Hatha Yoga

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Vollständige eBook-Ausgabe der im Copress Verlag

erschienenen Printausgabe (ISBN 978-3-7679-1187-1).

Erstmals erschienen 2004

unter dem Titel »Hatha Yoga illustrated«

bei Human Kinetics

www.humankinetics.com

Copyright © 2004, 2006 by Martin Kirk, Brooke Boon and Daniel DiTuro

© 2015 der deutschen Ausgabe:

Copress Verlag in der

Stiebner Verlag GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Übersetzung aus dem Englischen: Christa Trautner-Suder, Dr. Iris Klofat (Fachberatung)

Satz und Redaktion der deutschen Printausgabe: Verlags- und Redaktionsbüro München,

www.vrb-muenchen.de

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch darf nur nach vorheriger

schriftlicher Zustimmung des Copyright-Inhabers vollständig

bzw. teilweise vervielfältigt, in einem Datenerfassungssystem

gespeichert oder mit elektronischen bzw. mechanischen Hilfsmitteln,

Fotokopierern oder Aufzeichnungsgeräten bzw. anderweitig

weiterverbreitet werden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7679-2023-1

www.copress.de

Für meine Frau Jordan Kirk, meinen Sohn Jonathan

sowie meine Lehrer Karen Wilson und Douglas Brooks

Martin Kirk

Für meinen Mann Jarrett und meine wunderbaren

Kinder Jory, Jace und Brynn

Brooke Boon

Für Brenda und Brandy

Daniel DiTuro

INHALT

Vorwort • Einleitung

KAPITEL 1Kunst und Ausübung des Hatha-Yoga

Die Wurzeln des Yoga

So profitieren Sie am meisten von Ihrer Yoga-Praktik

Meditieren lernen

So nutzen Sie die Asanas in diesem Buch am besten

KAPITEL 2Stehende Haltungen

Berghaltung

Nach unten schauender Hund

Gestreckte seitliche Winkelhaltung

Gestrecktes Dreieck

Krieger II

Halbmond oder Ausfallschritt

Krieger I

Gedrehte Seitliche Winkelhaltung

Gedrehtes Dreieck

Stuhlhaltung

Gegrätschte Vorbeuge aus dem Stand

Tor

Demütiger Krieger

Seitliche intensive Dehnung

KAPITEL 3Gleichgewichtshaltungen

Adler

Baum

Zehenspitzunghaltung

Boot

Gedrehter Halbmond

Ausgestreckte Hand greift große Zehe

Krieger III

Tänzer

Halbmond

KAPITEL 4Arm-Balance-Haltungen

Schiefe Ebene

Seitliche schiefe Ebene

Kranich

Pfau

Brett

KAPITEL 5Umkehrhaltungen

Schulterstand

Pflug

Schulterstand an der Wand

Kopfstand

KAPITEL 6Rückwärtsbeugen

Kobra

Nach oben schauender Hund

Kamel

Brücke

Bogen

Heuschrecke

Rad

Fisch

Katze/Kuh

Taube

KAPITEL 7Drehhaltungen

Sanfte Wirbelsäulendrehung

Drehung der Wirbelsäule in Rückenlage

Einfache gedrehte Sitzhaltung

Halber Lotussitz mit Drehung

Drehsitz I

Drehsitz II

KAPITEL 8Vorwärtsbeugen

Sitzende Vorwärtsbeuge

Stehende Vorwärtsbeuge

Knie-Kopf-Haltung

Umgedrehte Knie-Kopf-Haltung

Weite Grätsche im Sitzen

Weite Grätsche im Sitzen zur Seite

Vorwärtsbeuge bei gebeugtem Knie

Tiefe Hocke

Spagat

KAPITEL 9Sitzhaltungen

Lotussitz

Aufmerksamkeit nach innen richten

Wiege

Heldensitz

Kniehaltung

Löwe

Kuhgesicht

Stockhaltung

 

Symbol des Yoga

Reiher

Vollkommene Haltung

KAPITEL 10Liege- und Entspannungshaltungen

Knie-zur-Brust-Haltung

Liegender Held

Hand-zum-Fuß-Haltung

Liegender festgehaltener Winkel

Twist im Liegen

Gestützte Brücke

Unterstützte ruhende Heldenposition

Haltung des Kindes

Totenhaltung

KAPITEL 11Übungsfolgen

Sanftes Yoga I

Sanftes Yoga II

Yoga für die Beweglichkeit I

Yoga für die Beweglichkeit II

Vinyasa Yoga I

Vinyasa Yoga II

Vinyasa Yoga III

Sonnengruß I

Sonnengruß II

Mondgruß I

Mondgruß II

Literaturhinweise • Adressen • Internet

Illustrierter Asanas-Index • Alphabetisches Verzeichnis der Bezeichnungen in Sanskrit Über die Autoren • Danksagung

