Unter Olmen

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Unter Olmen
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1. Auflage November 2020

Titelbild: Sanja Prautzsch

www.illusanja.com

@sanja_illustration

©opyright by Carsten Wunn & Ubooks

Satz: Nicole Laka

Lektorat: Diana Glöckner

eISBN: 978-3-944154-17-6

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher

Genehmigung des Verlags gestattet.

U-line UG (haftungsbeschränkt)

Neudorf 6 | 64756 Mossautal

www.ubooks.de

Für

meinen Freund Jürgen Overhage,

der sich diese Widmung so sehr gewünscht hat,

obwohl ich alles dafür geben würde,

ihm dieses Buch einfach nur in die Hand drücken zu können

meiner guten Freundin Ellen Hahn,

die meine Fähigkeit als Erste entdeckt

und zielsicher weiterentwickelt hat

meinen Vater Karlheinz Wunn

Dank

Ganz herzlichen Dank für Beratung,

Feedback und Motivation an:

Oliver Uschmann, auch als Mentor, aber nicht nur

Nuri Ortak

Hendrik Heisterberg

und

last, but not ansatzweise least:

Manuela Boll

Weiterhin lieben Dank an Jürgen Schenk. Wer sonst chauffiert einen einfach so mal eben durchs komplette Sauerland?

Ebenfalls vielen Dank an Walburga Feistl, Marion Leppink und diverse inspirierende Pelztiere und Dr. Alexander Werries, für gelebte Wertschätzung

Verzeichnis der handelnden Personen

Sammy Kater Pelztier aus Hannover,

Kratzbaumtechniker

Maxi Kater,

sein WG-Mitbewohner

Brögelmann Biber,

ebenfalls WG-Mitbewohner

Horst von der Atta-Höhle Grottenolm,

Sammys Begleiter auf gemeinsamer Mission

Apanachi von Attendorn Lurchin,

pflegt Sammy

Karies Koslowski Grottenolm,

Priester der nihilistischen Religionsgemeinschaft

Etzel Koslowski Grottenolm,

sein Bruder

Ernst von Aioli Grottenolm,

Oberster Höhlenwart der Atta-Höhle

Thiago Tranfunzler Grottenolm,

Bewohner der Atta-Höhle

Edewecht Echsenkopf Grottenolm,

sein Kumpel

Sergio Rübenacker Grottenolm

im Kindesalter

Rüdiger Rübenacker Grottenolm,

Sergios Vater

Renate Rübenacker Grottenolmin,

Sergios Mutter

Burkhard Brastig

Grottenolm, Bewohner der Atta-Höhle

Flavio Fiesemöppka Schlange, Winkeladvokat,

engster Vertrauter der Puffotter Penny

Ansgar

Ratte, Fiesemöppkas Assistent und Pennys Tier fürs Grobe

Faruk al Fischmann

Wiesel, Geschäftsmännchen und Retter in allen

Lebenslagen

Penny

Puffotter und größenwahnsinniges Untier

Pepe

Kater, Gefangener auf Pennys Farm

Lola Constrictor

Federboa, ebenfalls Gefangene auf Pennys Farm

Helma Hitzschlag

Häsin, Regisseurin bei den Alternativ-faunistischen Karl-May-Festspielen

Slobodan

Grottenolm, Schauspieler

Reinfried Rapünzchen

Iltis, Fähr- und Geschäftsmännchen

Hannelörchen

Erdferkel, Mautstation-Betreiberin

Hans-Peter

Tier Erdferkel- und Tyrannosaurus-Rex-artiger ­Abstammung, Fährmann

Sphinx

Wächterin über die kompletten unterirdischen südhessischen Handkäsnotvorräte

Ulf

Wanderdüne

Polly Politely

musizierendes Kängurukind, Australien

Lutz Latschenkiefer

Quastenflosser sauerländischer Abstammung im ­australischen Outback

Goldi

Hamster im Außendienst

Piwi Boll

Katze, Kellnerin in der Hundertwasserhöhle

Gerri Boll

Universalgenie und Piwis Ehemann

Violine Wischmopp

Lurchin, Studentin der Krötenkunde in Wien

Fiesbert Flockenwickler

Mäuserich und Gefangener der Postojna-Olme

Slobodan, der Fünfzehnhundertachtunddreißig­kommafünfte

Grottenolm und Quartalshöhlenkönig derer in ­Postojna

Moniquedesiree Klosterkemper

(bürgerlich: Monika Dorothea Klosterfraumelissengeistkemper-Khizaneischwili)

Katze und Sammys große Liebe

Zvonko

Wolf

Miodrag Osterhazic

Grottenolm, Postbote

Ranunkel

Grottenolmin, Horsts Verlobte

Marianne

Ziege und Mutter der noch ungeborenen Nachkommen von Reinfried Rapünzchen

Nihil

Grottenolm, Gottheit mit Gruppenteleportationsfähigkeiten

Eberhard

Grottenolm, Halbgott und Assistent Nihils

Ein Koala, ein Frosch, weitere Katzen, Schlangen, Olme und andere

Tiere der weltweiten Fauna.

