Seewölfe - Piraten der Weltmeere 320

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 320
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Impressum

© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-717-4

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Renke Eggens stieß einen Pfiff aus.

Die Kisten waren bestens gestaut, gut verschlossen und seefest verzurrt. Sie füllten etwa drei Viertel des Laderaums aus.

„Was, in aller Welt, haben die Polen so sorgfältig durch die Gegend gefahren?“ fragte Eggens mehr zu sich selbst.

Hein Ropers näherte sich mit der Laterne, die einen blakenden Lichtkreis ausstreute. Ihm folgten zwei Männer aus der Crew.

„Hast du jetzt endlich gefunden, was du suchst?“ Ropers hob die Laterne in Kopfhöhe.

„Wir werden gleich wissen, was es ist.“ Renke Eggens gab den beiden Decksleuten einen Wink. „Brecht eine von den Kisten auf. Beeilt euch.“

Sie gingen ans Werk, schweigend und umsichtig, wie es ihre Art war. Eine der oberen Kisten lösten sie aus den Verzurrungen und setzten den Kuhfuß an. Das Werkzeug hatten sie von Anfang an dabei gehabt, denn die Absicht des Ersten Offiziers war es, die in Reval gekaperte Galeone von vorn bis achtern zu inspizieren.

Knarrend lösten sich die Bretter des Kistendeckels. Es war feines nordisches Nadelholz, sauber verarbeitet. Renke Eggens winkte den Bootsmann mit der Laterne näher heran. Die Decksleute wichen beiseite. Glattes Öltuch war jetzt zu sehen. Eggens zupfte es aus der Kiste. Samtweicher, heller Stoff befand sich unter dem Öltuch, zu kleinen Bündeln gerollt. Der Erste hob eins davon auf und rollte es auseinander.

Strahlen brachen sich sternförmig im Laternenlicht.

Das Stück Bernstein hatte die Größe eines Hühnereies, war oval geformt und wies nur wenige Unregelmäßigkeiten auf. In der mattgoldenen Durchsichtigkeit des Steins schwebte ein Insekt, ein schwarz und bläulich schimmernder Käfer.

„Mann, o Mann!“ sagte Hein Ropers staunend. Die beiden Decksleute starrten ihm mit kreisrunden Augen über die Schultern. „Das ist ein Jonny! Was kann der wert sein?“

Renke Eggens überwand seine Verblüffung. Er drehte sich zu dem Bootsmann um.

„Genau weiß ich es nicht, Hein. Aber eins kann ich dir sagen: Deine Heuer für ein ganzes Jahr würde nicht reichen, um das Ding zu bezahlen.“

„Laß mich mal anfassen!“

„Nur mit dem Stoff drumherum.“

Hein Ropers nahm Bernstein und Tuch auf seine rechte Handfläche und hielt mit der Linken die Laterne ganz nah heran. Kaskaden von gleißendem Licht strahlten aus dem Stein, der darin eingeschlossene Käfer war von einem Strahlenkranz umgeben.

„Sieht wirklich aus wie Gold, wie durchsichtiges Gold“, sagte Ropers begeistert.

„Das Gold der Ostsee. Unter der Bezeichnung ist es auch bekannt geworden.“ Renke Eggens nickte.

„Und was ist nun eigentlich das Wertvolle, der Käfer oder der Bernstein?“

„Beides zusammen, Hein. Dieses schwarze Vieh hat bestimmt ein paar hunderttausend Jahre auf dem Bukkel, wenn nicht noch mehr. Natürlich hat auch der Bernstein allein seinen Wert, aber wenn so ein Insekt darin ist, dann steigert das eben den Preis.“

„Verstehe“, sagte der Bootsmann brummend. Er hob den Kopf und sah den Ersten Offizier an. „Nehmen wir mal an, alle diese Kisten sind voll von dem Zeug. Dann haben wir uns ja einen hübschen kleinen Schatz unter den Nagel gerissen, was?“

„Nicht ganz.“ Eine harte Furche kerbte sich um Renke Eggens’ Mundwinkel. „Du vergißt, daß die Polen die ‚Wappen von Kolberg‘ versenkt haben. Wir haben uns nur wiedergeholt, was sie uns weggenommen haben.“

