Biodiversität

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Biodiversität
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UTB 3325

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Prof. Dr. Bruno Baur ist Professor für Naturschutzbiologie und Leiter des Instituts für Natur-, Landschafts- und Umweltschutz an der Universität Basel. Er ist Mitgründer und Mitglied des Beirats des Forums Biodiversität der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind anthropogene Veränderungen der Biodiversität, invasive Arten und die Biologie von seltenen und gefährdeten Arten.

1. Auflage 2010

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8252-3325-9

ISBN 978-3-846-33325-9 (E-Book)

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 2010 by Haupt Berne

Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig.

Umschlag: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz/Gestaltung: Verlag die Werkstatt, Göttingen

www.haupt.ch

UTB Bestellnummer: 3325-9

Hinweis zur Zitierfähigkeit

Diese EPUB-Ausgabe ist zitierfähig. Um dies zu erreichen, ist jeweils der Beginn und das Ende jeder Seite gekennzeichnet. Bei Wörtern, die von einer zur nächsten Seite getrennt wurden, steht die Seitenzahl hinter dem im EPUB zusammengeschriebenen Wort.

Inhaltsverzeichnis

Titel Impressum Hinweis zur Zitierfähigkeit Einführung: Was ist Biodiversität?

Entstehung des Begriffes «Biodiversität» Ziele des Buches Weiterführende Literatur

1 - Wie entsteht biologische Vielfalt?

Genetische Vielfalt Verschiedene Stufen der genetischen Vielfalt Fortpflanzungssystem und genetische Vielfalt Evolutionsprozesse Was ist eine Art? Wie entstehen neue Arten? Weiterführende Literatur

2 - Biodiversität verändert sich

Artenvielfalt im Laufe der Erdgeschichte Veränderung der Biodiversität in neuester Zeit Wie viele Arten gibt es? Weiterführende Literatur

3 - Biodiversität erfassen

Arten sind nicht gleich häufig Seltenheit Artensummenkurve Biodiversität auf verschiedenen geografischen Skalen Qualitative Biodiversitätsindikatoren Biodiversitätsindikatoren in der Praxis Weiterführende Literatur

4 - Biodiversität ist nicht gleichmäßig verteilt

Muster des Artenreichtums Gradienten über die Breitengrade Gradienten über Höhen und Tiefen Hotspots Andere Formen von Hotspots Räumliche Muster und ihre zeitliche Organisation Weiterführende Literatur

5 - Biodiversität leistet große Dienste

Von der Funktion zur Dienstleistung Vielfältige Ökosystem-Dienstleistungen Artenvielfalt, Ökosystemfunktion und Stabilität Erhöhte Artenvielfalt steigert die Ökosystemleistung Beeinträchtigte Ökosysteme leisten weniger Vorlage für moderne Technologien Weiterführende Literatur

6 - Biodiversität ist ökonomisch bedeutsam

Ökonomischer Wert der Ökosystemleistungen Ökonomischer Wert von Arten Unterschiedliche Ansätze Grundlagen für politische Entscheide Weiterführende Literatur

7 - Biodiversität hat einen ethischen Wert

Eigenwert einerArt Entwicklung verschiedener Ethiken Weiterführende Literatur

8 - Biodiversität ist bedroht

Die Weltbevölkerung und der Ressourcenverbrauch nehmen zu Habitatzerstörung und veränderte Landnutzung Zerstückelung der Lebensräume Ausdehnung der Siedlungsfläche Verschmutzung Übernutzung natürlicher Ressourcen Tourismus und Freizeitaktivitäten Neobiota und invasive Arten Klimaerwärmung Verlust an genetischerVielfalt Rote Listen Erhöhte Aussterberate Weiterführende Literatur

9 - Biodiversität erhalten und nachhaltig nutzen

Politische Aufgabe Nicht-staatliche Schutzorganisationen Einrichtung von Schutzgebieten Biosphärenreservat Segregation oder Integration? In situ- undex situ-Erhaltungsstrategien Renaturierungsmaßnahmen Umgang mit invasiven Arten Wissen zur Verfügung stellen und Forschung vorantreiben Biodiversität erfolgreich erhalten und fördern Weiterführende Literatur

 

Anhang

Glossar Internetadressen Literatur

Sachregister Wolfgang Nentwig - Invasive Arten

Einführung: Was ist Biodiversität?

