Mathilde

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Table of Contents

Erstes Buch 1

Im Gemeindehaus

2

Der erste Brief nach Haus

3

Fabrikmänner

4

Wie Saleck sich nähert

5

Wie Skrupel erwachen

6

Mathildes heimliches Zögern

7

Saleck und Simoneit messen sich

8

Mathilde geht nun offen mit ihm

9

Mathildes Abschied von den Böhmischen

Zweites Buch 10

Sie wohnt bei frommen Alten

11

Das Weihnachtsfest

12

Wie sie sich Mutter fühlt

13

Salecks Krankheit

14

Mathilde sieht einen aus der Heimat

15

Wie Mathilde zum zweiten Male dem aus der Heimat begegnet

16

Heimliche Unruhe

17

Salecks Nöte

18

Unteroffiziers-Ball

19

Saleck irrt umher

Drittes Buch 20

Der alte Hallmann war ein Riese

21

Mathilde fährt Ernst auf Urlaub nach

22

Wie nun Mathilde heimlicher Kummer nagt

23

Mathilde ist zum zweiten Male Mutter

24

Der alte Hallmann kommt dahinter

25

Mathilde wartet auf Ernsts Brief

26

Mathilde fährt heim

27

Mathilde trifft Ernst heimlich

28

Mathilde wird nun klar

Viertes Buch 29

Mathilde lernt auf seltsame Weise Dominick kennen

30

Im Zirkus

31

Dominicks Irrgänge

32

Mathildes Kind stirbt

33

Die trauernde Mathilde bei Dominick

34

Dominicks Selbstverachtung

35

Dominick beginnt, sich ganz zu verlieren

36

Dominicks Wege

37

Dominicks Ende

Fünftes Buch 38

Die Heintken bringt Mathilde eine junge Schwester

39

Wie Mathilde mit der Schwester lebt

40

Die junge Schwester verwahrlost

41

Die junge Schwester kommt unter Kontrolle

42

Die alte Heintke starb

Sechstes Buch 43

Mathilde träumt vom Frühling

44

Simoneit ist einer der Haupträdelsführer

45

Mathilde versöhnt sich mit Simoneit

46

Mathilde ist entschlossen, Simoneit zu heiraten

47

Mathilde ist Simoneits Frau

48

Wie Mathilde Simoneit das erste Kind geboren

49

Mathilde wappnet sich

50

Wie aus Mathilde Leid hervorsah, wie aus einer Seherin

51

Wenn nun eine am Brunnentroge steht, kennt man sie

Carl Hauptmann

Mathilde

Zeichnungen aus dem Leben einer armen Frau

Impressum

ISBN: 9783955013622

2014 andersseitig

Covergestaltung: Erhard Koch

Digitalisierung: Erhard Koch

andersseitig Verlag

Dresden

(mehr unter Impressum-Kontakt)

Erstes Buch
1
Im Gemeindehaus

»Redi ni vom Vater, Mutter! Besser, dass er überhaupt ni mehr heemkummt.« Mathilde sagte die Worte mit dem gänzlich harten Gesicht, das die Fünfzehnjährige fast niemals in ein Lachen legte, solange sie daheim war. Und daheim heißt dabei auch nichts weiter, als in einer großen Eckstube im Gemeindehaus, in der man fast immer Holz feuerte, und in der die beiden Öfen, ein alter Kachelofen und ein kleiner eiserner, mit hängenden Türen und Ritzen, die nie verschmiert wurden, im Winter oft so rauchten, dass man vor Qualm beim Eintreten keine Menschen sah, nur wie offene Feuer durch den Rauch, und Krachen und Prasseln der gestohlenen Scheite hörte, bis man dann langsam auch Insassen, die alte Heintke und ihre Schwiegertochter und ein paar kleine Gesichter mit Strickstrümpfen am Tisch, und endlich Mathilde, die frische Fünfzehnjährige, die unten in der Fabrik auf Arbeit ging, gewahr wurde, Mathilde immer mit einem harten Gesicht, jung und blond, wie sie war, mit energischen, vorwurfsvollen Lippen, barsch und ablehnend.