„Klar.“ Hein Ropers grinste. „Die ‚Wappen‘ war mit keinem Bernstein der Welt zu bezahlen.“

Auf Befehl des Ersten Offiziers untersuchten die Männer den gesamten Inhalt der geöffneten Kiste. Dann wurden zwei weitere Kisten aufgebrochen. Alle drei enthielten nichts als Bernstein, ein Stück schöner und wertvoller als das andere. Renke Eggens konnte das einigermaßen beurteilen, denn wie sein Kapitän hatte auch er ausreichende Kenntnisse auf diesem Gebiet.

„Jetzt möchte ich nur wissen“, der Bootsmann schüttelte ungläubig den Kopf, „wem die Polen diesen Schatz geklaut haben.“

Eggens nickte schweigend und nachdenklich. Die Kisten, die etwa zwei mal zwei Fuß in der Fläche und eineinhalb Fuß in der Höhe maßen, hatten keine deutlich lesbare Markierung, keine auf den ersten Blick erkennbare Angabe des Eigentümers oder des Empfängers. Eggens nahm dem Bootsmann die Laterne aus der Hand und sah sich eine der aufgebrochenen Kisten genauer an.

Das aufgebrochene Deckelholz war glatt, ohne jede Kennzeichnung. Und die Seitenwände?

Renke Eggens stutzte. Seine Augen wurden schmal.

Da gab es einen Brandstempel, rechts oben an der einen Wandung. Eggens hastete zu der zweiten Kiste, dann zu der dritten. Bei allen war es das gleiche.

Das Zeichen stellte zwei Pfeilspitzen dar.

Gedankenverloren richtete Eggens sich auf.

„He, was ist los?“ fragte Hein Ropers stirnrunzelnd.

Es dauerte eine Weile, bis der Erste Offizier in die Wirklichkeit zurückfand.

„Wir müssen alle Kisten untersuchen“, sagte er gepreßt, „ich muß wissen, ob sie alle dieses Zeichen tragen.“

Was das Wetter betraf, zeigte sich dieser frühe Morgen des 29. März 1593 von einer passablen Seite. Der Wind hatte schon während der Nachtstunden von Südwesten nach Nordwesten gedreht und verhalf den beiden Galeonen zu rauschender Fahrt über Backbordbug.

Über der Kimm lag ein Dunstschleier, der sich mehr und mehr lichtete. Blaßblau spannte sich der Himmel über dem beginnenden Tageslicht und ließ vermuten, daß die Sonne mit einer schon beträchtlichen Kraft aufwarten würde. Der einsetzende Frühling ließ sich auch hier, im hohen Norden, nicht mehr leugnen.

Arne von Manteuffel beobachtete die „Isabella IX.“, die auf Rufweite im Kielwasser der ehemals polnischen Galeone segelte. Es war ein beeindruckendes Schiff, das sein Vetter führte. Eine dreimastige Galeone von so unkonventioneller Bauweise, wie man sie hier im gesamten Ostseeraum noch nicht kannte. Nun, die Engländer waren im Schiffbau in letzter Zeit mit Siebenmeilenstiefeln nach vorn geeilt.

Arne sah seinen Vetter auf dem Achterdeck der „Isabella“, und unwillkürlich wurde er an jenen denkwürdigen Tag in Wisby auf Gotland erinnert, als sie sich zum ersten Male gegenübergestanden hatten. In der Tat ähnelten sie sich so sehr, als seien sie Brüder.

Nur durch sein blondes Haar unterschied sich Arne von Manteuffel von Sir Philip Hasard Killigrew, den alle Welt auf den sieben Meeren als den Seewolf kannte. Im übrigen, was die eisblauen Augen, das scharfgeschnittene Gesicht und die breitschultrige und schmalhüftige Statur betraf, gab es kaum Unterschiede zwischen den beiden Vettern.

Arne von Manteuffels Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Eilige Schritte waren auf dem Hauptdeck der gekaperten Galeone zu hören. Renke Eggens, drahtig und flink, tauchte auf dem Niedergang zum Achterdeck auf.