Spätestens seit der UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung, die 1992 in Rio de Janeiro stattgefunden hat, bekennen sich die meisten Staaten zum Schutz der Biodiversität. Als wesentliches Ergebnis dieser Konferenz ist das Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD, Biodiversitäts-Konvention) entstanden. In der Öffentlichkeit und im angewandten Naturschutz wird der Begriff «Biodiversität»aber vielfach als Synonym zur Artenvielfalt gebraucht und der Erhalt der biologischen Vielfalt mit dem klassischen Artenschutz gleichgesetzt. Ein Blick auf die Definition der Konvention zeigt hingegen, dass Biodiversität viel mehr umfasst: «Biologische Vielfalt bedeutet die Variabilität unter lebenden Organismen jeglicher Herkunft, darunter unter anderem Land-, Meeres- und sonstige aquatische Ökosysteme und die ökologischen Komplexe, zu denen sie gehören: dies umfasst die Vielfalt innerhalb der Arten und zwischen den Arten und die Vielfalt der Ökosysteme» (CBD; Artikel 2; www.cbd.int).

Wissenschaftlich gesehen finden sich in dieser Definition also drei Organisationsebenen wieder, die alles Leben auf der Erde beinhalten. Auf der genetischen Ebene wird die genetische Variabilität innerhalb von Individuen, zwischen den Individuen einer Population sowie zwischen Populationen betrachtet. Die organismische Ebene umfasst die Vielfalt an Taxa (Unterarten, Arten, Gattungen oder Familien), während sich die ökosystemare Ebene auf die Vielfalt an Lebensgemeinschaften von Arten und ihre Wechselbeziehungen bezieht. Somit ist Biodiversität als Objekt schwer erfassbar, da sie quasi alles umfasst, nicht nur die Arten, sondern auch die Vielfalt innerhalb der Arten.

Entstehung des Begriffes «Biodiversität»

Obwohl der Begriff «Diversität» in der Biologie und Ökologie seit langer Zeit gebräuchlich war, sprach Thomas Lovejoy als Erster 1980 von biological diversity, daraus wurde schnell biodiversity (Lovejoy 1980). Als einer von mehreren namhaften Wissenschaftlern machte er schon damals auf den rapiden Artenschwund in tropischen Ökosystemen aufmerksam. Im Jahre 1986 richtete der American Natural Research Council das US National Forum on BioDiversity ein. Dieses Fachgremium veröffentlichte auch bald eine erste Synthese über das Ausmaß des Artenschwundes und mögliche Konsequenzen in Form eines Buches mit dem Titel «Biodiversity» (Wilson 1988). Der neu entstandene Begriff umschrieb die Lehre von der Erforschung biologischer Vielfalt und ihrer Bedrohung auf der Erde unter gleichzeitiger Berücksichtung geeigneter Schutzmaßnahmen. Die ursprünglich relativ restriktive wissenschaftliche Bedeutung von Biodiversität wurde aber innerhalb kurzer Zeit erweitert. In dem in Rio de Janeiro 1992 verabschiedeten Übereinkommen sollte mit Biodiversität ein zusätzliches Zielpublikum angesprochen werden, nämlich politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit. Biodiversität wurde so zu einem Konzept weiterentwickelt, dessen drei Hauptziele der Schutz der biologischen Vielfalt, deren nachhaltige Nutzung und die gerechte Verteilung der sich aus der Nutzung ergebenden wirtschaftlichen Vorteile sind. Die Biodiversitäts-Konvention ist eng mit dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung (im Sinne der Brundtland-Kommission) verknüpft, stellt aber eine ökonomische Argumentation in den Vordergrund, mit der Annahme, dass derartige Argumente überzeugender sind als rein ökologische oder ethische. Der ursprünglich wissenschaftliche Begriff hat schnell in verschiedenen Bereichen des Naturschutzes sowie in Verordnungen und Gesetzen einen konzeptionellen Platz gefunden. Biodiversität ist also weit mehr als ein neues Fachgebiet der Biologie. Biodiversität umfasst die ökonomische Nutzbarkeit der Natur, beinhaltet aber auch Aspekte der sozialen Gerechtigkeit sowie Schutzbestimmungen.

