Read the book: «Der Himmel ist ein kleiner Kreis»
Carolina Schutti
Der Himmel ist ein kleiner Kreis
Roman
Literaturverlag Droschl
Monologue at 3 a.m.
Better that every fiber crack
and fury make head,
blood drenching vivid
couch, carpet, floor
and the snake-figured almanac
vouching you are
a million green counties from here,
than to sit mute, twitching so
under prickling stars,
with stare, with curse
blackening the time
goodbyes were said, trains let go,
and I, great magnanimous fool, thus wrenched from
my one kingdom.
Sylvia Plath
Schrauben und Bretter auf dem Boden, Lackdosen, Pinsel, alles, was ich greifen kann, Gebrüll, ich weiß nicht, von wem, das Aufheulen der Säge und die plötzliche Stille, als sie zu laufen aufhört, weil sie im Flug das Kabel aus der Steckdose reißt. Ich höre meinen Atem, zu tief, zu laut, in kleinen Stößen dringt er aus meinem Mund, mein Luftholen ein Zischen, und dann wieder die Stöße, einer, noch einer, noch einer, bis die Lunge leer ist, ein Stöhnen aus der Tiefe meines Leibes, das Stöhnen höre ich, aber ich merke nicht, dass ich spucke, dass mein Kinn nass ist von Speichel, dass der Speichel mit Blut vermengt ist, weil ich mir auf die Zunge gebissen habe. Ich fühle einen weichen Widerstand am Fuß, und eine heiße Welle überkommt mich, weil ich harten Widerstand will, weil meine Kraft nicht in der Weichheit versinken soll, sondern zu mir zurückkehren, und sei es als ein Geräusch, das an meine Ohren dringt, lauter als das Rauschen des Blutes, ein Krachen wie das Krachen alter Schuppenbretter, über die man mit dem Fahrrad fährt, bis sie unter dem Gewicht nachgeben, spröde außen und innen morsch. Ein Klopfen wie das Klopfen der Axt, die das Brennholz spaltet: Die Augen musste man zukneifen, weil man sich weigerte, eine Brille zu tragen, und doch Angst davor hatte, eines Tages so auszusehen wie der Vater, dem ein Splitter durch die Iris gefahren war und alles Dreidimensionale dieser Welt in sich zusammenfallen ließ. Wie sollte ich einäugig Boote bauen, wie die Fluchtlinien prüfen, wie die Deckbohlen zuschneiden nach Augenmaß. Wie würde ich aussehen mit der alten, orange getönten Schibrille des Vaters, wenn jemand vorbeikäme. Bescheuert. Ich höre es, noch bevor man es ausspricht, bescheuert, wie siehst du denn aus. Die Brille hing an der Schuppentür, die Axt fuhr durch das Holz, niemand kam vorbei, mit jedem Hieb rückte der Abend näher, der Samstag, der Sonntag, der Montag.
Die Woche beginnt mit dampfendem Wiesengras. Mit brackigem Wasser aus dem Bewässerungskanal. Mit Seewasser. Entengrütze und Moos. Schwellenholz. Dann, plötzlich, als gäbe es eine unsichtbare Wand, Polyester, Lack, Metall:
Die Fluchtlinien prüfen, die Glätte des Lacks, die Ebenmäßigkeit der Fugen. Schräubchen versenken an Stellen, die niemand sieht, Messing polieren, das nach wenigen Tagen ohnehin wieder matt ist von Sonnencreme und Schweiß.
Ich will hobeln! Ich will lackieren!
Ich sehe die grinsenden Gesellen wie durch ein Vergrößerungsglas, ich schreie, Wer ist bescheuert, wer?, ich trete, ein Tritt noch, noch einer, ein letzter. Ich weiche zurück, mein Rücken trifft auf eine Wand, ich breite die Arme aus, als wollte ich davonfliegen, doch etwas stimmt nicht an diesem Bild, es sind die Hände, die ich zu Fäusten geballt habe, es sind die harten Fingernägel, die sich in meine Handflächen fressen, ohne dass der Schmerz mein Bewusstsein erreicht.
Ich soll ihnen erzählen:
Wie sie sich anfühlt, die Faust, in der Holzsplitter stecken. Wie es sich anhört, das Geräusch von krachendem Holz. Wie sie aussieht, die Flugbahn der Handkreissäge, die nur knapp den Kopf des Gesellen verfehlt.