„Arne!“ Eggens verharrte keuchend. „Schnell, das mußt du dir ansehen!“

Arne von Manteuffel kniff verwundert die Augen zusammen. Selten hatte er seinen Ersten Offizier so aufgeregt erlebt. Aber er zögerte nicht, auf den Niedergang zuzueilen. Wenn Renke Eggens in Alarmstimmung geriet, dann mußte es einen handfesten Grund dafür geben.

Eggens ging voraus, und sein Kapitän folgte ihm auf die offene Luke zu, die in die unteren Decksräume führte.

Kurz darauf, als sie vor den Bernsteinkisten standen, brauchte Eggens nur auf das Zeichen zu zeigen, das an jeder Kiste an der gleichen Stelle eingebrannt war.

„Das Runenzeichen der Tyndalls“, sagte Arne von Manteuffel betroffen. „Ist dir klar, was das bedeutet, Renke?“

„Eine Riesenschweinerei, soviel steht fest. Weiter habe ich mir die Sache noch nicht durch den Kopf gehen lassen. Es hängt wohl einiges daran, vermute ich.“

Arne nickte. Prüfend betrachtete er ein paar der Bernsteinstücke, die obenauf in den geöffneten Kisten lagen.

„Ich weiß eine Menge über Bernstein“, sagte er leise und gedehnt, „aber ich maße mir nicht an, den Wert dieser Ladung zu beurteilen.“

„Dann sind die Polen wohl doppelt sauer auf uns“, sagte Hein Ropers grinsend, „wenn diese Kisten mehr wert sind als das ganze Schiff, das sie verloren haben.“

„Darauf kannst du Gift nehmen.“

„Und wer sind diese Tyndalls?“ fragte der Bootsmann.

„Das Runenzeichen der Pfeilspitze steht für ein ‚T‘“, erklärte Arne von Manteuffel, „in diesem Fall also ein doppeltes ‚T‘ für ‚Thorsten Tyndall‘.“

„Klingt dänisch.“

„Ist es auch. Ich habe von Tyndall etliche Male Bernstein und auch Achat und Jaspis bezogen. Außer mir wußte nur Renke darüber Bescheid, denn wir hatten ja guten Grund, diese Geschäfte so geheim wie nur möglich zu halten.“

 

„Dann muß dieser Tyndall so etwas wie ein Zwischenhändler in Dänemark sein.“

„Nein, nicht in Dänemark. Thor Tyndall, Thorstens Vater, hat sich 1559 als dänischer Kaufherr in Hapsal an der estnischen Westküste niedergelassen. Damals wurden Ösel, Dagö und Küstenteile am Rigaer Meerbusen an Dänemark verkauft. Das Handelshaus Tyndall ist seither in Hapsal ansässig.“

„Kenne ich. Dieses Hapsal liegt ziemlich genau gegenüber von Dagö und nordöstlich von Ösel. Zwischen den beiden Inseln und der Küste ist der Moon-Sund, und der verbindet den Finnenbusen und den Rigaer Busen. Eine günstige Lage für so ein Handelskontor.“

„Nicht nur wegen des Seewegs“, sagte Renke Eggens, „außer Bernstein wird an den Küsten von Ösel nämlich Achat und Jaspis gefunden. Das sind beides Halbedelsteine.“

„Mhm.“ Hein Ropers kratzte sich am Hinterkopf. „Und diese Pfeilspitzen sind das Firmenzeichen von Herrn Tyndall?“

„So kann man es nennen“, erwiderte Arne von Manteuffel, „es war eine Marotte von Thorstens Vater, und dabei ist es dann nach dem Tod des alten Thor Tyndall geblieben.“

„Wie auch immer“, sagte Renke Eggens mit sorgenvoller Miene, „wir stehen jedenfalls vor einem Berg von Problemen.“

Arne von Manteuffel nickte nachdenklich. Der Fund der Tyndallschen Bernsteinkisten an Bord des ehemaligen polnischen Flaggschiffs änderte die gesamte Situation. An erster Stelle stand die Folgerung, daß Generalkapitän Witold Woyda keineswegs stillhalten würde. Er mußte ganz einfach alles daran setzen, seine Galeone mitsamt Ladung zurückzuerobern.