Biodiversität ist somit in der Wissenschaft, wie auch in der Politik eine feste Größe geworden. Bei genauer Betrachtung stellt man aber fest, dass unterschiedliche Auffassungen von Biodiversität existieren (Beierkuhnlein 2003). Die Komplexität von Biodiversität wird von vielen mangelhaft wahrgenommen oder missverstanden. Durch verschiedene Interessen gesteuerte Interpretationen verwässern den Begriff und lassen ihn zum umweltpolitischen Schlagwort verkommen. Die sich dahinter implizit verbergende Botschaft von der «bedrohten Natur» wird als soziales und politisches Konstrukt angesehen (Gaston 1996). Es gilt also zu unterscheiden, von welcher «Biodiversität» die Rede ist: Biodiversität als wissenschaftliche Messgröße, als strategisches Konzept zur Erhaltung, Entwicklung und nachhaltigen Nutzung der verschiedenen Bestandteile von belebter Natur oder einfach als Schlagwort.

Ziele des Buches

Dieses Buch stellt Biodiversität aus naturwissenschaftlicher Sicht dar und skizziert die ursprünglichen Ideen des Übereinkommens über die biologische Vielfalt. Dies bedingt, dass neben Theorie und Fakten auch Wertungen und Forderungen vorgestellt werden. Es wird gezeigt, wie Biodiversität entsteht und sich weiterentwickelt und wie sie räumlich auf der Erde verteilt ist. Es werden Methoden zur Erfassung der Biodiversität auf verschiedenen Organisationsebenen vorgestellt. Ökosysteme vollbringen Leistungen, ohne die menschliches Leben auf der Erde nicht denkbar wäre. In einem anthropozentrischen Ansatz wird die Nutzbarbeit der Biodiversität ins Zentrum gesetzt und ihre «Dienstleistungen» erfasst, die sie den Menschen bereitstellt. Ökonomisch betrachtet sind die Ökosystemleistungen von großem finanziellen Wert. Aus ethischer Sicht hat jedes Lebewesen, egal ob Pilz, Pflanze oder Tier, einen Eigenwert und der Mensch hat kein Recht, eine Art auszurotten. Unsere Zeit wird aber geprägt durch einen Artenschwund von gewaltigem Ausmaß. Die Hauptursachen für dieses Massenaussterben werden vorgestellt. Maßnahmen zur Reduktion oder gar Vermeidung weiteren Aussterbens von Arten sind durchaus bekannt, und werden auch lokal und regional an zahlreichen Stellen angewendet. Die Umsetzung der Biodiversitäts-Konvention verläuft aber nur schleppend, vor allem weil (kurzfristige) wirtschaftliche Interessen der grundlegenden Idee einer nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Umwelt entgegenwirken.

Dieses Buch richtet sich an Studierende verschiedener Fachrichtungen mit Interesse an der biologischen Vielfalt. Es soll Einblick in die verschiedenen Ansätze und Betrachtungsweisen der Biodiversität geben und Wissen über bestehende Methoden und Modelle sowie über deren Grenzen vermitteln. Für ökologische Grundlagen wird auf die Lehrbücher von Townsend et al. (2008), Nentwig et al. (2009), oder Smith & Smith (2009) verwiesen. Grundlagen für das Fachgebiet Naturschutzbiologie sind in Primack (1995) oder Groom et al. (2006) sowie über die geografische Verbreitung der Arten (Biogeografie) in Beierkuhnlein (2007) zu finden.

Weiterführende Literatur

Gaston K.J. (Hrsg.) (1996) Biodiversity – a biology of numbers and difference. Blackwell Science, Oxford.