Kurz vor Mittag, an den bodentiefen Fenstern des Speisesaals ist kaum noch ein Platz frei, alle sitzen oder stehen dicht gedrängt, ich stelle mich neben Mark, was ist los, was ist los?, und draußen auf der Terrasse ist der Hausmeister mit einem Gartenschlauch, schraubt an der Düse herum, was ist los?, sag schon! Schildläuse, sagt Mark, Samtmilben, sagt jemand anderer, Spinnen! Spinnen! Spinnen!, sie sind winzig, sagt Mark, sieh nur!, und ich presse mein Gesicht an die Scheibe, kann nichts erkennen, sie sind winzig klein, sagt Mark, aber es sind viele, siehst du? Wie ein roter Schleier im Wind. Ein rotes Tierchen krabbelt über das Glas, flink, in eckigen Bewegungen, als wollte es Haken schlagen, ich fixiere es, doch Mark deutet auf die Schieferplatten, und jetzt sehe ich sie, Tausende knallrote, winzige Insekten, ein einziger, sich bewegender Teppich, doch noch bevor ich etwas sagen kann, beginnt das Wasser aus dem Schlauch herauszuschießen, der Hausmeister zielt auf die Tierchen, das Wasser spritzt in alle Richtungen, zahllose Tropfen auf der Fensterscheibe lassen unsere Aussicht allmählich verschwimmen. Der Hausmeister geht langsam vor, ruhig bewegt er den Schlauch hin und her. Hoffentlich übersieht er nichts, sagt jemand, heute gibt es Fisch und Brokkoli, sagt jemand anderer, und auf einmal ist es nicht mehr so eng und gedrängt am Fenster, Stühle werden gerückt, man verteilt sich, vereinzelt hört man Besteckgeklapper, einige rücken ihre Teller und Gläser zurecht, aber ich bleibe stehen, beobachte den Hausmeister, der hinter der nassen Scheibe seine Konturen verliert.
Du hast deine Hose nicht richtig zu, sagt Mark, und ich blicke nach unten, der Reißverschluss steht offen, danke, sage ich und bemerke, dass ich auch keine Hausschuhe anhabe, nur dünne, rosarote Socken, ich habe die Aufregung bis in mein Zimmer hinein gehört und vergessen, Punkt fünf zu befolgen, der Aufenthalt auf den Gängen und in den Gemeinschaftsräumen der Anstalt ist nur in Hausschuhen gestattet, und ich entdecke auch, dass der Sockenstoff über den Zehen beinahe durchsichtig ist, die Kanten der großen Nägel sind darunter klar auszumachen, eine Nagelschere bekomme ich nicht, nur Sandblattfeilen aus Karton.
Du hast nur Socken an, sagt Mark.
Ich habe die Schreie gehört, ich hatte keine Zeit, antworte ich, doch das bekommt Mark nicht mehr mit, Musik dröhnt aus seinen Kopfhörern, mischt sich mit den Geigenklängen, die nun aus den Deckenlautsprechern kommen, ein Projekt, sagen sie, deshalb sitzen hier jetzt auch immer drei oder vier Studentinnen mit Tablets und Collegeblöcken und sehen uns beim Essen zu, und manchmal besucht uns eine im Frauenstockwerk und fragt uns etwas, und Mark sagt, auch im Männerstockwerk sei manchmal eine, aber die sehe sich nur um und mache kleine Striche auf einer Liste.
Der Hausmeister steht nun direkt vor uns, er spritzt die Fuge zwischen Terrasse und Fenster ab. Mark drückt seine Stirn ans Glas, ich presse meine Handflächen an die Scheibe, doch trotz unserer unmittelbaren Nähe nimmt der Hausmeister von uns keine Notiz, ich klopfe, nichts, er hält den Kopf gesenkt, vielleicht ist das Wasser einfach zu laut, vielleicht verschluckt Sicherheitsglas alle Geräusche, ich lasse das Klopfen auch gleich wieder bleiben, hier drinnen ist es gut zu hören, alle Ohren sind auf Glasgeräusche geschult. Noch beim größten Tumult wird das leiseste Splittern, das zarteste Klirren vernommen, und so schnell kann man gar nicht schauen, wie jemand neben einem steht, wie zufällig, und prüft, ob nur eine Flasche umgefallen oder ob ein Glas zu Bruch gegangen ist.
