Flügelschatten

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From the series: Flügelschatten #1
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Flügelschatten
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Flügelschatten
Augen aus Dunkelheit
Carolin Herrmann

Copyright © 2020 by


Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: info@drachenmond.de

Lektorat: Nina Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Jaqueline Kropmanns

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-553-3

Alle Rechte vorbehalten

Für meine

Fuchsschwestern

und meine

Süßmäuse.

Ich habe euch sehr lieb.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

11. Händler

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

22. Händler

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Danksagung

Prolog


Es ist Winter und bitterkalt. Die Kälte streicht mit ihren eisigen Fingern an den Mauern entlang, der Wind fährt pfeifend durch die Ritzen und heult in den hohen, langen Gängen. Dafür ist es eine sternklare Nacht, nicht eine einzige Wolke verdeckt die glühenden Punkte am Himmelszelt. Mit einem Mal verdunkelt ein gewaltiger Schatten den Mond und schlagartig verblasst das Licht. Das Ungeheuer breitet seine riesigen Schwingen aus und landet erstaunlich anmutig auf den hohen Zinnen der Burg. Dort stößt es ein tiefes Grollen aus, sodass die Wände erzittern. Geschickt ist es dem Regen aus Pfeilen ausgewichen, es reißt sein Maul auf und speit eine so gewaltige Flammensäule aus, dass alle Wächter, die sich nicht schnell genug ducken, bei lebendigem Leib verbrennen.

Mit einem Hieb seines geschuppten Schwanzes stürzen die Männer über die Brüstung und in die endlose Tiefe. Es dauert, bis man den harten Aufprall ihrer Körper auf dem Wasser weit, weit unten vernehmen kann. Die messerscharfen Krallen des Untiers blitzen in der Nacht auf und zerreißen die Verbliebenen.

Jetzt hockt es auf dem Dach, den Kopf hoch erhoben, die Augen funkeln gefährlich und sein Schwanz peitscht ruhelos hin und her. Es wartet. Geduldig. Bis seine Herrin zurückkehrt.

Unterdessen fliegen die Flügeltüren im Innern der Burg auf und krachen gegen die Wände. Das laute Knallen hallt im ganzen Saal wider, sodass der König auf seinem Thron heftig zusammenfährt. Mit seinen Fingern umklammert er die Armlehnen des prächtigen Stuhles, ganz und gar aus schwarzem Marmor gehauen, düster und mächtig. Seine Rückenlehne ist beachtlich hoch und mit kunstvollen Schnitzereien verziert, dahinter kreuzen sich zwei blitzende Schwerter.

Die helfen ihm jetzt nichts mehr, das weiß er. Sie zum Kampf herauszufordern wäre töricht, dumm. Was hat er für eine Wahl? Kalter Schweiß tritt auf seine Stirn und er kann überdeutlich spüren, wie er über seine Wange läuft. Sie ist gekommen.

Er wusste, dass sie kommen würde.

Zwei in dunkle Umhänge gehüllte Gestalten betreten den beeindruckenden Thronsaal. Ihre Gesichter sind unter den Kapuzen verborgen, trotzdem glaubt er zu spüren, wie ihn silbrige Augen höhnisch anfunkeln, hasserfüllt, machtgierig. Die ganzen letzten Wochen schon hatte er kaum eine Nacht schlafen können, hatte sich unruhig in seinem Bett hin und her gewälzt und sich schließlich in seinem Thronsaal verborgen. Dieser Raum in seiner Festung war besser geschützt als jeder andere, trotzdem hatte er weitere Wachen vor der Tür positionieren lassen, hatte die Verteidigungslinien verstärkt und die schweren Eisentüren verriegeln lassen. Und dennoch wachte er weiterhin schweiß­gebadet aus seinen Träumen auf, klammerte sich an seinen Thron und versuchte krampfhaft, seinen rasselnden Atem zu beruhigen.

Nur ein Traum. Ihm kann nichts geschehen. Sie kann ihn nicht überlisten. Er hat sich so gut geschützt wie nur möglich.