Wilson E.O. (Hrsg.) (1988) Biodiversity. National Academy Press, Washington D.C.

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Wie entsteht biologische Vielfalt?

Zusammenfassung

Genetische Vielfalt ist die Grundlage der Evolution. Sie ist Voraussetzung für die Bildung neuer Arten. In diesem Kapitel werden verschiedene Aspekte der genetischen Vielfalt vorgestellt und die Faktoren und Prozesse erläutert, die Veränderungen in der genetischen Vielfalt bewirken. Es wird gezeigt, wie Mutationen, natürliche Selektion und genetische Drift zu Veränderungen in den Genfrequenzen der Populationen beitragen. Der Begriff «Art» wird erklärt und die speziellen Bedingungen werden dargestellt, bei denen eine Artbildung möglich ist.

Genetische Vielfalt

Zwischen den Individuen einer Population bestehen meistens genetische Unterschiede (Primack 1995). Gene sind aus Nukleotiden aufgebaut. Miteinander verbunden bilden Nukleotide lange Ketten, die sogenannten DNA-Stränge, die viele Gene enthalten und aufgeknäuelt als Chromosomen sichtbar sind. Ein Gen kann mehrere Proteine kodieren. Die genetische Variabilität ist darauf zurückzuführen, dass einzelne Gene der Individuen sich geringfügig voneinander unterscheiden. Die unterschiedlichen Ausprägungen eines Gens werden als Allele bezeichnet. Verschiedene Allele können in Struktur und Funktion unterschiedliche Formen von Proteinen produzieren, welche die Entwicklung und Physiologie des Organismus unterschiedlich beeinflussen. So können verschiedene Allele am Gen «Gehäusefarbe» bei der Hain-Bänderschnecke (Cepaea nemoralis) gelbe, rosa oder braune Gehäuse bewirken.

Die genetische Variabilität ist bei Arten mit sexueller Fortpflanzung besonders hoch, weil jedes Individuum durch die Rekombination der Gene seiner Eltern eine einzigartige Gen- und Chromosomenkombination erhält. Bei der meiotischen Zellteilung werden während des Crossing-over Gene zwischen Chromosomen ausgetauscht, das Erbgut wird umgeordnet und es entstehen neue Genkombinationen, wenn die |10◄ ►11| Keimzellen der Eltern sich zu einem genetisch einzigartigen Nachkommen vereinigen. Zwar liefern Mutationen das Ausgangsmaterial für die genetische Variabilität, aber die Fähigkeit von Arten mit sexueller Fortpflanzung, Allele nach dem Zufallsprinzip neu zu kombinieren, erhöht das Potenzial für genetische Variabilität enorm.

Die Gesamtheit der Allele einer Population wird als deren Genpool bezeichnet, die konkrete Allelkombination eines Individuums als dessen Genotyp. Als Phänotyp des Individuums werden seine morphologischen, anatomischen, physiologischen und biochemischen Eigenschaften bezeichnet, die sich aus der Ausprägung seines Genotyps unter bestimmten Umweltbedingungen ergeben.

Genetische Vielfalt ist sichtbar, wenn morphologische Eigenschaften genetisch festgelegt sind und Individuen in diesen Eigenschaften variieren, beispielsweise die Gefiederfarbe bei Wellensittichen. Viele morphologische Eigenschaften sind aber nicht vollständig durch Gene determiniert, sondern sind das Ergebnis der Wechselwirkung von Genen und Umwelt. Ähnlich wie bei der sichtbaren morphologischen Variation gibt es auch genetisch festgelegte Variation in Verhaltensweisen. Einige Schmetterlingsarten weisen populationsspezifische Präferenzen für bestimmte Pflanzenarten auf, auf denen sie ihre Eier ablegen (Kuussaari et al. 2000). Genetisch determiniert ist auch die Futterpräferenz bei der Strumpfbandnatter (Thamnophis elegans) in Nordamerika: Jungtiere aus küstennahen Populationen in Kalifornien, in deren Lebensräumen viele Nacktschnecken vorkommen, verzehrten in Wahlversuchen ausschließlich Nacktschnecken, während Jungtiere aus Inlandpopulationen Frösche und Fische bevorzugten (Arnold 1981). Schlüpfende Jungtiere der Gefleckten Schnirkelschnecke (Arianta arbustorum) zeigen je nach Population eine verschieden stark ausgeprägte Neigung zu Eikannibalismus (Baur 1994). Bei Eidechsen wurden genetisch festgelegte Unterschiede in physiologischen Eigenschaften, wie die Schnelligkeit des Wegrennens (sprint speed), nachgewiesen, und Taufliegen (Drosophila) zeigen genetisch determinierte Unterschiede in biochemischen Eigenschaften (z.B. bei Verdauungsenzymen).