Arne teilte dem Ersten Offizier und dem Bootsmann seine Überlegungen mit.

„Außerdem gibt es da noch eine entscheidende Frage“, fügte er hinzu, „nämlich: Wie ist unser gemeinsamer Freund, der ehrenwerte Generalkapitän, in den Besitz der Kisten gelangt?“

„Ich weiß, an was du denkst“, sagte Renke Eggens grimmig. „Was mit Jens Johansen in Wisby passiert ist, werden wir alle so bald nicht vergessen. Vielleicht gibt es mit diesen Tyndall-Kisten ähnliche Zusammenhänge.“

„Möglich.“ Arne von Manteuffel preßte die Lippen zusammen. Seine Ahnungen waren düster.

Das Handelshaus Jens Johansen in Wisby auf Gotland war ein alteingesessenes und renommiertes Kontor gewesen – wie das Haus Tyndall in Hapsal. Doch wie Thorsten Thyndall, so hatte auch Jens Johansen illegal mit Bernstein gehandelt. Beide mißachteten den Anspruch jedweder Obrigkeit auf das Bernsteinmonopol, und beide vertraten den Grundsatz, daß das Gold der Ostsee logischerweise dem gehören mußte, der es fand. Und gefunden wurde der Bernstein meist im Wasser oder unmittelbar am Strand, von den Wellen angespült. Also mußte ein solcher Fund auch der Lohn für denjenigen sein, der danach gesucht hatte.

Irgendwelche Landesherren, die weit entfernt auf ihrem Schloß oder ihrer Burg saßen, trachteten nur danach, noch mehr an sich zu raffen. Da war es ihnen nur recht und billig, kurzerhand durch einen Erlaß sämtliche Bernsteinfunde für sich zu beanspruchen. Etwa wie derzeit der schwedisch-polnische König Sigismund III. im fernen Warschau oder Krakau. Ein weltfremder Mensch mußte er sein – nicht nur, was seine sonderbare Bernsteingesetzgebung betraf. Von ihm wurde auch erzählt, daß man nur Zutritt zu ihm habe, wenn es der Kreis jener Jesuiten gestattete, mit denen er sich zu umgeben pflegte.

Für Arne von Manteuffel stand seit langem fest, daß Jens Johansen in Wisby ein Opfer der Machtansprüche König Sigismunds geworden war. Agenten mußten Johansen beobachtet und schließlich ausgekundschaftet haben, daß er unerlaubterweise mit Bernstein handelte. Sigismunds Schergen hatten den Mord an Johansen ausgeführt, in diesem Fall der verbrecherische spanische Kapitän Juan de Gravina, mit dem insbesondere der Seewolf in Wisby aneinandergeraten war.

Arne riß sich von den unangenehmen Gedanken los. Er winkte den Bootsmann und die beiden Decksleute zu sich heran.

„Ich muß genau wissen, was sich in den Kisten befindet. Öffnet sie alle und fertigt mir eine Liste an.“

Hein Ropers und die beiden Männer begannen sofort mit der Arbeit.

„Eins scheint mir ausgeschlossen“, sagte Renke Eggens.

„Und das wäre?“ Arne von Manteuffel zog die Augenbrauen hoch.

„Daß der saubere Generalkapitän oder einer seiner Leute diese Kisten bei Tyndall gekauft hat.“

„Der Meinung bin ich auch. Entweder haben die Polen die Kisten heimlich gestohlen. Oder“, Arne atmete tief durch, „sie haben die Ladung mit Gewalt an sich gebracht. Daß würde aber bedeuten, daß Thorsten Tyndall wahrscheinlich nicht mehr lebt.“

„Man sollte nicht gleich das Schlimmste annehmen.“

„Nein. Deshalb ist es auch unsere Pflicht, ihm die Kisten zurückzubringen. Thorsten Tyndall ist ein anständiger, ehrbarer Kaufmann und ein guter Mensch, kein Schlitzohr von der Sorte dieses Witold Woyda.“

Hein Ropers hatte sich einen ersten Überblick verschafft.