Diesmal ist es kein Traum. Die vordere Gestalt durchquert den Raum zügigen Schritts, selbstbewusst, energisch. Die zweite verbirgt sich halb hinter ihr, sie ist kleiner und er hat schon von ihr gehört.

Schwer schluckt er, seine Kehle ist wie ausgetrocknet. Lange hat er standgehalten. Sehr lange. Doch dann tauchte etwas Neues auf. Eine neue Waffe, mit der er nicht gerechnet hat.

Ein paar wenige Schritte von dem prunkvollen Thron entfernt bleiben beide Gestalten stehen. Der König richtet sich auf und versucht, sein Gesicht hart werden zu lassen, aber seine Stimme zittert.

»Calypso.«

Der Klang des Namens ist eiskalt und fährt wie ein Messer durch den Raum. Sofort fällt die Temperatur weiter und ein frischer Wind bauscht die schweren Vorhänge vor den Fenstern auf. Die vordere Gestalt schlägt die Kapuze zurück. Haare wie aus flüssigem Silber, streng geflochten, kommen zum Vorschein. Auf ihnen sitzt eine Krone, gefertigt aus weißen Kristallen. Sie leuchtet kalt und doch wunderschön wie eine frisch geschliffene Klinge. Wie die Augen der Frau, die ihm gegenübersteht. Silbrig wie der Mond draußen am nachtschwarzen Himmel.

Sie lächelt frostig.

»Erraten.«

Dann dreht sie sich zu der Gestalt hinter sich um. Der König muss scharf die Luft einziehen, als deren Gesicht entblößt wird. Er hat es nicht glauben wollen: Es ist noch so jung, vielleicht neun Jahre alt, mit einem Blick, derart unheimlich, dass ihn ein Schauer überläuft. Er ist voller Gier und Vorfreude. Vorfreude auf das Töten.

Mit der Zunge fährt sich das Kind über die Zähne und grinst mordlustig. Die angriffslustige Art passt entsetzlich wenig zu dem Mädchen, das es noch ist.

Ein unruhiges Feuer flackert in ihren Augen auf und ihr Blick huscht herüber zu der stolzen Frau.

»Darf ich, Herrin?«

Diese dreht sich zu dem König um, legt den Kopf ein wenig schräg. Er hat das Gefühl, etwas sagen zu müssen, nach seinen Wachen rufen zu müssen, doch er weiß, dass das keinen Zweck hat. Calypso wäre nicht hier, wenn noch ein einziger seiner Männer dort draußen leben würde.

Das hier ist eine Sache zwischen ihm und ihr. Darauf lief es die ganze Zeit hinaus. Nun muss er sich ihr stellen. Das wissen sie beide.

 

Calypsos eisiges Grinsen wird breiter und lächelnd nickt sie dem Mädchen zu.

1


Ich schlage die Augen auf. Es ist, als würden alle Sinne gleichzeitig zurückkehren und mit solch einer Heftigkeit auf mich nieder­prasseln, dass mir schwindelig wird.

Es ist hell. So hell, dass ich blinzeln muss und mir Tränen in die Augen schießen. Wirbelnde Farben vermischen sich zu einem einzigen Strudel und sind kaum noch voneinander zu unterscheiden. Sie brennen sich in meine Lider und ich schaffe es kaum, einen Namen für sie alle zu finden.

Ein Summen und Piepen in meinen Ohren, das von einem Rauschen abgelöst wird – der Wind? Alle Geräusche sind entsetzlich laut und drücken auf mein Trommelfell, sodass ich das Gefühl habe, es müsse gleich zerreißen. Ein schwerer Geruch steigt mir in die Nase, kitzelt sie. Ich brauche eine Weile, bis ich ihn zuordnen kann … Es muss der Geruch von Erde und Tau sein … Jetzt spüre ich die angenehme Wärme auf der Haut, die von den gleißenden Sonnenstrahlen kommen muss. Sie löst ein leichtes Kribbeln in mir aus, das sich von meinen Fingerspitzen über meine Arme bis in meine Brust ausbreitet. Ich fühle, wie das Herz darin pocht. Rasch. Nervös.