Ich kenne das, sage ich, obwohl Mark nichts hört, ich kenne das, rote Tierchen an der Gartenmauer, das kenne ich, aber so viele, und gerade jetzt, wo doch die Stühle und die Tische hinaus sollen, und Sonnenschirme für all jene, die den Schatten vorziehen, man kann Kaffee mit hinaus nehmen, man kann die Kronen der Platanen betrachten und sich wundern, wie ruhig es hier doch ist, eine Insel am Stadtrand, umgeben von einer grau verputzten Mauer, von Hecken, von Efeu, einen Schlosshof kann man sich vorstellen, ohne Weiteres, mit Gärtner und mit Bediensteten, die andauernd fragen, wie es einem geht.
Ich brauche Luft, sagt Mark, und ich nicke, was bedeutet, dass wir uns nach dem Essen im Park treffen, auf der einzigen Bank, die um dreizehn Uhr dreißig zur Hälfte in der Sonne und zur Hälfte im Schatten steht.
Er in der Sonne und ich im Schatten, ich sitze immer im Schatten, damit mein Gesicht nicht heiß wird, nicht der Rücken, nicht der Bauch, und Mark braucht die Sonne wie die Luft zum Atmen, sagt er, krempelt seine Hosenbeine hoch und sogar die kurzen Ärmel des T-Shirts, klemmt die Stoffrollen unter die Achseln, damit sie oben bleiben. Er glaubt, dass sich unter seiner Haut Maden eingenistet haben, rund um die schlecht verheilten Einstichstellen in den Armbeugen vor allem. Niemand kann sie sehen, aber ich glaube ihm. Und er bleibt dafür neben mir sitzen, wenn ich einen Satz beginne und ihn in meinem Kopf fortspinne und wenn mein Mund aufhört, sich zu bewegen, während ich mit ihm spreche, und er nickt trotzdem ab und zu, und so unterhalten wir uns.
Ich versuche, mir seine Körperhaltung genau einzuprägen: Zusammengezogene Schultern, ein leicht vorgeschobener Kopf, gegrätschte Beine, der linke Arm auf der Lehne, der rechte Unterarm locker auf dem Schoß. Er ist ein Klischee, das sagt er selber, dünn, tätowiert, man sieht ihn nur mit Kopfhörern, er müsste längst taub sein von seiner Musik. Nur die langen Haare, die fehlen, er hat eine Frisur wie ein Bankbeamter, immer schon gehabt, sagt er.
Mit Mark lässt es sich hier gut aushalten. Doch die Kratzspuren an seinen Armen verblassen, sein Zittern wird weniger, lange wird er nicht mehr hier sein, zwei Wochen, drei vielleicht, im Gegensatz zu mir, ich bin schwierig und verstockt und will nicht atmen und nicht tanzen, und ich sage ihnen jeden Tag, ich rede doch mit Mark!, das stellt sie aber nicht zufrieden, denn sie können sich nicht vorstellen, dass man sich unterhalten kann, ohne den Mund zu bewegen, und sie versuchen, wenigstens einen Plan aus mir herauszulocken, ein Bild meiner Zukunft, ein klitzekleines Ziel, nach dem ich mich wie eine Kompassnadel ausrichten kann, und ab und zu zeichne ich einen Kompass und ein Quadrat und ein Dreieck, und sie sagen, ein Haus?, und dann finde ich, es ist genug.
Noch ist Mark da, er lehnt sich zurück, schiebt die Kopfhörer von den Ohren, räuspert sich: Es sind Spinnmilben, sagt er. Schildläuse sind nicht rot.