„Wir haben hier insgesamt vierzehn Kisten“, meldete er, „in zwölf davon ist ausschließlich Bernstein, nur in zweien befindet sich dieses andere Zeug.“

„Achat und Jaspis“, sagte Arne von Manteuffel und nickte.

„Dann fangen wir jetzt mit der Liste an.“

Arne und sein Erster Offizier ließen den Bootsmann und die Decksleute im Laderaum allein. Die geänderte Lage erforderte neue Entscheidungen.

2.

„Da wird doch der Hering in der Pfanne verrückt!“

Edwin Carberrys dröhnendes Organ war bis in den letzten Deckswinkel der „Isabella“ zu hören. Die Männer auf der Kuhl und auf der Back wandten die Köpfe und erblickten ihren Profos in völliger Fassungslosigkeit. Auch Hasard und Ben Brighton spähten vom Achterdeck herüber.

Ed Carberry hatte sich vorgebeugt, stemmte die Fäuste in die Hüften und betrachtete ungläubig blinzelnd die Szene, die sich unmittelbar von dem offenen Kombüsenschott abspielte.

Plymmie, die Bordhündin, stand mit hängenden Ohren vor der Muck, die ihr der Kutscher als Freßnapf zur Verfügung gestellt hatte. Lustlos schnupperte Plymmie an dem Inhalt der Muck, einem stattlichen Haufen Fleischbrocken, vermengt mit Resten der Bohnensuppe vom Vortag. Im nächsten Moment wandte sich die Wolfshündin demonstrativ ab und ließ sich vor den Zwillingen auf den Planken nieder. Nach einem herzhaften Gähnen legte sie den Kopf zwischen die Vorderbeine, schloß das linke Auge und linste mit dem rechten zu Ed Carberry hoch.

„Das schlägt dem Faß den Boden aus.“ Der Profos schüttelte entnervt den Kopf, hielt aber sofort inne. Denn er besann sich der Pelzmütze, die er trotz der schon annehmbaren Temperaturen auf dem Kopf trug. Bei allzu heftiger Bewegung eben dieses Körperteils konnte es passieren, daß die Mütze herunterfiel und eine Blöße preisgab. Seit der verlorenen Wette um Luke Morgans Pelzkenntnisse in Wiborg lief Ed mit einer feinen Glatze herum. Damit nur keiner auf seine vorsichtige Kopfhaltung anspielen konnte, fuhr er grollend fort: „Erst ist sich das Vieh zu fein für das gute Fressen, und dann grinst es mich auch noch an!“

„Verzeihung, Sir“, sagte Hasard junior vorsichtig, „Plymmie grinst ganz bestimmt nicht.“

„Ein Hund kann überhaupt nicht grinsen“, fügte sein Bruder Philip hinzu.

Ed Carberrys Rammkinn klappte nach unten. Sein Blick heftete sich auf die Jungen – zornfunkelnd.

„Besten Dank für die Belehrung, ihr Rübenschweine. Wenn ich sage, das Vieh grinst mich an, dann grinst es mich an. Ist das klar?“

Die beiden Jungen schluckten trocken hinunter. Äußerlich ähnelten sie sich wie ein Ei dem anderen. Schlank und schwarzhaarig, hatten sie den unverwechselbar gleichen Gesichtsschnitt wie der Seewolf. In ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen, und schon jetzt, in ihren jugendlichen Jahren, ließen sie erkennen, daß sie als erwachsene Männer einmal alle überragenden Eigenschaften und Fähigkeiten ihres Vaters haben würden.

Daß sie in diesem Augenblick aussahen, als seien sie zutiefst beleidigt worden, beeindruckte den Profos nicht. Die gesamte Crew wußte, welche verteufelte Portion Temperament und Starrsinn die beiden im Nacken hatten. Welche Scherereien sie ihrem Vater und seinen Männern schon bereitet hatten – nun, daran mochten sie nicht unbedingt erinnert werden. Schließlich fühlten sie sich auch nicht mehr als kleine Kinder, denn bei den Aufgaben, die sie an Bord zu erledigen hatten, standen sie ihren Mann.

