht durch das leise Stöhnen des Windes draußen ein wenig aufgeregt, wollte auch nicht ganz untätig bleiben, obgleich ich mir die größte Mühe gab. Sie schweifte zurück zu dem Hause meiner Patin und rief schattenhafte Erinnerungen an Grübeleien wieder wach, die damals manchmal in mir gedämmert hatten:... Was wohl Mr. Jarndyce von meiner frühesten Geschichte wisse und ob er wohl am Ende gar mein Vater sei... Jetzt war dieser nichtige Traum natürlich längst verschwunden.

Das ist alles längst vorüber, sagte ich mir, schüttelte meine Träume ab und stand von meinem Sitz am Kamin auf. Es handelt sich jetzt nicht darum, über die Vergangenheit nachzugrübeln, sondern mit fröhlichem Sinn und dankbarem Herzen zu handeln. Esther, Esther, Esther, denk an deine Pflicht, meine Liebe!

Und ich schüttelte mein Körbchen mit den Wirtschaftsschlüsseln, daß sie wie Glöckchen klangen und mich hoffnungsvoll zu Bett läuteten.