Das Kribbeln wandert auch über meinen Rücken zu meinen Beinen und bis zu den Zehen, bis ich mir meines ganzen Körpers bewusst bin. Diese unglaubliche Fülle an Eindrücken überwältigt mich.

Wieder ein Blinzeln. Panisch huschen meine Blicke hin und her. Über mir breitet sich der Himmel aus, endlos und weit. Wolken sind dort oben verstreut, sie bewegen sich langsam über mich hinweg. Nervös drehe ich den Kopf ein Stück nach links. Grashalme stechen hervor, nehmen alles ein.

Ich spüre, wie mein Atem schneller geht. Das sanfte Kribbeln verschwindet. Angst. Kalte Finger, die nach mir greifen, und eine Gänsehaut, die mich am ganzen Körper überkommt.

Zögernd hebe ich eine Hand und halte sie in mein Blickfeld. Zarte, blasse Haut, fast durchsichtig, und feingliedrige Finger. Ich fasse nach meinen Haaren, wickle eine Strähne auf und betrachte auch sie. Sie ist … weiß. Weiß ist das Wort. Vorsichtig richte ich mich auf und erstarre. Blicke mich unsicher um.

Ich liege auf einer grünen Wiese und um mich herum blühen kleine blaue Blümchen. Sie recken ihre Köpfchen dem Sonnenlicht entgegen, das funkelnde Kreise auf das Gras malt. Rings um mich herum stehen Bäume, dicht zusammengedrängt bieten sie Schutz. Sie sind hoch und mächtig und an ihren Zweigen hängen saftig grüne Blätter. Das Gras unter meinen Händen ist warm und weich und ich fahre stockend darüber.

Es sieht schön aus. Ruhig. Die Geräusche klingen langsam ab, werden leiser, treten in den Hintergrund. Die Farben leuchten nicht mehr dermaßen entsetzlich, sodass ich sie endlich ansehen kann.

Und doch …

Ich habe das Gefühl, ich sollte mich wundern. Die eisige Angst sitzt in meinem Nacken und will nicht lockerlassen. Was will sie? Warum lässt sie mich nicht los?

Dieser Ort … oh. Mir fällt ein, warum ich erschrocken bin. Warum ich es sein muss. Denn ich kenne diesen Ort nicht. Die Farben, das Gras, die Bäume, diese Namen kommen mir in den Sinn. Ich habe sie schon einmal gesehen, nur nicht hier. Hier war ich noch nicht.

Krampfhaft versuche ich mich daran zu erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Ich schließe die Augen, bemerke kaum, wie ich dabei die Finger ins Gras kralle und wie sich mein gesamter Körper anspannt. Wie macht man das? Sich erinnern … Fieberhaft durchforste ich mein Gehirn, ohne etwas zu finden. Alles ist schwarz, tiefe, undurchdringliche Schwärze. Sollte man nicht wissen, was man gemacht hat? Ich weiß es nicht … In meinem Kopf ist keine Erinnerung, kein schwaches Leuchten, ja nicht einmal ein Funken.

Ich reiße die Augen wieder auf und blicke mich erneut um. Bäume, Bäume, Bäume. Nichts sonst. Ein Wald. Warum bin ich hier? Auf wackligen Beinen richte ich mich auf, langsam, unsicher. Sie fühlen sich schrecklich zittrig an, die Knie beben und ich taumle einige hölzerne Schritte vorwärts, wobei meine Muskeln einstimmig protestieren und sich verkrampfen. Meine Beine geben unter mir nach und ich falle zu Boden.

Erschrocken stelle ich fest, dass meine Arme mit rötlichen Striemen versehen sind, die sich hinaufwinden wie das Geflecht einer Kletterpflanze. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, denn ich weiß nicht, woher die Wunden kommen. Erst jetzt fällt mir ein, dass ich deshalb Schmerzen empfinden sollte und da beginnen sie auch zu brennen, die Kratzer. Jedoch nicht lange. Bald kann ich sehen, wie das Blut gerinnt und die Haut sich wieder schließt, bis sie weiß und makellos ist wie zuvor.