Prolog

Wenn das Pelztier zwölfmal bimmelt

Ding-Dong.

Es klingelte.

Das war eine Überraschung. Seit dem Auszug meiner Partnerin Inkompetentia Becker vor knapp drei Jahren hatte ich keinen Besuch mehr bekommen. Ein Paket oder eine Pizza standen auch nicht in Erwartung. Hermes und der Pizza-­Palast waren derzeit meine üblichen sozialen Kontakte. Heute aber hatte ich es mir nach dem Mittagsmahl bei Peters Pommes-Paradies vor dem Fernseher bequem gemacht. Eine Dokumentation über marodierende Flamingo-­Populationen in der Mark Brandenburg fesselte meine Aufmerksamkeit.

Ding-Dong. Ding-Dong. Ding-Dong.

Da war aber jemand ungeduldig.

Ich stellte mein Rotweinglas zur Seite und schlurfte absichtlich gemessenen Schrittes zur Tür.

Ding-Dong.

Ich öffnete und schaute zu dem Störenfried hinunter. Ein Pelztier, wahrscheinlich katzenartiger Abstammung. Grau getigert, weiße Pfoten. Mein Hirnkasten arbeitete auf Hochtouren. Für den Erstkontakt war Sturmklingeln eher keine gute Lösung. Die schwarze Schirmmütze mit dem Logo von Hannover 96 auf dem Kopf meines Besuchers stimmte mich jedoch wieder milder, war ich doch selbst Fan der «Roten» aus meiner ursprünglichen Heimatstadt. Dennoch gingen mir zwei Wörter durch den Kopf: «Vorsicht» und «Falle!». Ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Es hat schon seinen Grund, wieso ich nur dem Götterboten und dem Italiener vertraue.

In der rechten Pfote hielt das Tier eine Dose mit der Aufschrift «Deutsche Pelztiermission», in der linken ein Heft, das mir bekannt vorkam. Die Szenerie war nicht neu. Man darf sogar von einem Déjà-vu sprechen. Für einen Moment wurde ein Stück Vergangenheit vor meinem inneren Auge lebendig. Dann riss mich die erstaunlich tiefe, leicht knarzende Stimme des Winzlings aus den Gedanken.

«Bin ich hier richtig bei Carsten Wunn?»

«Blöde Frage!»

Ich zeigte auf das Klingelschild neben der Tür. Das Tier wirkte durch meine harsche Reaktion nicht sonderlich beeindruckt.

«Ich heiße Sammy», sagte es. Oder besser gesagt «er», wirkte mein Besucher doch keinesfalls, als würde sein Name von Samantha abgeleitet.

«Soso», antwortete ich, «und du sammelst also für die Deutsche Pelztiermission?»

Der Kater schaute verlegen zur Seite: «Ist eher eine Art Requisit, um deine Erinnerung aufzufrischen.»

Ich taxierte ihn genauer. Sammy war kleinwüchsig wie alle Katzen, doch er wirkte stämmig und durchtrainiert. Eine Spur zu definiert für einen Angehörigen seiner Art. Bestimmt wusste er, wie ein Fitnessstudio von innen aussah. Ich schaute an meinem Körper hinunter und blieb am Bauch hängen.

«Kniesel schickt mich», sagte er. «Viele Grüße aus der Messe- und Expo-Stadt!»

Ich war also auf der richtigen Spur gewesen.

Meine ehemalige Katze Kniesel lebte tatsächlich wieder in Hannover! Das war nicht selbstverständlich. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, fuhr sie gerade in den Himmel auf.

«Wie geht es ihr?», fragte ich.

«Gut.» Sammy sprang unruhig von einer Hinterpfote auf die andere. «Ähm. Hast du vielleicht ein Katzenklo? Ich bin schon sehr lange unterwegs.»

«Nein, nur ein Wasserklosett. Bitte hinsetzen und nachspülen!»

Ich trat zur Seite, sodass er vorbeischlüpfen konnte, und zeigte ihm den Weg.

Nachdem der Kater sein Geschäft erledigt hatte, bat ich ihn ins Wohnzimmer. Ohne zu zögern sprang er auf mein rotes Plüschsofa. Meine gute Erziehung zwang mich, die Wasserspur, die er hinter sich herzog, zu ignorieren.