Die Wände der Stube waren wie die einer Räucherkammer, so schwarz und geteert, und in dem Raum stand auch schwarz und gebrechlich nur das Allergeringste, was eine Familie zur Lebensnotdurft wirklich haben muss: Ein Tisch und eine Lampe, die zum allgemeinen Stubenrauch ungehindert noch den ihrigen zugab, ohne dass eins gedacht hätte, sie einmal zu reinigen. Die Mädchenhände mussten sich ganz mit ihren Strickstrümpfen nahen, um auch nur einiges zu sehen, wenn in dem harten Widerpart der Stube, der immer zwischen Mutter und Schwiegermutter und zwischen Mutter und Mathilde herrschte, nicht alle Schlingen von der Nadel streichen sollten. Und in der Ecke stand ein Bett, fast bis auf die Bettbretter leer. Es lag unter ganz schwarzen Bettlaken, die nie gereinigt waren, ein Strohsack, auf dem die junge Heintke mit ihm die Nächte zubrachte, indessen die alte Mutter mit dem jüngsten Enkelkinde gegenüber in der elend zerschlitterten Bettstatt lag. Noch ein Schub und ein Schrank waren da, vergriffen wie altes Holz, das an der Luft und im Rauche schmutzig geworden, schief und hängend. Und was sonst an Kindern noch existierte, machte sich ein fliegendes Lager dort, wo es warm war, aus Kleiderlumpen und Schemeln und Stroh auf der Diele, einer alten Lehmdiele, die aussah wie der blanke, schwarze Erdboden, nur dass er nicht gerade vom Regen nass wurde, bloß vom Stürzen der Kartoffeltöpfe, und wenn man im Röhre kochte.

Aber der Mann, der junge Heintke, war diesen ganzen Winter nicht daheim. Er war im Gefängnis. So nahm die junge Frau – sie war gegen sechsunddreißig – ihre jüngsten Mädel zu sich ins Bett, und da es eben Schlafenszeit war, Mathilde ihr Töpfchen Kartoffeln für den kommenden Arbeitstag fertig gemacht und parat gestellt, war die allein daran, sich für die Nacht am Boden herzurichten, während Großmutter und Mutter mit den jüngeren sich bereits ins raschelnde, knackende Lager hingeworfen und Last und Mühsal barsch und grollend hinter sich.

 

Und Mathilde allein stand noch aufrecht. Die Feuer in den Öfen waren niedergebrannt, durch die Ritzen des Eisenofens glimmte es noch. Sie hatte sich die Lampe auf die Ofenbank gerückt und begann, sich langsam auszukleiden: ein junges frisches Ding, groß und kräftig für ihre Jahre, mit gesunden, starken Bewegungen, die keine Ermattung und Ermüdung verrieten, nur Spannung in Muskeln und Sehnen. Sie nahm lässig Nadeln aus dem hudeligen Haare und legte sie auf die Ofenbank – und lässig und Versonnen zog sie ihre Jacke aus, die aus ihrer Kinderzeit stammte und ihr bei der jungen Fülle offenbar viel zu eng geworden; und dann hing sie sie langsam an den Schrank und blickte sich nach den Ruhenden um. Es beschäftigte sie etwas. Sie sah sich in dem schwarzen Rauchfang um und überdachte hin und her. Aber die letzten Worte, die sie gegen die Mutter ausgespielt, waren hart gewesen und konnten die Härte der Mutter ebenso gut auch herauslocken. Deswegen schwieg sie und wagte nicht, zu neuen Worten sich aufzuraffen. Und die Mutter lag und sah sie durch die blinzelnden Lider, denn die junge Heintke war ein Weib mit allen Registern, das Fluchen im Hause ging ihr ebenso gut wie das sich Bekreuzen und Beten und Demütigung in der Kirche. Die Töchter, und besonders die, die nun frisch und jung aufgewachsen und aus sich aufkam in Groll, um dessentwillen, was jeder, wenn er ins Leben will, hoffen und erwarten soll, und was sie so gar nicht aus Mutter und Vater und Gemeindehaus finden konnte, die musste auf der Hut sein. Deswegen schwieg auch Mathilde heute, so hart sie aussah und so geschickt sie sich sonst mit unbarmherzigem Hohn einem Schlage der Mutter zu entziehen wusste, wenn er sie gleich tückisch in Auge und Nase treffen wollte. Aber die Mutter schwieg auch und tat, als schliefe sie. Im Grunde umfing sie die wohlige Lage, das Stumme und Stille, die Losgebundenheit auch von den Kinderreden und dem Scheelsehen der alten Großmutter, und sie überlegte, und der Zorn schwand, die Müdigkeit kam, die blinzelnden Augen, die noch heimlich sehen wollten, drückte der Schlaf zu, so dass Mathilde bald merkte, dass alles in sich gesunken war, wie das glimmende Feuer in Staub und Asche. So ging auch in ihrer Seele das Licht der Wünsche und nagenden Sehnsucht aus – und ihre Mienen, rund und rosig, ihr Haar so blond wie Gold im Schein der Rauchlampe, und ihre junge Gestalt, weich und knospend wie ein junger Baum, alles nahm ein stilles, starkes, gesundes Leben nur für sich an. Die Härte war gewichen. Wie ein buchener Zweig im Frühlingsdrange, so dehnte sie sich in die Lumpen und legte ihren hellen Kopf auf die harte Lehne eines umgekehrten Schemels und deckte sich mit Oberrock und Lumpen – und zog leise ein Büchel heraus, das sie, wer weiß von wem, gehandelt hatte, und suchte so einige ungestörte Lebens- und Traumblicke zu tun, ehe sie einschlief.