Nervös betrachte ich den Rest des Körpers, von dem ich nicht glauben kann, dass es mein eigener ist. Er sieht seltsam aus und ist mir fremd.

Müsste ich mich nicht an diese Beine erinnern, schlank und dennoch kräftig? An die nackten Füße oder die einfache Hose, die ich trage? Soll das tatsächlich zu mir gehören?

Unsicher ziehe ich die Schultern hoch, wodurch ich einen Schatten am Rande meines Bewusstseins wahrnehme. Als ich meinen Kopf ein Stück herumdrehe, erkenne ich zwei riesige dunkle Schwingen, die aus meinem Rücken hervorragen. Gezackt sind sie und laufen am oberen Ende spitz zu, derart scharf, dass ich, als ich mit dem Finger über sie fahre, ein scharfes Brennen verspüre und einen feinen Schnitt in meiner Haut entdecke, der sich schnell schließt wie die anderen Wunden.

Die Flügel sind dunkel und knöchern, ich spüre die feinen Muskeln, die sie durchziehen und die ich auch bewegen kann, so wie ich meine Finger bewege, dennoch hebe ich nicht vom Boden ab, als ich mit ihnen vorsichtig flattere. Die dünne Haut zwischen den Gelenken ist zart und an einer Stelle weit eingerissen, sodass ich erschrocken aufhöre, mit ihnen zu schlagen, aus Angst, die Haut könnte weiter einreißen. Sie fühlen sich seltsam unwirklich an und ich kann nicht glauben, dass sie echt sind. Es kommt mir vor, als wäre ich gerade eben geboren worden, als hätte es nur Dunkelheit gegeben, aus der ich aufgetaucht bin. Als hätte ich sie mit einem Blinzeln vertrieben und in dieses brennende Licht verwandelt. Da war nichts vorher, dessen bin ich mir sicher. Ein dunkler See, aus dem ich entstanden bin.

All das um mich herum … Ich weiß nicht genau, was ich zuerst ansehen, was ich zuerst berühren soll. Die vielen Namen dazu … nur wenn ich etwas genauer ansehe, fallen sie mir ein. Wie ein Wort, das ich zwar kenne, aber von dem ich nicht weiß, was es bedeutet. Ich muss es zuerst zu seinem Gegenstand bringen. Wie ein Puzzle, das auf die richtigen Teile wartet. Es fällt mir schwer, sie zusammenzufügen.

Knack.

Jegliches Denken setzt aus. Mein Körper verkrampft sich, ich wirbele herum und springe auf, angriffsbereit, wachsam. Ein Knurren dringt aus meiner Kehle.

Am Rande der Bäume reckt ein Hase seine zitternde Nase in die Luft und hoppelt auf meine Reaktion hin erschrocken davon. Ich verharre einige Augenblicke in dieser Haltung, jeden einzelnen Muskel angespannt, bereit … bereit wofür?

Angreifen oder weglaufen.

Wieder zucke ich zusammen. Da war diese Stimme in meinem Kopf. Sie spricht zu mir. Nervös sehe ich dem Tier hinterher. Es ist nicht wie ich. Wer bin ich?

Kein Hase, ein … ich bin … Sosehr ich mich auch anstrenge, mir fällt nichts ein. Nur meine Lippe platzt auf, weil ich heftig auf ihr herumbeiße.

Ein wütender Schrei entfährt mir, gellend und laut, und ein Schwarm Vögel flattert aufgeschreckt aus den Bäumen in die Höhe. Es sind so viele, wieso bin ich allein?

Erst jetzt löse ich meine verspannte Haltung. Es geschah alles so plötzlich, der Körper handelte wie von selbst. Der Körper. Mein Körper. Es fühlt sich an, als würde ich haltlos durch diese Ansammlung an Gliedmaßen taumeln. Als wären diese Gedanken aus dem Nichts aufgetaucht und man hätte sie in einen beliebigen Körper gepflanzt. Ich fühle mich ausgestoßen, nicht richtig.