Was sollte ich von diesem achtlosen Benehmen halten? Bei allem Ärger hatte ihn immerhin meine ehemalige Katze und Mitbewohnerin geschickt. Was hatte ich mit Kniesel vor Jahren nicht alles auf die Beine gestellt! Das ganze Land hatten wir bereist, einen fernen, nur von Paderborner Religionspädagogen besiedelten Planeten besucht und sogar das Ungeheuer von Heidelberg zur Strecke gebracht. Doch was wollte dieser Sammy von mir? Ein reiner Höflichkeitsbesuch konnte es nicht sein. Wir kannten uns nicht. Und lediglich Grüße von Kniesel ausrichten zu wollen klang doch stark nach einem Vorwand.

Sammy richtete den Oberkörper auf. In seinem Gesicht erschien ein merkwürdig süffisantes Lächeln.

«Du kannst gut schreiben», sagte er und warf mit lässiger Pfotenbewegung aus dem Gelenk heraus eine Mappe auf den Wohnzimmertisch. «Philosophische Betrachtung der kognitiven Ergotherapie im Landkreis Hannover des 14. Jahrhunderts.» Meine Diplomarbeit. «Klasse», sagte er, «ich habe jedes Wort verschlungen.» Ich beugte mich vor und nahm das akademische Papier in die Hand. Still betrachtete ich es, wie einen Boten aus tiefster Vergangenheit.

«Soll ich dir zurückbringen. Kniesel hat vergessen, sie dir wiederzugeben.»

War er wirklich nur hier, um mir meine Diplomarbeit zurückzugeben, von der sich noch locker tausend andere Exemplare auf dem Dachboden stapelten? Spätestens jetzt begann er, mir auf die Nerven zu gehen. Die Flamingo-Dokumentation im Fernsehen war längst beendet. Statt eleganten Federviehs saßen nun ein paar grauweiße Elefanten in Anzügen an einem halbrunden Diskussionstisch und machten sich gegenseitig Vorwürfe. Sehr häufig fielen die Begriffe «Fortschritt», «Investitionen» und «Wachstum».

 

«Ist das alles?», fragte ich.

«Nein», antwortete der Kater. «Ich möchte, dass du meine Geschichte aufschreibst – so wie du damals «Kniesel und ich» aufgeschrieben hast. Sie bekommt heute noch Fanpost. Und natürlich Drohbriefe von Leuten, die in dem Buch nicht so gut weggekommen sind. Jean-Jacques, der Hase, zum Beispiel. Aber das sei der Preis für ihre Prominenz, sagt sie.»

Ein Lächeln schlich sich in mein Gesicht. Ich verspürte den zarten Sog der Neugierde. Von «Kniesel und ich» lagert kein einziges Exemplar auf dem Dachboden. Anders als meine «Philosophische Betrachtung der kognitiven Ergotherapie im Landkreis Hannover des 14. Jahrhunderts» war das kleine, schwarze Büchlein ein Bestseller.

«Und was für eine Geschichte soll ich aufschreiben?»

«Ein Abenteuer, das ich mit den Olmen aus der Atta-Höhle erlebt habe. Du erinnerst dich an Horst?»

Ich horchte auf. Horst! Ihn hatte ich immer gemocht. Allerdings schuldete er mir noch elf Euro fünfundneunzig von einem Kirmesbesuch, bei dem er unbedingt drei zuckergussbeschriftete Lebkuchen erwerben musste. Für jede Freundin einen. Zwölf Euro hatte mich der Spaß gekostet, und gerade einmal fünf Cent hatte er mir nach langem Drängen und unter Protest zurückgegeben.

Ich bin nie kleinlich gewesen, aber mein Gedächtnis ist intakt. Bis heute. Vielleicht gab es wenigstens die Möglichkeit, über Sammy mein Geld wiederzubekommen.

«Hat Horst einen Job?»

«Klar.» Sammy nickte. «Jedenfalls behauptet er das.»

Das Pelztier knetete ungeduldig seine Vorderpfoten.

«Und? Schreibst du die Geschichte? Die wahre Geschichte des Grottenolms Horst? Es soll zu deinem Schaden nicht sein.»

Er stoppte die Pfotenkneterei für einen Moment.

«Wer weiß», säuselte er, «vielleicht wird es ein neuer Kniesel?»

Ich rieb meinen Bart. Es klang verlockend. Auf den Pizzen, die der Bote mir brachte, waren Lachs und echte Garnelen schon länger gestrichen. Von einem einzigen Roman kann auch der sparsamste Mann kein ganzes Leben zehren.