Aber das Ungewohnte der brennenden Lampe im Stübel weckte die junge Heintke, und sie begann im Halbschlaf zu murren: »Werscht wull noch verrückt wer'n, Mädel.

Lösch de Lampe aus! De Nacht is zum Schlofen! Na? werd's bale? oder sull ich mit 'm Riemen kummen?« Mathilde löschte die Lampe. »Du wisst schun, ich mach mir nischt draus und hau dir's Leder noch amol ordentlich vull! – Nischte wie Tummheeta eim Kuppe – nischte, wie Frechheeta eim Kuppe! – Kumm mer ock morne mit den Ideen ni wieder! Du bist a Kind und gchierst ei's Haus!«

»Ei's Haus – ei's Haus,« sagte nun Mathilde plötzlich wütend gemacht, »ei was denn fir a Haus, etwa ei's Gemeenhaus!? Was? Oder gar ei's Zuchthaus, wie der Vater? – 's ock gutt, dass er ni mei Vater is!« setzte sie als Trumpf noch oben auf, und es war ihr nun egal, wenn auch die Mutter aus dem Bett gesprungen und sie rücksichtslos geohrfeigt hätte, wie vorgestern. Aber Frau Heintke war müder, als sie selbst dachte, so dass sie die Worte der Tochter nur noch halb auffasste und sie nicht in Wut geriet. Auch war es warm im Bette, neben sich die kleinen, heißen, ineinander gekrochenen Mädchenleiber, und in der Stube begann die Kälte von den dünnen Fenstern her hereinzukriechen, sobald die Ofenfeuer erloschen waren. So blieb es ruhig in der Stube, und auch Mathilde legte sich auf die Seite, um zu schlafen. Trotzdem begann der Gedanke, den Mathilde angeregt hatte, in der jungen Heintke weiterzubrennen und von Zeit zu Zeit wieder aufzuflammen, auch wie kein Licht mehr auf der Ofenbank brannte. »Du werscht fortgiehn! Du hust Arbeit genung – dunda – ei inse Fabrik. Was sölltst du ei d'r Stadt? – a tummes Mädel wie du!! An – a frecher Balg wie du. – Mit a Mannsleuten sich rimtun – und eene Luderei hinter der andern machen, a Eltern Schande machen.« Mathilde musste in der Dunkelheit hell auflachen vor Hohn. Sie war wirklich noch unverdorben. Was sonst an Unflätigkeit und niedriger Gesinnung um sie lag, floss noch ab von ihr, denn die Jugend in der Welt ist ein Panzer gegen alles Gemeine, und eine zarte Blüte ist stärker wie Winter und Modererde und drängt eine Zeit in strengster Reinheit aufwärts. Was Mathilde trieb – hinaus aus dem Unleben, das war eine ziellose Sehnsucht –, und nichts war ihr daran klar, als dass sie gerade daheim nur die Schande zu fliehen hätte.