So manches Mal hatte man die Junioren aus verzwickten Situationen herauspauken müssen. Immer dann nämlich, wenn sie sich wieder einmal einen unerlaubten Alleingang geleistet hatten. Indes mußte auch Ed Carberry ihnen zugute halten, daß sie mittlerweile gewitzt genug waren, um sich auch einmal allein zu helfen. Hasard junior hatte das zuletzt in Abo bewiesen, wo er sich aus der Gewalt von Entführern befreit hatte.

In Abo hatten die Zwillinge auch Plymmie an Bord gebracht, das erbarmungswürdige halbverhungerte Etwas, das sie aus der Hand von jugendlichen Tierquälern befreit hatten.

„Vielleicht darf ich auch mal was zu dem Fall sagen“, meldete sich der Kutscher zu Wort, der gemeinsam mit Mac Peelew aus dem offenen Kombüsenschott blickte.

„Was dabei herauskommt, kann ich mir schon denken“, entgegnete Ed Carberry knurrend, „die lieben Kleinen und ihr liebes Tierchen muß man natürlich in Schutz nehmen.“

„Mister Carberry“, sagte Mac Pellew grämlich, „ich weiß nicht, was du immer noch an Plymmie herumzumäkeln hast. Wenn sie nun mal keinen Hunger hat, dann läßt man sie eben in Frieden.“

„Das ist es nicht, du Suppenschwenker. Das Vieh frißt sonst jeden Tag um diese Zeit. Aber langsam wird die Lady zu vornehm. Und das geht zu weit. Punktum. Hier wird gefressen, was man vorgesetzt kriegt. Wohin führt denn das, was, wie? Demnächst verlangt der Köter einen goldenen Teller – nur noch mit den besten Leckerbissen, versteht sich!“

Der Kutscher räusperte sich.

„Ich möchte dazu nur eins bemerken“, sagte er in seiner etwas geschraubten Art, „es handelt sich in diesem Fall um Pökelfleisch. Eine sehr salzige Angelegenheit also. Nun ist in der Medizin bekannt, daß Gewürze, wie sie Menschen genießen, nicht unbedingt auch für Tiere geeignet sind. Wenn Plymmie das Pökelfleisch verweigert, dürfte es sich um eine völlig natürliche Abwehrreaktion handeln.“

„Himmel!“ Ed Carberry verdrehte die Augen. „Jetzt erzähl mir bloß noch, daß dein Lehrmeister Doc Freemont auch Hundeviecher behandelt hat!“

„Keineswegs“, entgegnete der Kutscher spitz, „solche Dinge gehören für einen Humanmediziner gewissermaßen zur Allgemeinbildung.“ Die wilde Narbenlandschaft im Gesicht des Profos verzog sich zu einem breiten Grinsen.

„Meine Allgemeinbildung sagt mir nur eins, mein lieber Freund und Kombüsenkutscher: Ein guter Hund frißt alles, und damit basta.“

„Aber Pökelfleisch haben wir ihr doch heute zum ersten Mal vorgesetzt!“ rief Hasard junior protestierend.

„Da kann man doch nicht verlangen …“ setzte sein Bruder an.

Ein langgezogener Ruf aus dem Großmars brach den Disput um Plymmies Freßgewohnheiten ab.

„Deck!“ brüllte Luke Morgan, der den Posten des Ausgucks übernommen hatte. „Signal von der Galeone voraus!“

Ben Brighton reagierte sofort.

„Nils!“

Nils Larsen, der neben Englisch und seiner dänischen Muttersprache auch Schwedisch und Deutsch beherrschte, kreiselte auf der Kuhl herum.

„Sir?“

„Auf die Back! Sieht so aus, als ob wir angepreit werden.“

„Aye, aye, Sir.“ Nils lief los, grinste, als er Plymmie und den verschmähten Freßnapf passierte und enterte, mit zwei federnden Sätzen über den Steuerbordniedergang zur Back auf.

Arne von Manteuffel und Renke Eggens standen an der reichverzierten Heckbalustrade der ehemals polnischen Galeone.

„Ich bitte meinen Vetter zu einer dringenden Besprechung an Bord!“ rief von Manteuffel.