Seufzend vergrabe das Gesicht in den Händen. Ein seltsames Kratzen im Hals lässt mich stocken. Mein Bauch gibt ein merkwürdiges Grummeln von sich. Erschrocken presse ich die Hand darauf, aber es lässt nicht nach.

Hunger. Du hast Hunger und Durst.

Zum Glück weiß ich, was das ist und was ich jetzt tun muss: etwas zu essen suchen und einen Fluss, aus dem ich trinken kann.

Vielleicht fällt mir gleich auch alles andere wieder ein! Da gibt es noch andere Dinge, oder? Mit neuem Mut rappele ich mich auf.

Schnell lässt das Zittern meiner Knie nach. Ja, diese Beine sind außerordentlich flink, sie lassen sich leicht bewegen und es fühlt sich gut an. Und sie sind schnell. Ich beschleunige, versuche sie rascher voreinander zu setzen und dann fährt mir der Wind durch das Gesicht und die Haare, presst die Luft aus meiner Lunge. Ein Stechen taucht in meiner Seite auf, als ich die Beine weiter ansporne, schneller, schneller. Es ist wie ein Rausch. Ich fliege dahin, die Bäume verblassen an meinen Seiten zu einem grünlichen Farbwirbel und der keuchende Atem in meinen Ohren ist alles, was ich hören kann.

Langsam ziehen sich meine Mundwinkel nach oben. Lächeln, ich lächele. Es gefällt mir. Ich fühle mich unglaublich, wie ich über die Wurzeln springe und dahinjage, unaufhaltsam, frei.

Übermütig springe ich einen Abhang hinab, breite die Flügel aus und hoffe, dass ich mich mit ihnen in die Luft schwingen kann, doch der Wind hebt mich nicht empor, sondern lacht mich aus und ich krache hart auf den Waldboden. Sofort sehe ich nach dem Riss im linken Flügel, besorgt, dass ich ihn schlimmer gemacht habe. Lang und breit ist er, er hat beinahe die Hälfte der Haut zerrissen, tiefer ist er offenbar nicht geworden – von selbst heilt er nicht und ich schaffe es kaum, mich weit genug zu verrenken, um ihn zu berühren und zu untersuchen. Frustriert wende ich mich ab und ignoriere die nutzlosen Dinger. Was bringen sie mir denn, wenn ich damit gar nicht durch die Lüfte gleiten kann? So ein Irrsinn!

Ich kann genauso gut laufen!

Kurze Zeit später jedoch weiß ich nicht mehr wohin mit mir. Ziellos irre ich umher, wobei das Kratzen in meiner Kehle unerträglich wird, und ständig greife ich mit der Hand an meinen Hals, in der Hoffnung, die Schmerzen zu lindern.

Trotzdem treibe ich meine Beine dazu an, weiterzugehen. Immer weiter. Irgendwann muss ich etwas finden … Jedes Mal, wenn nur das leiseste Knacken im Unterholz ertönt, kauere ich mich verschreckt hinter einen Baumstamm. Es geschieht ganz von selbst. Es fühlt sich richtig an, sicher. Unruhig schleiche ich weiter, geduckt und aufmerksam. Bald schon bin ich froh über die Geräusche, denn dann kann ich wenigstens für einen Moment innehalten. Die Erde unter meinen Füßen bewegt sich, alles verschwimmt irgendwie, der ganze Wald zittert vor meinen Augen und ich kann ihn nur schemenhaft wie durch einen Schleier aus Nebel wahrnehmen.

Als ich schon das Gefühl habe, vor Schmerzen umzukommen, vernehme ich endlich ein leises Plätschern. Nur noch von reiner Willens­kraft angetrieben, schleppe ich mich vorwärts, bis ich das kühle Flussbett erreiche, wo ich erleichtert auf die Knie sinke und zum Rand krieche. Gierig strecke ich die Hände in das klare Wasser und spüre die Energie, die dadurch strömt. Es rinnt mir beinahe zwischen den Fingern hindurch, als ich etwas unbeholfen davon schöpfe und in großen Schlucken trinke. Schon bald lässt der Schmerz nach und ich seufze erleichtert. Wenngleich das Kratzen langsam verschwindet, fühlt sich mein Hals weiterhin rau an. Ich fühle mich nicht … gesättigt.