«Vielleicht erzählst du erst mal in groben Zügen, worum es geht.»

Mein Gegenüber ließ sich nicht lange bitten.

«Letzten Samstag habe ich Horst im Sexy Exxy getroffen, einer uralten Grottenolm-Kneipe in der Kluterthöhle in Ennepetal. Aus alter Verbundenheit gehe ich manchmal noch dorthin. Den einen oder anderen aus der Schwanzlurch-Szene kenne ich von früher. Horst hatte ich dort aber bisher noch nie gesehen. Zum Glück! Was für eine fürchterliche Begegnung! Früher war Horst eine Seele von Tier. Aber jetzt? Völlig abgehoben! Er wurde von zwei ständig kichernden Olmschnepfen begleitet. Eine im rechten, eine im linken Arm. Vor sich einen Caipirinha, Sonnenbrille auf dem Kopf. Nachts! Bei Regen! Er schmiss eine Lokalrunde nach der anderen und erzählte, er sei jetzt in der Lügendetektorbranche tätig. Als Tester. Er behauptet, in puncto Lügen könne ihm keiner was vormachen.»

Ich stützte mein Kinn auf die rechte Faust. Fürchterlich! Das klang so gar nicht nach dem Horst, den ich kannte. Auch der Name der Location klang etwas halbseiden.

«Wie kommt das? Ich habe Horst immer als freundliches, durch und durch sympathisches Tier erlebt. Er hat Kniesel und mich aus unserer Depression geholt, damals in Heidelberg …»

«Ich weiß. Und er wird mir auch immer sympathisch bleiben, nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben. Aber seitdem ist viel passiert. Horst ist berühmt geworden, zumindest in Olm-Kreisen. Das kann einem zu Kopf steigen. Mit dieser Lebensgeschichte …»

«Was ist denn passiert? Woher kennt ihr euch überhaupt?»

«Weißt du wirklich nichts davon? Wo Horst herkommt? Seine wahre Identität? Hast du niemals etwas von der Grottenolm’schen Eierklappe in der Atta-Höhle gehört?»

Er schaute mir fest in die Augen. Seine Stimme sank erneut um zwei Oktaven.

«Vergiss alles, was du über Horst zu wissen glaubst! Ich kenne sein Geheimnis. Die wahre Geschichte des Grottenolms!»

Jetzt hatte er mich.

«Erzähl!»

Schon nach wenigen Sätzen zog mich Sammys Geschichte dermaßen in ihren Bann, dass ich die Zeit vergaß. Es war längst dunkel geworden, als wir uns verabschiedeten, nicht ohne vorher Adressen und Telefonnummern ausgetauscht zu haben. Trotz gewisser Zweifel an der Gewissenhaftigkeit seiner Ausführungen war ich sicher, mit Sammys Geschichte auf eine Goldader gestoßen zu sein. Der Lachs und die Garnelen würden auf die Pizza zurückkehren. Ich sah sogar schon das Verlagsessen vor mir, rund um die Buchmesse in Frankfurt. Ein golden erleuchtetes Restaurant mit Rundbögen und riesigen Dekorationsflaschen. Kaminfeuer, Dunkelbier und Rotwein, Lektorinnen und Kollegen. Der Kater und ich verabredeten eine enge Zusammenarbeit, die wir kurz darauf schriftlich fixierten.

Unsere Treffen waren lang. Tage. Nächte. Viele Pizzen. Unzählige Dosen Thunfisch in Gelee. Oft genug hatte ich Grund, den Wahrheitsgehalt der Ausführungen Sammys anzuzweifeln. Die meisten ließen sich ausräumen. Einige sind auch nach jahrelanger, knallharter Recherche bestehen geblieben und haben damit zur Verzögerung des Erscheinungstermins beigetragen. Danken muss ich Sammy für seinen genauen Blick darauf, wie ich als Autor seine Berichte dramaturgisch inszeniert habe. Oft hatte er Sie, die Zielgruppe, genauer im Blick als ich. Im Verlaufe des Buches gewinnen Sie, liebe Leserinnen und Leser, einen Eindruck von unseren hitzigen Debatten. Als Pause und Erholung ziehen wir die Kamera alle paar Kapitel aus dem Geschehen und schalten ins «Making-of». Gerne können Sie diese Passagen auslassen, wenn Sie von der Geschichte selber so fasziniert sind, wie ich es war, als ich Sammys Erzählung lauschte. Allerdings gewinnen Sie dann nicht den Einblick ins aktuelle Verlagswesen und die harten Anforderungen, die sich einem Geschichtenerzähler heute stellen. Vor allem wenn er sein Honorar mit einem sportlichen Kater teilt, der viel Appetit und höchste Ansprüche an sein Futter hat.