Mark hat recht, Schildläuse sind grau, solange sie nicht ausgekocht werden für ihre Farbe, sie sitzen auf Bäumen und nicht auf Terrassen und Hausmauern. Auch für Schellack braucht man Schildläuse, nicht ihre Panzer, das nicht, sie scheiden Harzblasen aus, man löst die getrockneten Blasen von den Ästen und das Harz ist feuerrot, aber was will man mit rotem Lack auf Holz, also wäscht man die Farbe heraus, bis der Lack klar ist, und ich will Mark erzählen, dass ich es geliebt hätte, Schellack aufzutragen, nicht mit einem Pinsel, sondern mit einem Tuch: dieses zarte Betupfen des Holzes, dieses Streicheln, dieser matte Glanz, dieser Geruch, doch im Bootbau ist Schellack nicht zu gebrauchen, es dauert Tage, ihn zum Glänzen zu bringen, es vergehen Jahrzehnte, bis er ganz hart wird, er quillt auf, wenn er mit Wasser in Berührung kommt, und so ist es bei dem einen Versuch in der Berufsschule geblieben. Veredelung von Holzoberflächen, ein Nachmittagskurs mit einem Instrumentenbauer. Im Bootbau braucht man Robusteres, Double-Coat-Polyesterlack, Zwei-Komponenten-Polyurethan-Lack, Epoxidharz, Osmoselack, außer bei Teak, Teak wird nur geölt, hast du eigentlich gewusst, wie sehr so ein Teakstamm beim Aufschneiden stinkt? Und dass er zuerst grün ist? Grün wie unreife Walnüsse, und binnen Minuten verfärbt sich das Holz, glänzt vom ausgetretenen Öl, und wir haben die zersägten, vom Splint befreiten, glattgehobelten Bretter auf Stellagen gelegt, und noch vor der Tür konnte man die neue Lieferung riechen, zwei-, dreimal im Jahr, nicht öfter, eher seltener, wer möchte sich das leisten, ein Teakdeck, ich habe ein ganzes Deck geölt, man kann den Pinsel nehmen oder ein Tuch, ich habe immer ein Tuch genommen, die Hände waren fettig danach, die Ärmel, manchmal auch die Hosenbeine, wenn ich unachtsam war.
Mark starrt auf seine Füße.
Soll ich die Katze rufen?, frage ich.
Der Schatten ist zwei Zentimeter gewandert, Mark rückt ein wenig von mir ab, hält sein Gesicht in die Sonne.
Er sagt nichts, also rufe ich, warte, rufe noch einmal. Manchmal dauert es ein paar Minuten, diesmal länger, ich rufe lauter als sonst, stehe auf, um einen besseren Überblick zu haben, um einen bewegten Schatten im Augenwinkel, eine Regung im Gebüsch zu entdecken, doch nichts, vielleicht ist die Katze ebenfalls auf der Terrasse gewesen, vielleicht hat sie der Wasserstrahl getroffen, vielleicht wagt sie sich jetzt deshalb nicht mehr aus ihrem Versteck. Ich rufe wieder. Plötzlich ein Miauen, direkt hinter mir, Mark dreht den Kopf, öffnet die Augen, da ist sie ja, und ich frage ihn, ob er sie auch einmal streicheln möchte, frage, als wäre das meine Katze, die nur Freunde berühren dürfen, und Mark nickt, bückt sich, krault den Katzenkopf zwischen den Ohren.
Weich, sagt er.
Hart, sage ich, spürst du denn nicht ihre Knochen?, und ich bitte ihn, an seiner Hand zu riechen, ob er auch finde, dass sie jetzt stinkt, und Mark hält die Handfläche an seine Nase, schüttelt den Kopf, ich rieche nichts, das ist doch keine Ziege, und krault die Katze weiter am Kopf.
Ich lasse ihren Schwanz durch meine Finger gleiten.
Heute habe ich ihr Fisch mitgebracht, ich falte die durchfeuchtete Serviette auf meinem Schoß auseinander, das Filetstück ist völlig zerfallen, ich kratze es mit den Fingernägeln von der Serviette, so gut es geht, und halte der Katze die Fischstückchen vor das Maul.
Sie will nicht fressen.
Würde ich auch nicht wollen, sagt Mark.
Mark isst keinen Fisch, er hat Angst vor den Gräten, als Kind wäre er einmal beinahe an einer Gräte erstickt, nicht zu Hause, sondern in der Klinik, als man versuchte, die Gräte mit langen Pinzetten zu entfernen, ohne Narkose, einfach so, tut ja nicht weh, ist gleich vorbei, und da hatte sich auf einmal der Kehlkopf verkrampft und die Luft war ihm weggeblieben.
So etwas passiert dir nie wieder!, sage ich.
Doch mit kurzen Sätzen ist hier keinem beizukommen, nicht einmal dann, wenn es wahr ist, wie wahrscheinlich ist es denn, zweimal im Leben beinahe an einer Gräte zu ersticken.