„Verstanden, Sir!“ Nils Larsen gab ein Handzeichen, wandte sich ab und eilte zum Quarterdeck, um die Nachricht für Hasard und Ben Brighton zu übersetzen.

Arne von Manteuffels Galeone drehte bereits bei, und jede Hand an Bord wurde gebraucht, um die Segel ins Gei zu hängen. Nach der Versenkung der „Wappen von Kolberg“ bestand die Crew noch aus dreizehn Mann.

Der Seewolf gab Order, dem Beispiel seines deutschen Vetters zu folgen und die kleine Jolle abzufieren – Gelegenheit für Ed Carberry, seinem Ärger über das vermaledeite Hundevieh Luft zu verschaffen. Obwohl die Männer selbstverständlich bereits im Höllentempo in den Wanten aufenterten, ließ er seine Stentorstimme donnern.

 

„Bewegt euch gefälligst, ihr lahmen Säcke! Hat einer was gesagt, daß ihr jetzt schon einschlafen sollt, was, wie? Ein bißchen hurtiger, ihr Schnecken, oder ich stopf euch ’ne Ladung Pfeffer ins Achterteil! Was meint ihr, was ihr dann am Wetzen seid?“

Den Männern war es eine vertraute Begleitmusik, wie das Salz in der Suppe ihrer tausendfach geübten Handgriffe. Keiner mochte das Gedröhn des Profos missen. Jedem an Bord der „Isabella“ hätte etwas gefehlt, wenn Edwin Carberry plötzlich auf den Gedanken verfallen wäre, seinen Dienst ohne die gewohnte Lautstärke zu versehen.

Hasard übergab das Kommando an Ben Brighton, seinen Ersten Offizier. Gemeinsam mit Nils Larsen enterte er in die Jolle ab. Mit kräftigen Schlägen pullten sie zu der kleineren Galeone hinüber. Sorgfältig vertäute Nils das Boot, ehe er dem Seewolf über die Jakobsleiter an Bord folgte.

Arne von Manteuffel empfing seinen Vetter auf dem Achterdeck. Nils Larsen, seit Wisby als Dolmetscher bewährt, begrüßte er mit einem freundlichen Händedruck. Wie sie es nun schon von zahlreichen Gelegenheiten gewohnt waren, übersetzte Nils so fließend, daß kaum Gesprächspausen entstanden. In dieser Beziehung stand er Stenmark, der für Übersetzungen in den schwedisch-sprachigen Ostseegebieten zuständig war, in nichts nach.

„Es sieht so aus, als ob wir unser Vorhaben ändern müssen“, sagte Arne von Manteuffel. In knappen Worten begann er seinen Bericht.

Hasard hörte aufmerksam zu. Einige der Worte aus der deutschen Sprache verstand er bereits, doch um die Muttersprache seines Vetters selbst zu beherrschen, hätte es doch noch einiger Übung bedurft.

Sie hatten geplant, zunächst Rügenwalde, die Heimatstadt der Freiin von Lankwitz anzulaufen. Arne wollte seine Verlobte so schnell wie möglich zu ihren Eltern bringen, die in höchstem Maße um ihre Tochter besorgt waren. Zweite Station hatte dann Kolberg sein sollen, Arne von Manteuffels Heimathafen.

„Deshalb meine ich“, schloß er seinen Bericht, „wir sollten zunächst Hapsal ansteuern. Vorausgesetzt natürlich, du bist einverstanden.“

Der Seewolf überlegte nicht lange.

„Selbstverständlich. Ich glaube, in einem Punkt sind wir einer Meinung: Die Methoden, mit denen der sehr ehrenwerte schwedisch-polnische König das Bernsteinregal an sich zu reißen versucht, sind verabscheuungswürdig.“

Arne von Manteuffel lächelte.