Sammys Wunsch, ihn selbst mit Rücksicht auf seine Freunde und Anverwandten anonym zu behandeln, bin ich selbstverständlich nachgekommen. Er wird deshalb durchgehend lediglich als Sammy Kater bezeichnet. Warum diese Anonymität für alle anderen Protagonisten nicht gelten soll, ist mir zwar schleierhaft, aber im Grunde egal. Die Hoffnung, Pelztiere irgendwann erschöpfend verstehen zu können, habe ich schon lange aufgegeben.

Carsten Wunn, im Januar 2020

1

Aufbruch ins

Westfälische

Als Sammy Kater seinen Geburtsschrei tat, lag die erste Lebenskrise bereits hinter ihm. Der Überlieferung nach hatten seine Eltern mit dem Thema «Niederkunft der Mutter» nach sieben Neugeborenen aufgrund eines der Hektik geschuldeten Rechenfehlers bereits abgeschlossen, als der Vater bei einem routinemäßigen Blick auf den Bauchraum seiner Gattin ein weiteres, vorsichtig aus dem Leib der Mutter lugendes Köpfchen entdeckte. Die Begeisterung soll sich in Grenzen gehalten haben, doch man tat, was getan werden musste, und Sammy erblickte endgültig das Licht der Welt, wenn auch noch halb blind, wie es nun mal das Schicksal von neugeborenen Katzenbabys ist.

In puncto Wertschätzung setzte sich sein Leben genauso fort, wie es begonnen hatte. Lange nachdem seine Geschwister so beliebte Vornamen wie Annabelle, Fredegar oder Godewind bekommen hatten, war er auch in dieser Hinsicht als Letzter an der Reihe. Da seine Eltern ihr Pulver nach sieben Kindern verschossen hatten und in dieser Frage immer stärker zur kompletten Lustlosigkeit tendierten, wählten sie eine besonders gleichgültige Methode, um die Namensgebung ihrer Kinder abzuschließen. Die Mutter schaute eines Morgens in die zufällig aufgeschlagene Zeitung, schloss die Augen, ließ die rechte Pfote kreisen, senkte sie im Blindflug auf das Papier und landete auf dem Werbeslogan einer Wäscherei, die mit dem Spruch «Sammy schäumt den Kragen auf» warb. Eine Anekdote, die auf Familienfeiern immer wieder unter herzhaftem Gelächter der Anwesenden erzählt wurde und nicht im Entferntesten dazu angetan war, Sammy seinen Namen und seinen Stand in der Familie angenehmer zu gestalten.

Auch in der Pelztiergrundschule litt der kleine Sammy darunter, dass sich die Entstehungsgeschichte seines Namens aufgrund der offensiven Informationspolitik seines Bruders Fredegar sofort nach der Einschulung verbreitet hatte. Ganz anders erging es seinen Geschwistern. Sie hoben sich kraft ihrer Namen geradezu majestätisch von der Masse ab. Sammy dagegen wurde durch die unselige Geschichte von Anfang an zum ungewollten Außenseiter, obwohl der Name selbst durchaus gebräuchlich war. Das Schlimme war seine lieblose Entstehung, die sich fatal auf sein Selbstbewusstsein auswirkte.

Abgesehen von einer ausgeprägten, von Sammy selbst geteilten Hannover-96-Affinität seines Vaters waren seine Eltern eher konservative Tiere, die großen Wert auf die Bildung ihrer Kinder legten. Beide arbeiteten in Festanstellung als Hauskatzen der Tierärztlichen Hochschule in der Leinestadt. Auf deren Gelände wuchsen ihre Kinder zwanglos unter Akademikern auf. Ohne Probleme durchliefen alle die Grundschule und besuchten anschließend die nahegelegene Pelztieroberschule am Braunschweiger Platz.

Ob es nun an seinem Namen und der daraus entstandenen Rebellion gegen das Elternhaus lag oder daran, dass er der Jüngste war: Sammy begann zu schwächeln. Anstatt fleißig fürs Leben zu lernen, lümmelte er lieber den ganzen Tag auf seinem geliebten Kratzbaum herum, zog mit den Kumpels um die Häuser oder schaute Spiele von Hannover 96 im Stadion an. Für Pelztiere war es nicht schwer, sich unerkannt durch die Zäune zu zwängen und aus sicherer Entfernung dem Spektakel beizuwohnen.