Ich wische die Hände mit den Rändern der Serviette ab, stecke dann meine Finger tief ins Fell der Katze, reibe mit den Fingerspitzen an ihrer Haut. Auf einmal streckt sie ihren Rücken durch, drückt sich vom Boden ab, verschwindet mit wenigen Sätzen im Gebüsch.
Wenn Mark auf der Bank sitzt, dann denkt er an nichts, sagt er. Er richtet seinen Blick auf die Platanen, neigt dazu den Kopf ein wenig nach hinten, schaut durch die luftigen Kronen hindurch in den Himmel.
Sobald man etwas hat, das man ansehen kann, muss man an nichts denken, es genügt, einfach so auf der Bank zu sitzen, wenn die Blätter sich sacht im Wind bewegen, oder wenn sich die Kondensstreifen der Flugzeuge allmählich verbreitern, nach und nach transparenter werden, bis sie verschwinden. Wenn sich die Köcherfliegen in der Dämmerung über den Blumenbeeten zu dichten Schwärmen formieren, sie stoßen nicht zusammen, nie, trotz der willkürlichen, beinahe eckigen Bewegungen, ein verrückter Paarungstanz, und doch sehe ich keine einzige von ihnen zu Boden fallen.
Wenn ich etwas vermisse, dann den See. Einzig der Nebel im Winter erinnert an seine Nähe, er breitet sich aus, liegt dick über der Stadt, über den Dörfern, über Ufern und Feldern, über der Autobahn. Der See greift mit feuchter, kalter Hand nach seiner Umgebung, und man vergisst im tiefen Grau schnell das Glitzern des Wassers im Sommer, die friedlichen, schattigen Buchten, die Wasserpflanzen, die in den heißen Monaten bis an die Oberfläche wachsen wie ein tiefer, stiller Wald mit durchscheinenden, lichtgrünen Blättern.
Diese samtig schimmernde Wasseroberfläche an windstillen Tagen, die sich aber nie bis zum Horizont zieht, sondern immer irgendwo aufgeworfen wird, sich unruhig kräuselt, an einem der Ufer oder irgendwo in der Mitte, manchmal passiert es, dass sich binnen Minuten hohe Wellen bilden, dass man sich in einem Augenblick noch in einem Bilderbuch wähnt, müde die Position der Angelruten prüft, dem sanften Plätschern am Bootsrumpf lauscht, und plötzlich schlägt das Wasser über den Rand, man muss sich festhalten, die Angeln einholen, schnell, schnell, den kleinen Motor anwerfen, das Blinken der Sturmwarnung vor Augen, dunkle Wolken über dem Kopf, und manchmal hat man den Sonnenschein im Rücken und dort sind Leute auf Surfbrettern und Luftmatratzen, die bis zum Abend keinen Regentropfen abbekommen werden. Als würden willkürlich unsichtbare Wände eingezogen, Wetterscheiden mitten am See.
Mark trägt das Wasser auf den Beinen, nicht den See, sondern das Meer, Wellen und ein Segelschiff, zerklüftete Felslandschaften, Farne, Schlingkraut, das Skelett einer Schlange, und als mein Blick auf diesen Bildern ruht, als ich darüber staune, wie Licht und Schatten auf den Felsen liegen, wie wuchtig die Gischt an die Küste schlägt, wie das Schiff sich gegen die Wellen stemmt, wie man zu sehen glaubt, dass die unteren Decks längst mit Wasser gefüllt sind und die Matrosen durchnässt, heiser vom Schreien, entkräftet, gegen den Sturm kämpfen, da fällt mir plötzlich wieder ein, dass auch in Tattoofarben Schellack ist, dass der Instrumentenbauer davon erzählt hat, als jemand ein Problem damit hatte, den Lack aufzutragen, weil bei der Herstellung vielleicht auch einige Läuse gestorben seien, Lauslarven eigentlich, noch nicht einmal geschlüpft, aus Versehen mit den leeren Kokons von den Zweigen abgestreift, niemand könne alle Kokons überprüfen, und da hat er gesagt, was meinen Sie, was in Ihrer Tattoofarbe drinnen ist, und so still war es plötzlich im Raum, weil wahrscheinlich jeder gedacht hat, dass man ein Tattoo nicht ausspucken kann wie ein Stück Wurst.