Es war ja ein elendes Leben daheim. Die Mutter, eine von den Verwahrlosten, die jung und lebensgierig mit einem alten Leiermanne durch die Provinz gezogen und Liebe in jedem Straßengraben oder hinter jedem Strohschober gesucht und gefunden hatte. Dann hatte sie endlich, nachdem der Alte längst tot, dem sie den Leierkasten zog und die Pfennige sammelte, ein Ziel ihrer Reise im Gemeindehause und in der Ehe mit dem Heintke gefunden. Mathilde war das erste Kind, das sie im Beginne ihrer Laufbahn, noch jung und lockend, wie sie damals war, von einem jungen, heißblütigen Bauernsohne im Durchziehen durchs Dorf in einer heimlichen Nacht in der Scheune empfangen hatte. Die andern Kinder alle, die nachher kamen, waren elend, von jämmerlichen und jämmerlicheren Menschen, Vagabunden und Rumtreibern – und dann kam die edle Zucht aus Heintkes Blute. Nun ja – also, wenn Mathilde nicht daran dachte, ihren Eltern Schande zu machen, kann man es gern glauben. Hinaus wollte sie, mit hartem Sinn hinaus. Sie war jung und wollte hinaus. Weiter wusste sie nichts. Sie konnte die Welt und ihren Sinn nicht kennen. Sie wollte nur die Schande fliehen und den Moder des Lebens, in dem sie saß, und aus dem sie früh ausging, verachtet besehen von vielen, und abends heimkehrte, um in Zank und Groll einzuschlafen. Deshalb stand es in Mathilde auch fest, dass sie aus dem Hause ging. Mochte nun die Mutter reden und fluchen und schlagen. Eines Tages würde sie hinaus sein. Eines Tages würde sie eine Stellung in der Fabrik in B. genommen haben, nachdem sie sich heimlich Fahr- und Zehrgeld zusammengelegt. Und das ging ihr noch einmal im Sinne um, das war wie ein Aufgang. Das machte sie noch einmal wie für sich froh lachen, obwohl sie kaum ihre Mienen verändert fühlte. Denn hart war sie, kräftiges Bauernblut machte das faule Blut der Mutter lebendig und tüchtig in ihr. Und dann sagte sie nur, um die Mutter zu beruhigen: »Wenn ich euch wer' jede Woche a schienes Geld heemschicken, werd's 'm Vater und dir recht sein. Was vedient man denn hie unten?« Das beruhigte auch in der Tat die junge Heintke. Der Gedanke, sie könne wöchentlich einen guten Zuschuss erhalten, das derbe, kraftvolle Mädel würde nicht in Zorn und Verachtung hinaus in die Fremde gehen, sie würde an die Eltern denken und für sie arbeiten wie immer, gab einen plötzlichen und völligen Trost in ihre Gedanken. Und sie atmete noch einmal wie erlöst laut hörbar auf – und dann auch die Tochter – und beide sprachen an diesem Abend kein Wort mehr.

2
Der erste Brief nach Haus

Mathilde war jetzt in der Stadt. Sie war mit einem jungen, verliebten Kerle, und einer anderen Fabrikarbeiterin, die im Tale wohnte, dahingekommen. Sie hatten nicht unbesonnen sich schon vorher eine Arbeitsstelle zu verschaffen gewusst und strömten nun morgens, ehe Sonne und Tag die Welt erhellt und rege macht, im Dämmergrau des Laternenscheins, oder auch in Regen und Dunkel, wenn kaum nur ein Bäckerjunge mit übergroßem Korbe am Arme, oder ein verspäteter Säufer durch die leeren, stillen Straßen fegte, ein in das große Tor, wo der alte bärbeißige Portier jedes einzelnen Meldung in Empfang nahm. Sie arbeitete jetzt mit Hunderten, die ihr Los teilten, und verdiente gut. Sie lief in die Arbeit noch immer, wie sie in den Bergen gelaufen und morgens in Hast zu Tale geeilt war, um nicht zum Arbeitsbeginn zu spät zu kommen. Noch immer eng und ärmlich die Jacke, in der Farbe verschlissen und unkenntlich, den Rock zu kurz, wie eine, die zur Schule geht. – Sie sah frisch aus und gesund – stark und rosig – und wenn sie mittags oder abends im Strome der jungen oder verwelkten, frechen und höhnischen Arbeiterinnen aus dem Tore der Fabrik – unter Hunderten eine allein, für sich herausschritt, während die andern drei und vier und mehr unterfassten und lachend und schwatzend vorwärtsstürmten – da stand mancher Junge und sah ihr nach und dachte daran, den harten und sicheren Zug in diesen jungen Mienen zu gewinnen – und die Werkmeister und der Portier, alle sahen oft heimlich auf sie, die wortkarg und entschlossen und doch wie ein Kind ihre Arbeit tat, willig und stark und geschickt, pünktlich kam, kaum von der Arbeit aufsehend und jeder Annäherung abhold wie eine Seele aus Erz.

Und immer schritt sie heim in eines der alten Hinterhäuser, die in der Nähe der Fabrik in einer schiefen Gasse eng aufeinander lagen, wo kaum ein Fleischerwagen einer Karre ausweichen konnte, so eng und alt – und wo in den Häusern, die kaum zwei, drei Fenster breit, schmal und niedrig waren, die alten schiefen Treppen bei jedem Tritte krachten, und allerhand seltsame Ecken und Winkelstuben lagen, zu denen man durch kleine Treppchen extra aufstieg. Dort wohnten ein paar böhmische Wäscherinnen, alte Mädchen mit Narben, die erfahren waren, bei denen lebte Mathilde. Diese Narbigen mit eingesenkten Nasen und hässlichen, heiseren Stimmen hatten ihr gleich Unterkunft geboten. Sie war froh, aus dem Gemeindehaus fort zu sein. Das lange Zimmer mit dem einen Fensterschlitz gefiel ihr fast, weil Sand auf der weißen Brettdiele lag, auch die Treppen im Hause weiß und gereinigt aussahen, und anständige Arbeiter, ein junger Schlosser aus der Fabrik mit Frau und Kind und andere junge und alte Familien hier wohnen mochten. Zudem hatte Mathilde nie bisher erfahren, dass ein Mensch einen andern zwecklos lieben kann. Die Wäscherinnen hatten Gefallen an ihr wie an einem Kinde. Sie hatten Gefallen an dem jungen, blühenden Leibe, der früh aus den Lumpen und dem zerflatterten Arbeitshemd licht aufstieg und vor der angeschlagenen, braunen Waschschüssel stand, um sich zu erfrischen. Auch Mathilde gefiel das. Daheim hatte sie es nicht gekannt. Waschschüsseln gab es nicht. Wer sich waschen wollte, musste an den Trog laufen, hinaus ins Freie, und davor hütete sich in Winter und Kälte jedes. Nun empfand sie es wie ein Wunder, wenn sie Hals und Brust kühlte und sie rosiger wurden und blendend. Und die beiden narbigen Mädchen, deren Leben sie gar nicht kannte, und wonach zu fragen ihr nie in den Sinn kam, lagen in ihren Betten und sahen sie heimlich stehen, ein Bild ihrer eigenen, verlorenen Jugend, schlank und stählern, und liebten sie aus heimlichem und ungedeutetem Grunde – schenkten ihr kleine, liebe Dinge, brachten ihr Süßigkeiten, sie schlief in ihrem Bett. Es kam, dass Mathildens Züge daheim alle Härte vergaßen, dass sie grundlos auflachen musste bei dem Gedanken, dass diese alten Mädchen beide welterfahren, sie froh zu machen suchten. Ja, sie begann selbst, sie zu lieben, so dass sie eine Zeit zugänglicher wurde daheim und kindlich und freundlich. –

»Morgen, wir gehn hinunter – in die Hallen«, sagte die eine Alte zur andern.

»Wenn Kind mitkummt«, gab die andere dawider.

Mathilde stand am Fensterschlitz und nähte an einem grünen Rocke, den ihr die Böhmische geschenkt hatte.