«Sammy», sagte ihm sein Klassenlehrer mehr als einmal, «du bist begabt. Ich bin sicher, dass du den Abschluss irgendwie schaffst. Aber wenn du nicht bald zu lernen beginnst, wirst du in Hagen-Haspe studieren müssen – für mehr reichen deine Noten dann nicht! Kann das wirklich dein Anspruch sein?»

Hagen-Haspe!

In Pelztierkreisen das reinste Schreckgespenst.

Zu den renommierten und erstrebenswerten Studienorten zählten eher Städte wie Bückeburg, Peine oder Haltern am See. Wer ganz großes Glück hatte, landete auf den Eliteuniversitäten in Zella-Mehlis oder Müden an der Örtze. Absolventen dieser Häuser hatten ihre berufliche Zukunft gesichert. Doch davon war Sammy weit entfernt. Man drohte ihm mit Hagen-Haspe! Dabei strebte er durchaus eine akademische Laufbahn an, denn neben Fußball und Feiern hatte es ihm das Gebiet der Kratzbaumtechnik angetan. Wenn es ein Lebewesen auf dieser Erde gab, das sich mit Kratzbäumen auskannte, dann Sammy. Sein kleines Zimmer im Bereich des elterlichen Wohntraktes auf dem Gelände der Tierärztlichen Hochschule zierten keine Poster von Popstars, sondern Bilder von besonders originell konstruierten Kratzbäumen aus aller Welt. Schon früh begann er, selbst eigene Kratzbäume zu konzipieren und zu bauen, wobei er äußerst geschickte Pfoten bewies und in diesem Bereich als förderungswürdiges Talent auffiel. Aber wollte er sich in dieser Disziplin verwirklichen, musste er studieren. Daran führte kein Weg vorbei. Das hätte ihm Motivation genug sein können, was aber nicht ansatzweise der Fall war.

«Wusstest du, dass sämtliche Dozenten in Haspe einmal dorthin strafversetzt worden sind?», fragte ihn seine weitaus erfolgreichere und um ihren Bruder sehr besorgte Schwester Annabelle eines Tages. «Die Studenten sind alle auf Krawall gebürstet, dauernd gibt es Streit und Schlägereien auf dem Campus. Und die FH Hagen-Haspe ist sogar für Nagetiere geöffnet! Stell dir das mal vor: ein Hörsaal voller Biber, Hamster und – wenn es ganz dumm läuft – Stachelschweinen und Bisamratten! Alle tragen rote Pullover mit blauen Cordhosen als Einheitskleidung, und die Schule ist super-autoritär geführt. Mit Strafexerzieren bei Fehlverhalten. Noch nie hat ein Absolvent der FH in Hagen-Haspe anschließend einen vernünftigen Job bekommen. Sammy, wach auf! Ich weiß das aus sicherer Quelle! Willst du wirklich einmal dort landen?»

«Warum nicht?», hatte Sammy damals mehr im Trotz geantwortet, «ich mag Nagetiere. Ich kenne einige, und die sind alle ganz in Ordnung. Das sind alles nur Gerüchte. Fake News. Wieso gibt es diese Fachhochschule überhaupt, wenn dort sowieso alle unbegabt, begriffsstutzig, undiszipliniert und faul sind? Könnten solche Aussagen nicht eher mit Neid oder Konkurrenzdenken zu tun haben? Die Personalquote im Verhältnis zu den Studierenden ist jedenfalls unschlagbar.»

 

Annabelle sah ihren Bruder in einer Mischung aus Entsetzen und Besorgnis an. Wie eine grüne Ortsvorsitzende, deren Neffe das Klima leugnet.

Sammy fuhr fort: «Ich glaube euch kein Wort. Ein Rauhaardackel aus der Nachbarschaft hat dort studiert. Er sagt, das wären reine Gerüchte, die Haspe unmöglich machen sollen, weil sie neue, speziesübergreifende Wege gehen. Weg von der artenspezifischen Hochschule. Er sagt, dass unter wirklich innovativen Tieren gerade der Studiengang Kratzbaumtechnik als Vorreiter neuer Lehrmethoden gilt. Auch wegen des hohen Praxisanteils. Der Rektor, Professor Doktor Doktor Doktor Dankwart Dösig …», an dieser Stelle sprach Sammy betont langsam und ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen, «gilt als Koryphäe auf seinem Gebiet. Ich will auf vernünftigem Niveau Kratzbaumtechnik studieren. Da gehe ich gerne nach Hagen-Haspe! Ich bin ein Praktiker. Elite ist etwas für Leute wie dich!»

Nach diesem Gespräch wandte sich Annabelle ab und beschloss, diesem störrischen Bruder ihre Besorgnis nicht mehr mitzuteilen.