In den meisten Fällen wird die genetische Vielfalt aber mithilfe von molekularbiologischen Methoden untersucht, die direkten Einblick in die Variabilität der Gene geben.

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Verschiedene Stufen der genetischen Vielfalt

In jeder Pflanzen- und Tierart können drei verschiedene Stufen von genetischer Vielfalt unterschieden werden:

• genetische Variation innerhalb von Individuen (Heterozygosität);

• genetische Unterschiede zwischen Individuen innerhalb einer Population;

• genetische Unterschiede zwischen Populationen.

Zur Schätzung der genetischen Vielfalt innerhalb eines Individuums werden die Allele an ausgewählten Genloci betrachtet. Befinden sich an einem Locus zwei identische Allele (ein Allel von der Eizelle der Mutter, das andere vom befruchtenden Spermium des Vaters), ist das Individuum an diesem Locus homozygot. Kommen aber zwei verschiedene Allele vor, dann ist das Individuum an diesem Locus heterozygot. Werden bei einem Individuum mehrere Loci beurteilt, so können die Häufigkeiten der homozygoten und heterozygoten Loci ermittelt werden. So ist beispielsweise ein Individuum an neun von zehn untersuchten Loci heterozygot (d.h. 90 % seiner Loci sind heterozygot), während ein anderes Individuum nur an zwei der zehn Loci heterozygot ist (20 % heterozygote Loci). Das erste Individuum weist eine deutlich höhere genetische Variabilität auf als das zweite. Im Extremfall sind alle Loci eines Individuums homozygot. Dies kommt bei Organismen mit klonaler Fortpflanzung oder Parthenogenese vor sowie bei der Vermehrung durch regelmäßige Selbstbefruchtung.

Innerhalb einer Population werden die verschiedenen Kombinationen von Allelen (Genotypen) betrachtet, die bei den Individuen vorkommen (Tabelle 1). Wenn alle Individuen am untersuchten Locus zwei gleiche Allele aufweisen, dann ist die Population an diesem Locus monomorph. Dies bedeutet, dass in der Population keine genetische Variation am betrachteten Locus vorhanden ist. Haben aber einige Individuen verschiedene Allele am untersuchten Locus, dann ist die Population polymorph. Mithilfe von Stichproben kann die genetische Vielfalt einer Population geschätzt werden. Dazu werden beispielsweise bei 20 Individuen je fünf Loci (variable Mikrosatelliten-Marker) untersucht. Zur Bewertung der genetischen Vielfalt werden die Anzahl der verschiedenen Allele, ihre Häufigkeiten, das Verhältnis «Anzahl Allele pro Locus» sowie die Anzahl (oder der Prozentanteil) polymorpher Loci beigezogen.

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Tabelle 1: Genetische Vielfalt in drei Kreuzotter-(Vipera berus)-Populationen.

Dargestellt sind die Allelhäufigkeiten von fünf variablen Loci (Mikrosatelliten-Marker) und die Anzahl der untersuchten Individuen (N). Die Population im Juragebirge ist am Locus Vb-B10 monomorph, während die beiden anderen Populationen am gleichen Locus polymorph sind (d.h. zwei bzw. drei Allele haben). Die Voralpenpopulation ist am Locus Vb-A8 monomorph. Die genetische Vielfalt ist in der Alpenpopulation am größten (Daten aus Ursenbacher et al. 2009).