Als ich erneut die Finger in den Fluss tauche, starrt mich ein seltsames Gesicht an.

Verschreckt zucke ich zurück und ein Knurren dringt aus meiner Kehle. Panisch lege ich die Hand an den Hals und versuche, mich zu beruhigen. Dennoch muss ich schwer schlucken, bevor ich mich langsam wieder vorbeuge. Unsicher sehe ich mir das Gesicht genauer an. Mein Gesicht.

Ich strecke die Hand aus und berühre den ruhigen Wasserspiegel. Das Bild verschwimmt. Feine Ringe breiten sich von dem Punkt aus, wo ich es berührt habe, und das Gesicht zerfließt, um kurz darauf wiederaufzutauchen.

Zögernd betaste ich die makellose, fast schon farblose Haut, die mich umgibt, betrachte die aufgesprungenen dunkelroten Lippen, die geschwungenen Augenbrauen und die kantigen Kieferknochen. Doch all diese Dinge sind eigentlich nur nebensächlich. Trotzdem versuche ich krampfhaft meinen Blick auf sie zu lenken, um nicht auf das andere zu achten, was mir noch in meinem Gesicht auffällt.

 

Die Augen.

Groß und von solch einem kräftigen tiefvioletten Ton, dass es mir Angst macht, wenn ich sie ansehe. Wie kann man sich vor seinen eigenen Augen fürchten? Auch wenn ich mich an nichts erinnern kann, habe ich das Gefühl, dass diese Augen alles andere als gewöhnlich sind.

Ich wende den Blick ab und betrachte den restlichen Körper ein wenig genauer: Die Haut ist bleich, fast weiß, zumindest dort, wo sie nicht von Erde und Gras verdreckt ist. Nur unter dem Schulterblatt zeichnet sich eine dünne silbrige Linie ab, die nicht so recht dazugehören will. Sie schimmert blass, kaum zu erkennen, und in merk­würdigen verschnörkelten Symbolen, die mir rein gar nichts sagen.

Frustriert wende ich mich von dem Fluss und mir selbst ab. All das erinnert mich nur daran, dass ich mich an sonst nichts erinnere. Ein schmerzhaftes Ziehen in meinem Bauch lässt mich aufjaulen.

Hunger! Such dir etwas zu essen!

Noch eine dieser merkwürdigen Anweisungen, die ich nicht ganz verstehe, die ich jedoch befolge, weil sie mir offenbar das Leben retten. Zumindest weiß diese Stimme besser als ich, was in mir vorgeht und was ich zu tun habe. Außerdem klingt sie so gebieterisch, dass ich gar nicht anders kann, als mich aufzurichten und mich den Bäumen auf der anderen Seite zuzuwenden.

Dann blicke ich wieder zurück, dorthin, wo ich hergekommen bin. Soll ich dahin zurück? Warum? Mit einem Mal fühle ich mich schrecklich hilflos und verlassen, weil ich überhaupt nicht weiß, was ich eigentlich tun soll.

Hunger!

Erleichtert über die Stimme in meinem Kopf verdränge ich diese Gedanken. Sie gibt mir einen Auftrag, etwas, was ich tun kann, anstatt zu grübeln. Nur, was kann ich essen? Auch diesmal rettet mich der Instinkt.

Such dir Kräuter und Wurzeln im Boden.