Auf Dauer kam es, wie es kommen musste: Sammy gelang im zweiten Anlauf die Pelztiermatura, doch mit einem Notenschnitt von drei Komma fünfundsiebzig hatte er alles andere als freie Wahl, was den Studienort betraf.

Wochenlang hagelte es eine Absage nach der anderen, bis er eines Tages einen Brief mit dem Absender «Südwestfälische Fachhochschule für Pelz-und Nagetiere Hagen-Haspe» aus dem pfotenbesitzerfreundlich konzipierten Briefkasten des elterlichen Haushaltes fischte. Ungeduldig riss er den Umschlag auf.

«Sehr geehrter Herr Kater, wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass wir Ihre Bewerbung auf einen Studienplatz für das Fach Kratzbaumtechnik zum folgenden Wintersemester positiv beschieden haben.»

Unterschrieben hatte ein Herr Prof. Dr. Archäopteryx Sausmikat, Dekan des zuständigen Fachbereichs Ingenieurwissenschaften und Kratzbaumwesen. Dem Brief lag die Kontaktadresse des Studentenwohnheims bei.

Im Gegensatz zu seinen Eltern und Geschwistern war Sammy begeistert. Postwendend brachte er das Antwortschreiben auf den Weg und nahm Kontakt auf, um sich für ein Zimmer zu bewerben.

Wenige Wochen später brach Sammy seine Zelte in Hannover ab und stieg mit gemischten Gefühlen und einem riesigen Rucksack in den Pelztierexpresszug gen Westen. Während seine Eltern erwartungsgemäß zu Hause blieben, aber die beiden weiterhin in Hannover ansässigen Geschwister vom Bahnsteig aus winkten, setzte sich die Bahn in Bewegung, und die Gedanken des Katers schweiften in Richtung seiner zukünftigen Heimat. Er hatte so viel über Hagen-Haspe gehört, und so wenig davon war positiv gewesen! Sicher hatte er das Haus gegenüber Annabelle verteidigt, aber tief in seinem Inneren fürchtete er, dass sich die Gerüchte bewahrheiten würden.

Am Tag zuvor hatte Sammy mit einigen Freunden Abschied gefeiert. So gab er schon kurz hinter Minden seiner Müdigkeit nach und nickte langsam ein. Immer wieder wachte er im Halbschlaf auf und bekam mit, wie sich der Zug langsam füllte. Nach knapp zweieinhalb Stunden hörte er zum wiederholten Male die sympathische Stimme der Schaffnerin aus dem Lautsprecher. Diesmal verkündete sie das Ziel. «Nächste Haltestelle: Hagen Pelztierbahnhof. Sie erreichen alle vorgesehenen Anschlüsse planmäßig. Mehr oder weniger. Im Großen und Ganzen sieht es nicht schlecht aus. Je nachdem, um welchen Anschluss es halt geht.»

Sammy reckte und streckte seinen immer noch müden Körper, griff sich den Rucksack und ging in Richtung Tür, die kurz darauf von einem adipösen, in der Reihe vor ihm postierten schwarzen Kater geöffnet wurde. Kaum ausgestiegen, befand er sich auf dem Bahnsteig inmitten einer Lichtung.

«Wissen Sie, wie ich von hier aus zum Campus der Fachhochschule für Pelz- und Nagetiere komme?», fragte er den Artgenossen.

«Nein, aber ich helfe dir suchen.»

Nachdem sie gemeinsam dreiundzwanzig weitere Katzen sowie einen sich zufällig in der Nähe befindlichen Pudel-Labrador-Mischling erfolglos befragt hatten, trafen sie auf eine ältere Katzendame, die Rat wusste.

«Hinter dem Vorderausgang ist eine Bushaltestelle. Sie fährt genau zu Ihrem Ziel. Endstation Hasper Wald / Campus.»

Die Haltestelle trug ihren Namen nicht grundlos. Dichter Wald umgab Sammy, als er seine Pfoten auf den belaubten Pfad setzte. Dämmerig grün und golden schimmernd lagen bemooste Stämme zu Füßen selbstbewusst gen Himmel gereckter Fichten. Zwischen riesigen Farnen und urigen Wurzeln standen niedrige, pelztiergerechte Häuser. Er folgte dem Schild, auf dem «Hauptgebäude» stand, und, dort angekommen, dem Wegweiser zur Wohnheimverwaltung. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, wollte er nur noch eines: sein neues Zuhause sehen! Sein erstes eigenes Reich! Von der netten Katzendame im Wohnheimbüro wusste Sammy, dass er noch zwei Mitbewohner haben würde. Aufgeregt machte er sich auf den Weg.