Ich werde nichts sagen, obwohl Mark Wurst isst, nur eben keinen Fisch und keine Kohlsprossen, wegen der Maden.
Ina benötigt eine Stunde für den Rundgang, wenn sie sich beeilt. Von 6.00 bis 7.00, von 12.00 bis 13.00, von 18.00 bis 19.00 und einmal um Mitternacht. Das Logbuch liegt aufgeschlagen auf dem Tisch, die Eintragungen bleiben seit Wochen dieselben, sie schreibt in ihrer schönsten Schrift.
Eine schöne Schrift sei das Wichtigste, hat Boris gesagt, und ein gutes Auge.
Ein gutes Auge wofür?
Rauchsäulen, Vorkommnisse.
Sie hält nach Rauchsäulen Ausschau, nach Vorkommnissen. Klettert auf den ersten Wachturm, blickt von oben in alle Himmelsrichtungen: Wald, Wald, Gelände, Wald.
Sie geht über den verbrannten Flecken Erde, am verkohlten Gerüst vorbei, klettert auf den zweiten Wachturm. Sieht Wald, Gelände, Wald, Wald. Verweilt. Lässt den Blick über die Werkshalle schweifen, über die Wohnbaracke, die beiden Schuppen. Über den zu Rollen gewickelten Stacheldraht.
Keine Rauchsäulen, keine Vorkommnisse, kein Regen, kein Wind.
Sie geht durch knisternden, braunen Farn auf die dichten Baumreihen zu. Brombeerranken zerren an der Hose, trockene Äste knacken bei jedem ihrer Schritte, zwischen den Schritten lauscht sie in den Wald hinein. Bleibt stehen. Spitzt die Ohren. Geht weiter bis zum Eingang des verfallenen Stollens. Öffnet die schwere Abdeckung, schaltet die Taschenlampe ein: Bretter, Steine, gelblicher Lehm, ein Haufen aus morschen Balken, verbogene Reste einer kurzen Leiter aus Metall. Zwanzig Schritte kann sie machen, höchstens, die Leiter steckt in verrutschter Erde, da, wo einmal ein Loch in die Tiefe geführt haben muss. Auch hier: Keine Vorkommnisse. Kein Wassereintritt. Nichts.
Dann die beiden Schuppen, einer leer, der andere gefüllt mit Fässern, Kanistern und altem Gerät. Alles an seinem Platz. Keine Auffälligkeiten, keine Änderung.
Nur das Tor bereitet ihr Sorge, die Kette ist lose um die Streben gewickelt, es gibt kein Schloss, es hat noch nie eines gegeben. Es sieht nicht so aus, als sei die Kette bewegt worden, doch Beweis hat sie keinen. Die Schneise, die vom Gelände wegführt, ist kaum noch zu erkennen, Strauchwerk und Gestrüpp neigen sich dem schmalen, gerodeten Streifen zu. Sie hält nach geknickten Ästen Ausschau, nach Spuren, nach Abdrücken von Pfoten oder von Schuhen. Hört Boris’ Stimme, als stünde er neben ihr:
Hier muss es sein. Komm!
Sie waren am Ende der Schotterstraße aus dem Geländewagen ausgestiegen, zu Fuß der Schneise gefolgt, in einer kleinen Senke dem knietiefen Schlamm ausgewichen. Nach wenigen Minuten standen sie vor dem Tor, zu beiden Seiten reihten sich mannshohe Stacheldrahtrollen aneinander, waren eingebettet im Dickicht, verloren sich im Wald. Boris griff an die Kette, es folgte ein Jauchzen, freudig, laut, sodass sie stutzig wurde, warum freut er sich so?, sollte es nicht ein Schloss geben, sollte er nicht den Schlüssel dazu haben, wenn man ihnen schon diese Arbeit angeboten hat?
Sie folgte Boris auf das Gelände, dort entdeckten sie das zweistöckige Haus, die wellblechverkleidete Halle mit ihren alten Maschinen, hohen Fenstern und einem Boden aus festgepresstem Kies. Wie ein aufgeregtes Kind lief Boris hin und her, zog Ina nach kurzer Zeit wieder ins Freie, packte sie am Arm. Ina schüttelte seinen Griff ab, nun ging sie voraus, zurück zum Wagen, hielt unterwegs die Augen offen, bückte sich nach dicken Ästen, die sie in die Schlammgrube legten, um darüber fahren zu können, um nicht doch noch auf den allerletzten Metern zu scheitern.