Die Genfrequenzen einer Population können sich durch natürliche Selektion, Ein- und Auswanderung, Genfluss und Zufallsprozesse wie genetische Drift verändern (siehe Evolutionsprozesse). Die in Tabelle 1 aufgeführten Werte zeigen, dass die Kreuzotterpopulation in den Alpen eine größere genetische Vielfalt aufweist als die beiden Populationen im Juragebirge und in den Voralpen. Die genetischen Unterschiede zwischen Populationen sind von großer Bedeutung für die genetische Vielfalt der Art (Genpool der Art). Genetisch vielfältige Populationen haben eine größere Wahrscheinlichkeit, sich an veränderte Umweltbedingungen|13◄ ►14| anpassen zu können als «genetisch verarmte» Populationen. Bei extremen Umweltveränderungen besitzt möglicherweise eine Population die geeigneten Gene um dem neuen Selektionsdruck widerstehen zu können und somit das Überleben der Art zu ermöglichen. So kann beispielsweise die Sortenvielfalt von Nutzpflanzen – eine Form der genetischen Vielfalt – zur Überlebensfrage werden: In den 1970er-Jahren vernichtete ein aggressives Virus die Reisernten von Indien bis Indonesien. Als Folge wurden 6273 Reissorten auf ihre Resistenz gegen das Virus getestet. Nur eine einzige Sorte besaß Gene, die die Pflanze gegen die Viruskrankheit immun machten. Diese Sorte konnte dann weiter gezüchtet werden. Im Allgemeinen kann genetische Vielfalt auch als «Lebensversicherung» der Population oder Art betrachtet werden.

Fortpflanzungssystem und genetische Vielfalt

Natürliche Populationen haben eine räumliche wie auch eine zeitliche Struktur. Beide beeinflussen die räumliche Struktur der genetischen Vielfalt der Art, zusammen mit weiteren Faktoren wie das Fortpflanzungssystem, die Ausbreitungsdistanzen der Männchen und Weibchen und die Fähigkeit der Weibchen, die Spermien, welche sie von verschiedenen Männchen erhalten haben, zu speichern. Das Fortpflanzungssystem spielt dabei die wichtigste Rolle. In der Regel ist die genetische Vielfalt am geringsten bei Arten mit klonaler Fortpflanzung. Populationen von Pflanzen, die sich ausschließlich vegetativ fortpflanzen, können aber aus verschiedenen Klonen bestehen. Bei Arten mit häufiger oder obligater Selbstbefruchtung (z.B. gewisse zwittrige Landschnecken) ist die genetische Vielfalt eher gering. Bei Säugetieren spielt das in den Populationen vorherrschende Paarungssystem eine wichtige Rolle für die genetische Vielfalt. Sie ist am größten bei Arten mit herumstreifenden Männchen, gefolgt von Arten mit Revierverhalten. Bei Populationen mit Harems-Bildung (z.B. See-Elefanten) und Balzplatz-Fortpflanzungsverhalten ist die genetische Vielfalt geringer, weil die Gene von einigen wenigen Männchen überdurchschnittlich häufig im Genpool vertreten sind.

Evolutionsprozesse

Verschiedene Prozesse tragen zu Veränderungen der genetischen Vielfalt innerhalb und zwischen Individuen sowie zwischen Populationen |14◄ ►15| bei. Mutationen bedeuten eine Veränderung im genetischen Material. Durch Mutationen können neue Varianten (Allele) der Gene entstehen, die veränderte oder neue Merkmale verursachen. Mutationen können spontan auftreten oder durch äußere Einflüsse wie radioaktive Strahlung oder erbgutverändernde Chemikalien (Mutagene) verursacht werden. In der Evolution sind Keimbahnmutationen von Bedeutung. Dies sind Mutationen, die an die Nachkommen über die Keimbahn weitergegeben werden. Sie betreffen Eizellen oder Spermien sowie deren Vorläufer. Mutationen können unter anderem durch Fehler bei der Replikation der DNA und bei Reparaturvorgängen sowie durch falsche Zusammenlagerung von DNA-Sequenzen bei der Meiose entstehen. Bei Punktmutationen wird nur ein Nukleotid im genetischen Code verändert (z.B. eine Base ausgetauscht). Mutationen können negative Auswirkungen für den Organismus haben, oder ohne Fitnesskonsequenzen für das betroffene Individuum sein. Nur in sehr seltenen Fällen hat eine Mutation positive Folgen für den Organismus.