Sein neues Heim lag unweit des Hochschulgeländes. Nach wenigen hundert Metern stand er vor dem Eingang der zugewiesenen Wohnung und klingelte höflicherweise, obwohl er in Besitz eines Schlüssels war.

Ein kleiner Kater öffnete.

Unglaublich! Der sah ja genauso aus wie er selbst! Sein neuer Mitbewohner hatte ein grau getigertes Fell, auffällig wache Augen und verfügte im Gegensatz zum kompakt gewordenen Sammy über eine bemerkenswert drahtige Figur.

Der Kater streckte ihm die Pfote entgegen. Sammy ergriff sie sofort.

«Ich bin Maxi.» Der Kleine lächelte freundlich. «Und du bist bestimmt der Neue. Komm rein! Möchtest du etwas trinken?»

Sammy nickte. Sein zukünftiger Mitbewohner stellte einen Napf mit Wasser vor ihn auf den Boden. Das dunkelblaue Schälchen aus Keramik war mit «Faunistisches Studentenwerk Haspe» beschriftet. Auch das an der Wand gestapelte Geschirr stammte von dort.

«Ist billiger», sagte Maxi, tauchte seine Schnauze in den Napf und nahm geräuschvoll einen Schluck. «Außerdem war es schon in der Wohnung, als ich letztes Jahr hier eingezogen bin. Ich hole an der FH nur Klostreu!»

Sammy sah sich um. Hinter der Küche im Eingangsbereich erblickte er drei Türen. Sein Zimmer war das rechte, das konnte er an der Zimmernummer erkennen.

«In welchem wohnst du? Und wo ist der andere Mitbewohner?»

«Ich wohne links. Das Zimmer in der Mitte ist wohl noch frei.»

Sammy schaute den kleinen Kater an.

«Studierst du auch Kratzbaumtechnik?»

«Nein, ich arbeite als Kratzbaumtester. Kein leichter Job! Wir haben fünf Schichten. Kann schon mal sein, dass ich tagsüber schlafen muss oder so.»

«Kein Problem. Tagsüber bin ich sowieso meistens unterwegs. Aber warum wohnst du auf dem Campus, wenn du gar kein Student bist?»

«Die haben eine Quote für Tiere aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Vorher war ich eine Zeit lang im Tierheim.»

Was für ein nettes Tier. Und was für eine Hochschule, die ihn mit offenen Armen aufgenommen hatte. Sammy sah sich bestätigt – alles Fake News! Bei näherer Betrachtung löste sich der schlechte Ruf von Hagen-Haspe in Luft auf.

Maxi griff in eine Schublade und zog eine gelbe Tüte heraus. «Käseknusper? Außen kross, innen cremig?»

Sammy sah auf seinen Bauch hinab: «Zu aufgeregt zum Essen.»

Maxi öffnete die Tüte, schnippte sich zwei Leckerli ins Mäulchen, warf die Tüte in die Schublade zurück und sagte: «Na komm, ich zeig dir den Campus.»

Der kleine Kater entpuppte sich schnell als geborener Fremdenführer. Sogar die typische Sprache hatte er drauf. «Rechter Pfote sehen wir den majestätischen Mensabereich, während auf der anderen Seite die Nagetierfakultät ihren Sitz hat.»

Nach einiger Zeit blieb er vor einem umzäunten Gelände stehen.

«Jetzt betreten wir die weniger schöne Gegend des Campus. Die Schattenseite unserer Hochschule: den Stachelschweindistrikt!»

Sammy rümpfte die Nase. Es roch etwas streng. Maxi sagte: «Genau das ist unser Problem! Ärger unter Studenten ist hin und wieder ganz normal, vor allem auf engem Raum, aber Stachelschweine haben Drüsen, die bei Stress eine unschön riechende Flüssigkeit ausstoßen. Gefährlich ist es nicht, aber oft herrscht dicke Luft.»

So sehr es auch müffeln mochte – wenn das schon die dunkelste Seite des Campus darstellte, waren sicherlich keine Dozenten hierher strafversetzt worden und die Katzen, Stachelschweine und Nagetiere mussten nicht zum Strafexerzieren antreten. Ganz offensichtlich handelte es sich um böse Gerüchte, und mit Fragen danach konnte er sich nur blamieren. Die Südwestfälische Fachhochschule in Hagen-Haspe gefiel ihm immer besser. Vom langen Rundgang rechtschaffen erschöpft, holte Sammy sich ein paar Käseknusper aus der Küchenschublade und warf sich krümelnd in seinen neuen Korb.