Erleichtert grabe ich mit den Händen im schlammigen Untergrund des Flussufers und befördere kleine Wurzeln von Wasser­pflanzen zutage. Sie sind braun und knorrig, aber ich beschließe, mich darum nicht zu sorgen und mich gänzlich auf die Anweisungen zu verlassen. Zögernd betrachte ich sie und stecke mir dann mit zusammengekniffenen Augen blitzschnell eine in den Mund. Mit der Zunge fahre ich darüber. Schmeckt … nicht schlecht. Schon nach wenigen Bissen fühle ich mich viel besser, der dumpfe Schmerz lässt nach. Doch da ist noch immer ein gewisses Verlangen in mir, wie ich unzufrieden feststelle. Ein Teil meines Verstandes sagt mir, dass das genug gewesen ist, um den Hunger und den Durst zu stillen. Ein anderer Teil möchte mehr. Keine Wurzeln, kein Wasser. Ich weiß nicht was, nur dass ich nicht vollends gesättigt bin. Wütend schlage ich mit der Faust auf das Wasser und es spritzt zu allen Seiten auf, sodass ich einen Satz zurück mache. Es macht mich alles so zornig! Jeder Gedanke fühlt sich schwerfällig und träge an, als wäre er fast fertig geformt, doch dann fehlt ein letztes Wort, ein letztes Teil, um ihn zu vervollständigen und gänzlich zu denken.

Was nun? Die Sonne, inzwischen ein leuchtend roter Ball, taucht alles in ein unwirkliches oranges Licht, bevor sie langsam hinter den hohen Baumkronen verschwindet. Es wird kühler und ich schlinge fröstelnd die Arme um meinen Körper, um die Wärme zu speichern. Ruhelos huscht mein Blick hin und her.

Such dir einen Schlafplatz, er muss sicher sein.

Nachdenklich betrachte ich die leichte Strömung und überlege, ob ich den Fluss durchqueren soll. Andererseits muss er wohl recht tief sein und ich bin mir nicht sicher, ob ich schwimmen kann. Beim Anblick des plätschernden Wassers, das über die kleinen Felsen hüpft, fühle ich mich irgendwie unwohl …

Um eine andere Lösung bemüht, entdecke ich mehrere flache Felsen, an denen sich das Wasser bricht und schäumend weiterrauscht. Ermutigt laufe ich zu der Stelle und beginne, flink von Fels zu Fels zu hüpfen. Es ist viel einfacher, als ich dachte, mein Körper bewegt sich mit einer wunderbaren Leichtigkeit und schnell habe ich das andere Ufer erreicht, wo ich mich für einen hohen Baum entscheide. Ohne weiter darüber nachzudenken, strecke ich die Hände nach den unteren Ästen aus. Flink klettere ich an ihnen empor und mache es mir auf einem der oberen Äste bequem. Aus einem unbestimmten Grund weiß ich, dass ich im Schlaf nicht herunterfallen werde. Mit einem tiefen Seufzer strecke ich mich aus, aber meine Muskeln wollen sich einfach nicht entspannen, meine Sinne sind auf höchste Alarm­bereitschaft gestellt und ich finde keine Ruhe. Warum kann ich mich an nichts erinnern? Warum bin ich hier? Fragen über Fragen und die allergrößte: Was soll ich nur machen? Warten? Worauf?! Ich fühle mich schrecklich allein, wie das einzige Wesen hier zwischen den hohen Wipfeln, so …

Einsam, informiert mich mein Gehirn über das ungewohnte Gefühl. Einsam. Einsam, einsam, einsam. Ich denke es so lange, bis das Wort seine Bedeutung verliert und nur noch eine seltsame Aneinanderreihung von Buchstaben ist, die keinen Sinn ergeben. Traurig schlinge ich die Arme um mich und schließe die Augen.

Vielleicht ist das alles nur ein unwirklicher Traum, vielleicht muss ich mich nur wieder in diese dunkle Schwärze fallen lassen, und wenn ich die Augen aufschlage, bin ich wieder an einem völlig anderen Ort und weiß alles wieder.

Ich versuche, das unangenehme Gefühl in mir drin zu ignorieren, das Verlangen nach etwas anderem, was ich noch nicht gefunden habe. Stattdessen bemühe ich mich, in den Schlaf hinüberzugleiten, wenngleich meine Sinne kaum zur Ruhe kommen, meine Ohren nehmen jedes noch so kleine Geräusch wahr und die Gerüche der Nacht kitzeln meine Nase.

Warum?