Die von Charles Darwin (1809 – 1882) entwickelte Evolutionstheorie stellt natürliche Selektion als Mechanismus in den Vordergrund. Survival of the fittest bedeutet nach Darwin, dass diejenigen Individuen überleben und sich vermehren können, welche an die vorherrschenden Bedingungen (extreme Temperaturverhältnisse, Prädatorendruck, verändertes Nahrungsangebot, usw.) am besten angepasst sind. Individuen mit bei den vorherrschenden Bedingungen vorteilhaften Merkmalen (z.B. Farbe, Größe oder Verhalten) können mehr Nachkommen produzieren als Individuen ohne diese Merkmale. Die vorteilhaften Merkmale kommen deshalb in der nächsten Generation häufiger vor, während die nachteiligen seltener werden, vorausgesetzt, dass diese Merkmale vererbbar sind. Über viele Generationen betrachtet, können durch diesen Prozess unterschiedliche Anpassungen an verschiedene Umweltbedingungen entstehen. Wenn sich zwei oder mehrere Populationen von Lebewesen immer stärker in ihren Merkmalen unterscheiden, d.h. immer größere genetische Differenzen auftreten, kann sich die Art in neue Arten aufspalten (siehe: Wie entstehen neue Arten?). Eine wichtige Voraussetzung für Anpassungen durch natürliche Selektion sowie für Artbildung ist das Vorhandensein von genetischen Unterschieden zwischen Individuen (genetische Vielfalt).

Der englische Biomathematiker Ronald Fisher (1890 – 1962) kombinierte das Evolutionsmodell von Darwin und nachfolgende Beiträge von verschiedenen Genetikern zur einheitlichen Synthetischen Theorie der Evolution (oder Neodarwinismus). Er entwickelte damit die Grundlage|15◄ ►16| für quantitative Untersuchungen, welche auf Allelfrequenzen basieren (Fisher 1930). Evolution findet statt, wenn sich die Häufigkeiten von Allelen in einer Population verändern. Durch Mutationen können neue genetische Varianten entstehen. Durch Rekombination werden Allele in neuen Kombinationen an die Nachkommen weitergegeben.

Das zufällige Weitergeben von Allelen an die nächste Generation wird genetische Drift genannt. Dabei spielt die Populationsgröße eine wichtige Rolle. Das Allel-Set, das eine Generation an die Nachfolgegeneration weitergibt, ist statistisch gesehen immer eine Zufallsstichprobe. In großen Populationen werden auch Allele, welche in geringen Häufigkeiten vorkommen, an die nächste Generation weitergegeben, während bei kleinen Populationen seltene Allele verloren gehen. Durch genetische Drift kann sich die Nachfolgegeneration in den Allelhäufigkeiten deutlich von der Vorgängerpopulation unterscheiden.

Beim Gründereffekt besiedeln wenige Individuen einen neuen Lebensraum, etwa eine Insel. Diese Tiere repräsentieren nicht die ganze Bandbreite der in der Ausgangspopulation vorhandenen Allele. Wegen der geringen Vielfalt an mitgebrachten Allelen kann die neu entstandene Inselpopulation sich unter den veränderten Bedingungen anders entwickeln als die Ausgangspopulation. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass auf der Insel eine neue Art entstehen kann (siehe: Wie entstehen neue Arten?).

Was ist eine Art?