Hinausgehen, nach dem Rechten sehen, sich auf den Wachturm stellen und in alle Richtungen blicken, auf Rauchsäulen achten, auf Motorengeräusche lauschen, den Deckel des Brunnens heben, prüfen, ob der Stollen gesichert ist, der Generator bereit, die Kanister vollzählig.
Das ist die Abmachung. Dafür wird Boris sie zur Winterstraße bringen, sobald es Zeit dafür ist. Es habe keinen Sinn, stur weiter durch die sibirische Einöde zu fahren, um dann früher oder später im Morast steckenzubleiben, sie müsse ohnehin warten, bis die Sümpfe frieren, da könne sie doch für wenige Monate seine Gehilfin sein. Jeder Wächter habe einen Assistenten, er habe noch keinen.
Komm schon, was sind schon zwei Monate oder drei: Ein Handschlag, ein Vertrag. Unleserliche Buchstaben, ein Stempel, Boris’ Unterschrift und, ganz unten am Rand, winzig und stark nach rechts geneigt, die ihre.
Ob sie Geld habe für Vorräte und zwei Tickets für die Fähre?, sie werde alles zurückbekommen, selbstverständlich, und guten Lohn dazu, die Assistenz sei gut bezahlt, ausgezeichnet sogar, wenn man bedenke, dass man nur wachsam sein und Notizen machen müsse. Es kämen auch keine Touristen, nicht wie etwa in Pyramiden, das täglich besichtigt werde und dementsprechend in Stand gehalten werden müsse. Das sei dort nämlich kein Vergnügen, man müsse nicht nur die Runden drehen, sondern Fragen beantworten und an Schlechtwettertagen putzen und reparieren und abdichten und ankleben und sogar schweißen.
Pyramiden?
Pyramiden. Minenstadt auf Spitzbergen. Zuerst Luxus, dann nichts als Ruinen, zuerst Orchester und frische Salatköpfe in Glashäusern, dann tote Katzen überall. Dass das kein Honigschlecken sei, das Vertreiben von Neugierigen und Vandalen, von Räubern und Forschern ohne Papiere, von Abenteurern und Verschwörern, das Instandhalten der verlassenen Räume, der Gästezimmer, der Küchen, Bäder, das wisse er von seinem Cousin, alle Details wisse er, obwohl er selbst noch nie dort gewesen sei, geschweige denn dort gearbeitet habe. Aber der Cousin könne so gut erzählen, da spare man sich die Reise. Sogar Geruch und Gestank und eine schiefe Türklinke erzählt er dir und in welcher Geschwindigkeit Staub auf die Möbel fällt. An der Fallgeschwindigkeit von Staub könne man ablesen, was man einatmet: Pollen oder Sand oder trockene Mäusekacke. In Pyramiden sei es in erster Linie Sand. Der müsse von den Möbeln entfernt und aus der Turnhalle gekehrt werden, um den Glanz der alten Zeiten sichtbar zu machen und ohne den die unverhofft sprudelnde Geldquelle so schnell wieder versiegen würde, wie man einst die Mineneingänge zugeschüttet habe.
Nicht einmal ein Abglanz von Pyramiden ist dieses Gelände, auf dem sie gestrandet ist. Wer soll die Kanister stehlen, wer soll an den Sicherungen drehen? Wer soll versuchen, in den Stollen einzudringen, der bereits nach wenigen Metern unpassierbar ist? Sie bewacht eine kleine Werkshalle, einen zweigeschossigen, kompakten Bau: einen Salon, holzvertäfelt, mit Klavier, zwei Waschräume, eine Küche, einen Vorratsraum, einige kleinere Kammern. Boris besteht darauf, dass sauber in das Buch eingetragen wird, nach jeder Runde, mit Datum und Stempel und Unterschrift.
Ina blickt in die Richtung, in der sie die Winterstraße vermutet, als könne sich ihr Blick durch das Gebüsch schlagen, durch den Wald schlängeln, als wäre ihr Blick ein Geräusch, das der Wind in die Ferne trägt.