»Wie, Mädele? – Nun? – Wie ist?« – denn Mathilde hatte nicht von der Nähterei aufgeblickt und hörte kaum.

»Willst du nicht sagen, Kind?« tastete die Sprechende weiter.

»Oh, ich wiss nee!« Mathilde war es peinlich, dass man von den Hallen sprach. Einer der jungen Menschen, die in der Fabrik arbeiteten, ein kleiner, schmächtiger, dessen Kopf etwas in den Schultern steckte, aber der eine feine Haut und einen weichen Bartflaum besaß, hatte sie auch heimlich gebeten, hinzukommen, und sie hatte ihn verdrossen, fast feindselig angesehen. Sie wollte von so etwas nichts wissen. Wie sie von daheim fortzog, noch in der letzten Nacht, hatte sie dagelegen und Entschlüsse gefasst – Oh – sie hatte genug; darüber war sie sich klar geworden. Der Mutter Leben sollte nicht das ihre werden. Lieber wollte sie tot sein. Und sie war auf der Hut – wie vor Gift und Feuer. Wenn sie nicht davon sprach, dass nun tausendmal Junge und Alte sie heimlich locken und zu allerhand Abwegen führen wollten, so war es nur, weil sie zu niemand von all ihren stillen Wünschen und ihren Rückblicken sagen mochte. Und außerdem wollte sie nicht beredet sein. Sie litt das Geschwätz nicht, das so leichtsinnig in allerhand Lüsternem hintändelt, deshalb auch mochte sie sich keiner ihrer Mitarbeiterinnen anschließen. Sie schreckte zurück. Sie schreckte im Grunde vor jedermann zurück und war misstrauisch auf alle. Und blind feindselig gegen jede Annäherung, hart und ablehnend, wer es auch versuchen mochte. Deshalb sagte sie noch einmal ganz bestimmt und mit Härte, wie sie ihr daheim jetzt ungewohnt war: »Nee, ich will nee.«

 

Aber die Alte, fast erschrocken über die Zornblicke, die Mathilde dabei annahm, nahm sie in ihre Knie, wie man ein liebes Kind zu sich nimmt und strich ihr die Härte aus dem noch schweißigen Gesicht, dass sie kindlich lachen musste. – Es war Sonnabend Abend – der Tag noch hell – wie Mathilde eben aus der Arbeit heimgekommen war und es nicht erwarten konnte, sich hinzusetzen für ihren Sonntagsstaat.

»Warum, Liebe,« sagte die Dunkle zu ihr, »is sich Theater durt – man kann schauen – Suldaten sind sich durt – viel Vulk is sich durt – singen wirst du hören – komm mit, Kind! Bist du jung, wirst dich tanzen lernen – auch durt.«

»Nee, nee – das alles will ich ni lernen«, sagte sie, unwillig sich lösend, und so blieb es auch. Der Sonntag kam, sie saß am Morgen und wusch und nähte. Sie schrieb den Nachmittag an einem Briefe mit Zeichen hin und her, lang und groß – und es hieß darin: »Geliebte Mutter, Du wirst wohl denken, ich bin ganz nicht mehr wie Deine Tochter. Hier ist alles schön und man vergisst alles – auch, weil ich in tüchtiger Arbeit bin, wovon Du ein Zeichen hierbei findest, indem ich Euch schon zehn Mark schicken und noch mehr verdienen will – und immer schicken« – usw. Ein guter Brief, ein freundlicher Brief. »Geliebte Eltern.« – Sie war fast in einiger Sehnsucht. Sie saß reinlich gekleidet am Fensterschlitz auf dem Schube, und es mochte eine lange Zeit, Stunden des Sonntagnachmittags vergangen sein, so sank sie ein in das Bild ihrer Heimatwege – und nichts fiel ihr ein, als nur das Gute, dass da eine geliebte Mutter war, und Elend und Groll waren ausgewischt. Sie dachte auch an die kleinen Mädchen mit den Strickstrümpfen vor der Rauchlampe, und wie sie den Brief mit bedächtigen Zeichen adressiert und sorgfältig besiegelt hatte, musste sie wohl ein über das andere Mal die Nase wischen und mit den Fingern die Augenlider ausdrücken.