Diese auf den ersten Blick triviale Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. In verschiedenen Artkonzepten wird mithilfe eindeutiger Kriterien versucht, die Vielfalt der Lebensformen auf unserem Planeten in diskrete Einheiten aufzuteilen. Da Evolution aber ein ständig fortschreitender Prozess ist, gibt es viele unterschiedlich stark ausgeprägte Übergangsformen zwischen Arten, die kaum durch eine gängige Definition taxonomisch zweifelsfrei abgegrenzt werden können. Die beiden am häufigsten verwendeten Definitionen für eine Art lauten:

• Eine Art ist eine Gruppe von Individuen, die sich in morphologischer, physiologischer oder biochemischer Hinsicht von anderen Gruppen unterscheidet (morphologische Definition einer Art, Morphospezies).

• Eine Art ist eine Gruppe tatsächlich und potenziell kreuzbarer Individuen, die sich mit Individuen anderer Gruppen unter natürlichen |16◄ ►17| Bedingungen nicht fortpflanzen (biologische Definition der Art, Biospezies).

Das Morphospezies-Konzept ist nützlich zur Unterscheidung der großen Zahl von lebenden, aber auch ausgestorbenen und nur fossil überlieferten Pflanzen- und Tierarten. Die folgenden Fakten zeigen aber die Grenzen dieses Konzeptes auf:

• Innerhalb einer Art können die Merkmale kontinuierlich variieren. Ein Phänotyp ist nicht vollständig durch den Genotyp determiniert, sondern ist das Ergebnis der Wechselwirkung von Genotyp und Umwelt. Ein und derselbe Genotyp kann je nach Lebens- und Umweltbedingungen unterschiedliche Formen und Größen bewirken. Viele Arten zeichnen sich durch eine hohe phänotypische Plastizität aus. So variiert beispielsweise die Blattform und Größe des Löwenzahns (Taraxacum officinale) stark in Abhängigkeit von der Niederschlagsmenge, Sonneneinstrahlung und Jahreszeit zum Zeitpunkt der Blattbildung.

• Innerhalb einer Art können Merkmale diskret variieren (intraspezifischer Polymorphismus). Individuen der Hain-Bänderschnecke (Cepaea nemoralis) weisen eine gelbe, rosa oder braune Gehäusefarbe auf. Zusätzlich können die Gehäuse mit einem bis fünf, manchmal zusammenhängenden dunkelbraunen Bändern verziert sein. Alle diese Merkmale sind genetisch determiniert (Murray 1975). Das sehr variable Aussehen der Hainbänderschnecke verleitet zu einer Zuordnung von Individuen in verschiedene Arten.

• Viele Arten durchlaufen während der Individualentwicklung verschiedene Stadien (z.B. Larvenstadien bei Fliegen, Raupen und Puppe bei Schmetterlingen). Larvenstadien lassen sich oft nur mit großen Schwierigkeiten einer bestimmten Art zuordnen. Es ist auch vorgekommen, dass Larven einer schon bekannten Art als eigene, neue Art beschrieben wurden.

• Bei zahlreichen Arten sehen weibliche und männliche Individuen unterschiedlich aus (z.B. Stockente, Auerhuhn, Rothirsch, zahlreiche Insekten). Dieser sogenannte Sexualdimorphismus hat in verschiedenen Fällen dazu geführt, dass Weibchen und Männchen derselben Art ursprünglich verschiedenen Arten zugeordnet wurden.

• Biologisch völlig verschiedene Arten können aufgrund ähnlicher Selektionsbedingungen in ihrem Phänotyp konvergieren, sodass sie rein äußerlich kaum mehr zu unterscheiden sind.

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Das biologische Artkonzept basiert auf der Annahme, dass die Isolationsmechanismen zwischen den einzelnen Arten auf biologischen Eigenschaften der Organismen beruhen. Zwischenartliche Kreuzungen werden durch ethologische, morphologische, physiologische oder genetische Isolationsmechanismen verhindert. Dadurch bilden die Individuen einer Art eine Fortpflanzungsgemeinschaft mit einem gemeinsamen Genpool. Aber auch das biologische Artkonzept hat seine Grenzen: