Read the book: «Das Blutsiegel von Isfadah», page 2

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Finea

Im Tempel der Blutwächterinnen machte sich Schwester Finea auf den Weg zum abendlichen Kontrollgang. An jedem Tag, vor dem Zubettgehen, begab sich eine der autorisierten Wächterinnen zum Brunnen, um das Blutsiegel und die ihm unterstellten Proben zu begutachten. Heute war sie an der Reihe. Besonders in Zeiten, da ein Mitglied der Königsfamilie abwesend war, gewann jenes Ritual an Wichtigkeit. Finea hatte voller Stolz diese Aufgabe übernommen, denn es war eine der höchsten Ehren, die einer Dienerin dieses Tempels erteilt werden konnte. Es war schon tief in der Nacht, da sie sich nicht hatte von ihren Lehrbüchern losreißen können.

Im Alter von sechzehn Jahren war sie dem Orden beigetreten, so wie sie es sich schon seit frühester Kindheit wünschte. Ihre Familie hatte sie voller Stolz zu der festlichen Weihfeier begleitet. Damals entsagte Finea dem weltlichen Leben. Sie würde nie einen Mann ehelichen oder Kinder gebären dürfen. Doch darauf hatte sie gern verzichtet, denn ihr ganzes Streben galt der Wissenschaft.

Sie war eine Frau und stammte aus armen Verhältnissen, was eine umfassendere Bildung als Lesen, Schreiben und Rechnen, in einfachster Form, unmöglich machte. Hier im Tempel bekam sie Antworten auf ihre Fragen. Sie erhielt eine umfangreiche Ausbildung in Heilkunde, Astronomie, Astrologie, Philosophie und Geschichte. Auch Teile der weißen Magie wurden gelehrt. Obendrein konnte sie stets die riesige Bibliothek des Tempels nutzen. Finea lebte nun schon fast fünf Jahre hier. Die Großpriesterin war mehr als zufrieden mit der jungen Frau und hatte erst kürzlich zu verstehen gegeben, dass Finea in der engeren Wahl stünde, wenn es um ihre Nachfolge ging. Dies würde hoffentlich noch lange nicht zur Diskussion stehen, doch als 'Rechte Hand' von Sina würde sie ihr Wissen nur umso schneller vermehren können.

Endlich hatte sie die Felswand mit der geheimen Pforte erreicht. Vorsichtig zog sie den kostbaren Dolch aus ihrem Gewand, versetzte sich routiniert einen Schnitt und legte die Hand gegen das Gestein. Als sich der Durchgang geöffnet hatte, trat Finea ein und begab sich zum Brunnen. Nacheinander nahm sie die Fläschchen in die Hand und überprüfte den Inhalt eines jeden. Es war nichts Auffälliges zu erkennen, bis die Probe von König Ammon an der Reihe war. Der Inhalt zeigte eine tief dunkle Färbung. Fast wäre ihr das Gefäß aus der Hand geglitten. Zitternd und den Tränen nahe, stellte sie es zurück und lief, so schnell sie ihre Beine trugen, zu den Räumlichkeiten der Großpriesterin.

Mutter Sina hatte gerade ihre abendliche Toilette beendet und war dabei, ihr Nachtgewand anzulegen, als es heftig gegen ihre Tür klopfte.

„Wer ist da?“, fragte sie ein wenig gereizt, wegen der späten Störung.

„Ich bin es! Macht auf - bitte! Es ist etwas Furchtbares geschehen!“, rief Finea von draußen und rüttelte an der Tür.

Die Großpriesterin wusste, dass ihr Zögling nicht derart die Fassung verlor, wenn es sich nicht um eine sehr ernste Angelegenheit handeln würde. Eilig schob sie den Riegel zurück und ließ die junge Frau eintreten. Deren schönes Gesicht war kreideweiß und Strähnen ihres welligen dunkelroten Haares klebten an der schweißnassen Stirn. Sie war außer Atem vom schnellen Laufen und die großen grünen Augen ertranken in Tränen.

„Was hast du, Finea?“, stieß die Großpriesterin geschockt hervor und versuchte, ihre böse Vorahnung zu verdrängen.

„Die Probe des Königs ... sie ist dunkel! Fast schwarz ...!“

Nun wurde auch das Antlitz der Großpriesterin fahl. Wenn das stimmte, und an Fineas Worten hegte sie keinen Zweifel, dann war König Ammon tot!

Arko

Grob wurde Arko von seinem Lager gezerrt. Er hatte große Probleme damit, seine Umgebung wahrzunehmen und auf den Füßen zu bleiben. Sein Kopf dröhnte und drohte zu zerbersten. Die Stimmen um ihn herum drangen wie aus weiter Ferne zu ihm durch. Langsam sackte er wieder zusammen.

Was redeten sie da? Hatte ihn gerade jemand einen feigen Mörder genannt?

Er musste sich verhört haben ...

Doch - da war es wieder! Mörder!

Er hatte sich doch nicht verhört.

Jemand goss ihm den kalten Inhalt seiner Waschschüssel über den Kopf und zwang ihn auf die Beine. Langsam kehrten seine Sinne zurück. Verdammt, sie hatten gestern ausgiebig gezecht, aber keinesfalls so, dass er in diesen Zustand geraten konnte! Was war hier los?

Als er seine Umgebung endlich klar erkennen konnte, sah er in bekannte Gesichter. Aber sie alle hatten einen eindeutig alarmierenden Ausdruck. Er sah Abscheu, Wut und Hass in ihnen. Das Freundlichste, was er wahrnahm, war vielleicht noch Enttäuschung und Unglaube.

„Was ist los, verdammt nochmal?“, fuhr er die Männer an und setzte sich auf. „Seid ihr noch bei Sinnen? Habt ihr vergessen, wen ihr vor euch habt?“

Ein Offizier der Königsgarde, mit dem er noch vor ein paar Tagen fröhlich bei einem Würfelspiel zusammengesessen und geplaudert hatte, trat vor. Er griff nach Arkos Hemd, das achtlos auf dem Boden lag, und sagte in bedrohlichem Tonfall: „Bis gestern dachten wir, wir hätten einen Ehrenmann vor uns, doch nun deutet alles darauf hin, dass Ihr ein feiger Mörder seid.“ Er warf ihm das Hemd zu. „Zieht das hier über und folgt mir ohne Widerstand!“

Arko verstand die Welt nicht mehr. Mit zusammengezogenen Brauen erhob er sich von seinem Lager und kleidete sich an. Zu seiner Verwunderung entdeckte er mehrere kleinere Blutflecke am Ärmel und am Vorderteil des Hemdes, konnte sich jedoch keinen Reim darauf machen, wie sie dort hingekommen waren.

„Was in Gottes Namen geht hier vor? Und was faselt ihr da von Mord? Wer ist ermordet worden?“

Nun trat der Offizier vor, und während er Arko die Hände mit einem Seil auf dem Rücken fesselte, sagte er: „Arko von Thura, ich beschuldige Euch, unseren König Ammon den Dritten und seinen Bruder Prinz Farid mit einem Messer angegriffen zu haben, um sie zu ermorden. Für unseren König kam leider jede Hilfe zu spät und Prinz Farid überlebte nur durch ein Wunder.“

Als Arko endlich verstand, was der Mann ihm da gerade eröffnet hatte, zogen sich seine Eingeweide zu einem kalten Klumpen zusammen.

„Was sagt Ihr da? Ammon ist – tot?“ Er wollte nicht glauben, dass sein Vetter, König und bester Freund, nicht mehr am Leben sein sollte.

Ermordet? Wer konnte so etwas ...? Moment, was hatte der Irre da behauptet?

„Ihr glaubt, ich hätte das getan? Wie um alles in der Welt kommt ihr auf diesen kranken Schwachsinn?“

Er sah sich unter den Anwesenden um und folgte deren Blicken. Das Blut! Wo zum Teufel kam dieses Blut auf seinem Hemd her? Der Verzweiflung nahe schüttelte er den Kopf und sah jedem Einzelnen in die Augen.

„Ich habe nichts damit zu tun! Nie würde ich Ammon etwas zuleide tun, das schwöre ich, bei meinem Leben! Genauso wenig wie Farid. Er wird euch das sicher bestätigen.“

Die Männer, welche ihm bisher immer mit Achtung begegnet waren, senkten zum Teil den Blick oder sahen ihn anklagend an.

Der Offizier trat dicht an ihn heran und zog die Stirn in Falten. „Prinz Farid schwebt noch in Lebensgefahr, aber er war kurz ansprechbar. Er hat eindeutig Euren Namen genannt, als wir ihn nach dem Täter fragten.“

Arko schöpfte dennoch Hoffnung. „Vielleicht hat er nur im Delirium geredet. Hat er viel Blut verloren? Dann kommt so etwas doch vor, oder? Es ging beiden gut, als ich gestern das Zelt verließ! Die Wachleute haben mich doch gehen sehen.“

„Dann bliebe immer noch die Frage, woher das Blut auf Eurem Hemd stammt“, erwiderte der Offizier emotionslos. „Solange Prinz Farid bewusstlos und die Sache nicht geklärt ist, werdet Ihr in Gewahrsam genommen!“ Damit gab er den Soldaten ein Zeichen und sie führten den verzweifelten Arko ab.

Er musste kurz eingenickt sein, denn inzwischen war die Dämmerung einem tiefen Schwarz gewichen. Arko hatte zunächst große Mühe damit, die Umrisse seines provisorischen Gefängnisses und die davor postierten Wachen zu erkennen. Man hatte aus Mangel an Alternativen einen Käfig aus dicken Ästen und derben Seilen gebaut. Er bot seinem Insassen gerade so viel Platz, dass dieser mit angezogenen Beinen sitzen oder zusammengerollt wie ein ungeborenes Kind darin liegen konnte. Jeder Knochen und jeder Muskel in seinem Körper schmerzten, doch das Schlimmste waren die seelischen Qualen, die ihm die Eingeweide zu verbrennen drohten. Scheinbar glaubte niemand hier im Lager an seine Unschuld und er konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Alle Indizien sprachen gegen ihn, so dass er selbst langsam ins Zweifeln kam, ob er noch alle Sinne beieinander hatte. Immer wieder ging er im Geiste die Ereignisse der letzten Nacht durch. Ammon, Farid und er hatten den Durchbruch bei den Verhandlungen gefeiert und ein paar Becher Wein getrunken. Weit entfernt davon betrunken zu sein, jedoch extrem müde, hatte Arko sich schließlich verabschiedet und war in sein Zelt gegangen. Davor hatte er noch ein paar scherzhafte Worte mit den Wachen gewechselt, die vor der Unterkunft des Königs postiert waren. Er hatte ihnen zur Feier des Tages, und mit Ammons Einverständnis, etwas Wein angeboten, den sie auch dankbar annahmen. Diese Männer hatten bestätigt, ihn gesehen zu haben, konnten sich aber nicht daran erinnern, ob sich Blutflecke auf seiner Kleidung befanden. Doch es war zu diesem Zeitpunkt stockdunkel gewesen. Bis auf die kleinen Lagerfeuer zwischen den Zelten gab es keine nennenswerten Lichtquellen. Darum maß man diesem Umstand keinerlei Bedeutung bei.

Zu der Sorge um seine eigene Situation kam die tiefe Trauer um seinen Vetter und besten Freund. Alles schien vor einem Tag noch so hoffnungsvoll. Sie wollten bald nach Isfadah zurückkehren und den Menschen die Lösung des jahrzehntelangen Problems präsentieren. Ismee sollte ihr Kind zur Welt bringen, ohne fürchten zu müssen, dass ihr Gemahl in einen sinnlosen Krieg ziehen muss. Ammon war so voller Freude und frei von Sorge ...

Und nun, keine vierundzwanzig Stunden später, war alles einem grauenhaften Albtraum gewichen. Was zum Teufel war hier geschehen? Unter normalen Umständen wäre er überzeugt davon gewesen, dass Farid ihn bald hier herausholen würde. Jedoch nach allem, was Arko gehört hatte, war dieser selbst sehr schwer verletzt und schwebte in Bewusstlosigkeit. Dass Farid seinen Namen genannt hatte, war mit Sicherheit seinem Zustand zuzuschreiben. Daran bestand für Arko kein Zweifel. Wenn er jedoch auch noch starb, hatte er niemanden mehr, der ihm helfen konnte.

Vor seinem geistigen Auge tauchte das schöne Antlitz Ismees auf. Oh Gott! Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie sie das alles aufnehmen musste. Und er selbst könnte ihr keine Hilfe sein, denn auch sie würde in ihm unweigerlich den Mann sehen, der ihr den Gemahl und ihrem ungeborenem Kind den Vater genommen hatte. Wieder schnitt sich die Verzweiflung tief in seine Eingeweide. Zur Kälte in seinem Inneren kam die Kälte dieser sternenklaren Nacht und er rollte sich zitternd zusammen.

„Frierst du?“, fragte einer der Wachleute mit gespieltem Mitleid. Arko ignorierte ihn, in der Hoffnung, dass das Interesse des Mannes so am schnellsten wieder nachlassen würde. Doch weit gefehlt ... „Ich habe dich was gefragt, du Mördersau!“, schrie dieser nun.

„Wie oft noch? Ich bin kein Mörder“, stieß Arko zwischen zusammengepressten Kiefern hervor.

„Sieh an, die Mördersau spricht zu uns“, rief der Wachmann jetzt seinen Kameraden zu. „Oh entschuldige, du bist ja unschuldig!“, sagte er nun wieder mit drohendem Unterton zu Arko. „Vielleicht sollten wir dir das Leben etwas leichter machen und dir ein heißes Bad bereiten.“

Betont langsam ging er zu einer der Feuerstellen in der Nähe und schöpfte mit einem Krug heißes Wasser aus dem Topf, der dort schon eine ganze Weile zum Kochen hing und deutliche Dampfschwaden absonderte. Dann schlenderte er zurück zum Käfig und grinste widerlich. „Das sollte dich etwas aufwärmen“, sagte er, bevor er Arko den heißen Inhalt des Kruges über den Leib schüttete.

Der schrie auf, als ihm die Flüssigkeit die Haut verbrühte.

„Na, schon wärmer?“, fragte sein Peiniger grinsend. Dann spuckte er Arko ins Gesicht und wandte sich unter den größtenteils zustimmenden Kommentaren der Umstehenden ab.

Zu dem Schmerz, den Arkos geschundene Haut fühlte, kam wenig später die Kälte. Nachdem die Hitze aus seiner nassen Kleidung gewichen war, fror er nun wie ein junger Hund.

Er wachte auf und saß unversehrt und wohlauf in seinem Feldbett. Gott sei Dank, es war alles nur ein übler Traum gewesen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und nur langsam kam sein Puls zur Ruhe. Unfassbar, was ihm sein Kopf da für ein Horrorszenario vorgetäuscht hatte …

Er wollte sich gerade erheben, als Ammon sein Zelt betrat.

„Großer Gott“, begrüßte Arko den Freund erleichtert, „du hast keine Ahnung, was ich für eine beschissene Nacht hinter mir habe.“

Doch als Ammon ihn anlächelte und etwas erwidern wollte, quoll ein dicker Schwall Blut aus seinem Mund.

Wieder schreckte Arko aus dem Schlaf, wurde diesmal jedoch von der grausamen Realität eingeholt. Durch die Gitterstäbe seines Käfigs hindurch sah er die aufgehende Sonne.

Isfadah

Auch in Isfadah waren zwei entsetzte und ratlos dreinblickende Augenpaare auf die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne gerichtet. Sowohl Sina als auch Finea sahen dem anbrechenden Morgen mit Sorge entgegen. Es war ihre Aufgabe, der Königin die grauenvolle Nachricht zu überbringen. Doch sie waren sich unschlüssig, wie sie vorgehen sollten. Die vorgeschriebene Verfahrensweise besagte, dass die Wächterinnen jede Abweichung von der Normalität der Proben unverzüglich im Schloss melden mussten. Es gab so viele Faktoren, die das eh so Grauenvolle noch verschlimmerten. In Zeiten des Krieges rechnete jeder mit dem Schlimmsten. Doch Ammon war jung, gesund und im Frieden abgereist. Niemand hatte auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass er nicht wieder zurückkehren könnte. Und - Ismee war schwanger! Wie würde sie es in ihrem Zustand aufnehmen? Würde sie am Ende ihr Kind verlieren? Das musste verhindert werden! Dieses Kind könnte der nächste König sein, vorausgesetzt es wäre ein Knabe.

Jedoch … in einigen Tagen sollten die Männer heimkehren. Wenn Ismee bis dahin nicht Bescheid wüsste und ihrem vermeintlich heimkehrenden Gemahl voller Freude entgegeneilte ... Das durfte auf keinen Fall geschehen!

Sina atmete tief ein. „Bereite dich vor!“, sagte sie entschlossen zu Finea. „Wir werden in einer Stunde aufbrechen und es ihr so schonend wie möglich beibringen … sofern das überhaupt möglich ist.“

„Aber ihr Zustand!“, wandte Finea ein.

„Ihre Schwangerschaft ist schon weit fortgeschritten. Sollte das Schlimmste eintreten, hat das Kind gute Chancen zu überleben. Du wirst bei ihr bleiben, bis alles überstanden ist. Egal wie lange es dauert“, wies sie Finea in einem Ton an, der keinen Widerspruch duldete.

„Wie Ihr wünscht, Großpriesterin“, antwortete diese voller Demut. „Ich werde sofort das Nötigste zusammenpacken. Habe ich freie Hand, alles an Heilmitteln mitzunehmen, das in diesem Fall vonnöten sein könnte?“

„Natürlich!“, antwortete Sina mit einem zufriedenen Lächeln und sah der davoneilenden jungen Frau voller Zuneigung hinterher. Finea war für sie so etwas wie die Tochter geworden, die sie, aufgrund ihrer Entscheidung für ein Leben im Tempel, nie haben würde. Ungeahnte Fähigkeiten steckten in dem schönen, liebenswerten Geschöpf. Geistige ebenso wie spirituelle. Finea hatte in relativ kurzer Zeit so viel gelernt wie keine andere, seit Sina hier lebte. Und keine andere würde sich für ihre Nachfolge besser eignen. Alle Wächterinnen liebten und respektierten die junge Frau schon jetzt. Die Götter hatten etwas Besonderes mit ihr vor, davon war Sina überzeugt. Und wo könnte sie ihrer Bestimmung besser folgen als hier, an diesem magischen Ort?

Heute mussten sie sich gemeinsam einer großen Herausforderung stellen. Voller Trauer und Mitleid zog sich Sinas Magen zusammen und das Herz wurde ihr schwer. Noch zu gut konnte sie sich an die glücklichen Gesichter des liebenden Paares erinnern, als feststand, dass ihrer Heirat nichts mehr im Wege stand. Und nun, nur wenige Jahre später, musste sie diesem Glück ein Ende bereiten. Unfassbar! Doch sie konnte es sich nicht aussuchen. Es war ihre Pflicht und sie dankte den Göttern, dass sie damit nicht allein war, sondern jemanden wie Finea an ihrer Seite hatte.

Ein paar Stunden später erreichten sie ihr Ziel. Mit ernsten Gesichtern und Herzklopfen bis zum Hals verlangten die beiden Wächterinnen von den wachhabenden Soldaten, sie zu melden.

„Wir müssen mit Ihrer Majestät der Königin sprechen. Sofort!“

Die Männer musterten die beiden Frauen zunächst skeptisch. Nach kurzem Zögern bat man sie, am Tor zu warten. Eine quälende viertel Stunde später passierten die Wächterinnen das Schlossportal. Jeder Schritt, der sie näher zu den Empfangsräumen der Königin brachte, steigerte ihr Unwohlsein ins Unermessliche.

Sina fing sich als Erste wieder. „Wir müssen uns zusammenreißen! Wir müssen stark sein für Ismee. Wenn wir sie jetzt nicht stützen, dann endet alles in einer noch größeren Katastrophe.“

Sina war es auch gewesen, die einst die Nachricht vom Tode König Tibons überbringen musste. Damals befand sich nur Farid als nächster Verwandter im Schloss. Er war gerade sechzehn geworden und darum noch zu jung für den Feldzug, während Ammon schon an der Seite seines Vaters kämpfte. Er hatte trotz seiner Jugend große Stärke gezeigt und die Nachricht gefasst und sehr tapfer aufgenommen.

Einer schwangeren Frau hingegen sagen zu müssen, dass ihr Gemahl nicht mehr am Leben ist, dürfte eine andere Reaktion hervorrufen ...

Als sich die schwere Eichentür öffnete, nickten sie sich noch einmal aufmunternd zu und atmeten tief ein.

Ismee, durch die Schwangerschaft schöner als je zuvor, kam ihnen lächelnd ein paar Schritte entgegen. „Welche Freude Euch zu sehen, edle Wächterinnen. Was verschafft mir die Ehre Eures Besuches? Falls Ihr Euch nach dem Befinden des Kindes erkundigen wollt, kann ich nur Gutes berichten.“ Sie strich sich liebevoll über die ausladende Wölbung ihres Leibes.

Sinas Herz zog sich erneut zusammen. „Das freut uns zu hören, Majestät. Jedoch sind wir leider aus einem anderen Grund hier.“

Sie machte eine Pause und betrachtete das Mienenspiel der Königin. Zuerst versiegte ihr Lächeln, dann zog sie fragend die Augenbrauen hoch, um sie schließlich sorgenvoll zusammenzuziehen. Ihre klaren blauen Augen blickten zwischen ihnen hin und her. Mit ahnungsvoller ängstlicher Stimme fragte sie: „Ist etwas mit Ammon? Ist er krank?“

Als die Wächterinnen nicht antworteten, sondern Sina nur langsam begann den Kopf zu schütteln, brach Ismee ohnmächtig zusammen.

Ein paar Stunden später saß Finea neben der schlafenden Königin an deren Bettstatt. Die dramatischen Szenen, die sich in den letzten Stunden abgespielt hatten, liefen unentwegt vor ihrem geistigen Auge ab und ließen sie nicht zur Ruhe kommen.

Nach Ismees Zusammenbruch hatten sie sofort um Hilfe gerufen. Zusammen mit zwei Dienern hatten sie die Bewusstlose in ihr Schlafgemach gebracht und sie so bequem wie möglich gebettet. Dann war Ismee zu sich gekommen. Sobald sie die beiden Wächterinnen wahrnahm und ihr klar wurde, dass dies kein Albtraum, sondern bittere Wahrheit war, hatte sie zu weinen und zu schreien begonnen. Finea zog sich noch jetzt das Herz zusammen, als sie nur daran dachte. Sie hatten die Hilfe der Diener in Anspruch nehmen müssen, um die vor Trauer wild um sich schlagende Frau zur Ruhe zu zwingen und ihr einen Schlaftrank einzuflößen.

Nachdem dieser endlich Wirkung zeigte, schickten sie die verstörten Diener hinaus und machten sich daran, die Schwangere zu untersuchen. Zu ihrer Erleichterung schien es dem Kind noch gutzugehen. Doch das war kein Grund zur Entwarnung. Oftmals führten solch traumatische Ereignisse auch noch später zu vorzeitigen Wehen.

Nachdem alles zur Ruhe gekommen war, brach Sina auf, um ihren Pflichten im Tempel nachzukommen.

Man hatte Finea ein einfaches Lager neben dem Bett der Königin errichtet. Unruhig ließ sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Der Mittelpunkt des schlichten und trotzdem sehr edlen Raumes war das große Himmelbett. Zarte Vorhänge hingen links und rechts von einem kunstvoll geschnitzten Baldachin herab. Große Fenster und Türen gaben den Weg nach draußen auf den Balkon frei. An den Wänden hingen Spiegel und einige Landschaftsbilder. Eine Sitzgruppe und ein Frisiertisch rundeten die weibliche Seite des Ganzen ab. Man erkannte eindeutig Ismees Handschrift.