„Ich weiß, daß ich dir diese Meinung nicht eingeredet habe.“

„Nein, das war auch nicht nötig. Wenn ich mir die Halunken ansehe, die im Auftrag von König Sigismund handeln, dann läuft mir die Galle über. Angefangen mit unserem speziellen Freund Juan de Gravina, kann man sie praktisch alle in eine Reihe stellen. Dieser von Saxingen, der deine Verlobte entführte, folgt gleich an zweiter Stelle. Und der Generalkapitän Witold Woyda ist auch nicht viel besser.“

„Galgenstricke aus der Oberklasse“, sagte Arne mit einem grimmigen Nikken, „hätten sie nicht Rang und Namen, hätte man ihnen längst das Handwerk gelegt.“

„Was Woyda betrifft, so wird er nicht nur wegen der Bernsteinladung und seines verlorenen Flaggschiffs in Rage geraten sein. Auf die ‚Isabella‘ dürfte er immer noch scharf sein. Ich kann mir vorstellen, wie liebend gern er unsere stolze Lady nach Reval eingebracht hätte, wenn er nur eine Handhabe gehabt hätte.“

„Du meinst also, er könnte eventuell versuchen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen? Sich die Bernsteinkisten und die Galeone zurückholen und außerdem noch die ‚Isabella‘ kapern?“

„Warum nicht?“ Hasard zog die Schultern noch. „Er wird sich seine Chancen ausrechnen, und er hat Zeit genug, einiges auf die Beine zu stellen.“

„In Hapsal? Da bin ich nicht ganz sicher. Woyda kann ja nicht genau wissen, ob ich das Runenzeichen der Tyndalls kenne.“

„Trotzdem müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.“ Hasard sah seinen Vetter einen Moment nachdenklich an. „Etwas anderes geht mir durch den Kopf: Unser gemeinsamer Freund von Saxingen hat zwar behauptet, die Freiin von Lankwitz heiraten zu wollen. Aber könnte es nicht sein, daß er sie eher für eine Erpressung benutzen wollte?“

Arne von Manteuffel furchte die Stirn.

„Ich kann mir nicht recht vorstellen, wie so etwas hätte ablaufen sollen.“

„Ganz einfach. Du hast das von König Sigismund beanspruchte Bernsteinregal mit Mißachtung gestraft. Vor diesem Hintergrund wäre doch die Freiin ein hervorragendes Pfandobjekt gewesen, um dich unter Druck zu setzen.“

Arne blies die Luft durch die Nase.

„Ich denke, von Saxingen hat mich noch nicht richtig kennengelernt. Sonst wäre er gar nicht auf so eine Idee verfallen. Vorausgesetzt, daß er die Idee überhaupt hatte.“

„Ich würde das nicht von der Hand weisen, Arne. Er hätte dich nicht nur zwingen können, den geheimen Bernsteinhandel aufzugeben. Er hätte dich außerdem dazu bringen können, der polnischen Krone deine Geschäftsbeziehungen und deine Bernsteinquellen preiszugeben. Der feine Graf hätte sich dadurch bei König Sigismund in ein hervorragendes Licht rücken können.“

Arne verzog das Gesicht.

„Wenn ich darüber nachdenke, fange ich an zu kochen, obwohl es so schlimm gottlob nicht geworden ist.“

„Wie auch immer.“ Hasard schnitt mit der flachen Hand durch die Luft. „Ich halte es für richtig, daß wir den Kerl erst einmal gründlich aushorchen. Da wir sowieso beigedreht haben, könnten wir die Gelegenheit gleich jetzt nutzen. Vielleicht ließe sich sogar in Erfahrung bringen, welche Maßnahmen von der polnischen Krone noch zu erwarten sind.“

Arne von Manteuffel schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

„Himmel! Wir hätten längst daran denken sollen, von Saxingen zu verhören. Aber wahrscheinlich liegt es an der Entdeckung der Bernsteinkisten, daß ich den Knilch vorübergehend aus meinem Bewußtsein gestrichen habe.“

Graf Hugo von Saxingen hatte die erste Phase, wie er sie für sich bezeichnete, überstanden. Diese erste Phase war grenzenlose Wut gewesen – Wut in all ihren Erscheinungsformen. Er hatte getobt, gebrüllt, mit den Fäusten gegen das Schott der Vorpiek gehämmert. Und er war in die Ecke gekrochen, hatte gezittert vor Zorn und fortwährend versucht, seine vibrierenden Nerven zur Ruhe zu bringen.

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