Sorgenvoll wanderte Fineas Blick zurück zum Gesicht der jungen Witwe. Sie schlief noch fest, jedoch zog sich immer wieder ihre Stirn in Falten. Ein Zeichen dafür, dass sich ihr Unterbewusstsein mit der Tragödie auseinandersetzte. Eigentlich hätte Finea die Zeit nutzen müssen, um selbst etwas zu schlafen, doch sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, wenn sie sich jetzt hinlegte. Sie war noch viel zu aufgeregt, um an Schlaf auch nur zu denken. Wenn Finea ehrlich war, hatte sie auch Angst vor dem, was geschehen würde, sobald Ismee wieder erwachte. Dann wäre sie ganz allein deren Verzweiflung und Trauer ausgesetzt. Auch wenn sie sich geehrt fühlte, wegen des Vertrauens, das ihr die Großpriesterin entgegenbrachte, konnte sie sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich sehnlichst wünschte, Sina wäre noch hier.

Die Königin regte sich und ein leises Stöhnen kam über ihre spröden Lippen. Dann schlug sie die schönen blauen Augen auf und blickte Finea voller Kummer an.

Diese griff instinktiv nach ihrer Hand und versuchte sich an einem aufbauenden Lächeln.

„Mein Kind ...?“, fragte Ismee leise und Tränen rannen ihr aus den Augenwinkeln.

„Es geht ihm gut, meine Königin, doch Ihr müsst Euch ausruhen, damit dies so bleibt“, antwortete Finea und streichelte die zarte kalte Hand, die sie hielt.

Ismee nickte und ein tiefes Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Einen Moment lang schwiegen sie. Dann, mit einem leisen Anflug von Hoffnung in der Stimme, fragte die Königin: „Kann es nicht sein, dass das Blutsiegel sich getäuscht hat? Ich meine, es wird doch schon einmal vorgekommen sein, oder?“ Flehend brannte sich ihr Blick in den Fineas. Schweren Herzens schüttelte diese den Kopf. „Noch nie, Majestät. Leider ... .“

Ismee presste die Lippen zusammen und nickte stockend. Dann wandte sie ihr Gesicht ab und weinte lautlos in die Kissen. Finea ließ sie in Ruhe, hielt jedoch weiterhin ihre Hand.

Am nächsten Morgen erwachte sie von einem Sonnenstrahl, der ihr direkt ins Gesicht schien. Sie saß noch immer am Bett der Königin und war, vornübergebeugt, an deren Seite eingeschlafen. Als sie sich aufrichtete, brauchte es eine Weile, eh ihr die steifen Glieder wieder vollkommen zu Willen waren. Eilig goss sie Wasser in eine Waschschüssel und machte sich frisch. Dann verließ sie kurz das Zimmer, um neue Waschutensilien zu holen und ein leichtes Frühstück zu ordern.

Als sie zurückkehrte, war Ismee gerade dabei aufzuwachen. Vorsichtig trat Finea an sie heran. „Wie fühlt Ihr Euch, Hoheit?“, fragte sie leise.

Dieser stiegen sofort wieder die Tränen in die Augen, was Antwort genug war.

„Wenn das Kind nicht wäre, dann würde mich hier nichts mehr halten“, flüsterte sie etwas später.

„Aber das Kind ist nun mal in Euch, Hoheit! Und es lebt. Ihr müsst stark sein und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um euch dabei zu helfen“, versprach Finea mit fester Stimme.

Ein trauriges Lächeln umspielte für einen kurzen Moment die Lippen der Trauernden. „Ich danke Euch!“

Willenlos ließ sie sich waschen. Währenddessen brachte eine dralle Magd das Frühstück herein. Besorgt schaute sie zu ihrer Gebieterin hinüber und verließ leise wieder den Raum. Leider konnte Finea Ismee zu nicht mehr als drei Löffeln Haferbrei überreden. Selbst die Mahnung: „Denkt an Euer Kind!“, half nicht wirklich weiter.

So verbrachte sie auch die nächsten beiden Tage und alles schien, den Umständen entsprechend, gut zu verlaufen … bis sie in der dritten Nacht von Ismees Schreien geweckt wurde. Nachdem sie die Schwangere kurz untersucht hatte, ließ sie eilig nach Sina schicken. Die Situation war sehr ernst.