VORWORT

»Auch die längste Reise beginnt mit einem ersten Schritt«, heißt es in einem chinesischen Sprichwort. Am Anfang dieses Buches stand für mich ein Foto, das ich im Februar 1999 aufgenommen habe. Wie so vieles im Leben war es nicht geplant. Ich praktizierte seit etwa sechs Monaten Hatha-Yoga und war von seiner therapeutischen Wirkung begeistert. Als ein Model, mit dem ich gerade arbeitete, im Schneidersitz auf dem Boden saß und ihr fließendes Kleid um sich herum drapierte, bat ich sie, die Innenflächen ihrer Hände zur Grußgeste Namaste aneinanderzulegen und die Augen zu schließen. Das Foto nannte ich dann auch gleich »Namaste«. Es gehört bis heute zu meinen liebsten Aufnahmen, und daraus entwickelte sich auch mein Yoga-Projekt, mit dem ich versuche, die geistigen, physischen und spirituellen Wohltaten des Yoga für die Menschen fotografisch umzusetzen.

Bei der weiteren Beschäftigung mit dem Thema überraschte es mich, wie viele falsche Vorstellungen über diese alte ostindische Philosophie kursieren. Einige nahmen an, es handle sich um eine Religion. Andere dachten, das sei nur etwas für Frauen. Als ich ihnen meine Fotos zeigte, um ihnen damit die die wahre Natur der Yoga-Praxis zu illustrieren, die allen Menschen unabhängig von ihrem religiösen Glauben offensteht, waren einige erstaunt, andere fasziniert; wieder andere blieben skeptisch. Da wurde mir klar, dass noch viel mehr getan werden muss, um die Menschen über die tatsächlichen seelischen und körperlichen Vorteile des Yoga aufzuklären – insbesondere über Hatha-Yoga, bei dem es vor allem darum geht, durch eine Mischung aus Körperhaltungen (Asanas), Atemübungen (Pranayamas) und Meditationen das innere Gleichgewicht zu erreichen.

Ob Sie nun selbst bereits ein Anfänger im Hatha-Yoga oder einfach nur neugierig sind – dieses Buch liefert Ihnen detaillierte Informationen für die Praxis im Alltag. In Kapitel 1 finden Sie Hintergrundinformationen zum Thema Yoga und erfahren, wie Sie den größten Nutzen aus Ihren Übungen ziehen können. In den Kapiteln 2 bis 10 stellen wir Ihnen 77 Asanas vor. Diese sind unterteilt in stehende Haltungen, Gleichgewichtshaltungen, Arm-Balance-Haltungen, Umkehrhaltungen, Rückwärtsbeugen, Drehhaltungen, Vorwärtsbeugen, Sitzhaltungen sowie Liege- und Entspannungshaltungen. Für jede Körperhaltung illustrieren Fotos die Ausgangs-, Zwischen- und Endstellungen; hinzu kommen detaillierte Schritt-für-Schritt-Anleitungen. Außerdem erfahren Sie etwas über die mentalen und physischen Vorteile, Gegenanzeigen, Gegenhaltungen und Blickrichtungen (Drishtis). Die meisten Asanas zeigen leichte Abwandlungen für Anfänger, weniger bewegliche Ausübende oder Menschen mit Handicap sowie Haltungsvarianten zur Verbesserung Ihrer Yoga-Praxis. Kapitel 11 illustriert die Hatha-Yoga-Routine – von einer sehr sanften, primär aus gestützten Haltungen bestehenden Variante bis hin zu einer kraftvolleren mit Sonnen- und Mondgruß, bei der Sie mit oder ohne Pause von einer Haltung in die nächste wechseln.

Anders als bei vielen anderen Formen der körperlichen Aktivität oder spirituellen Übung findet im Hatha-Yoga praktisch jeder seinen Stil und Schwierigkeitsgrad. Die Autoren Martin Kirk und Brooke Boon sind beide zertifizierte Yoga-Ausbilder.

In diesem Buch wird Sanskrit verwendet, jene altindische Sprache, in der die originalen Yoga-Texte geschrieben wurden. Lassen Sie sich, falls Yoga noch ganz neu für Sie ist, davon nicht abschrecken: Auf Ihrem weiteren Yoga-Weg wird Ihnen das Lernen einiger Begriffe in Sanskrit helfen. Und sollten die einzigen Sanskrit-Worte, die Sie jemals erlernen, »Asana« (Haltung) und »Namaste« (ich ehre in dir den göttlichen Geist, den ich auch in mir selbst ehre) sein, dann haben Sie zumindest den ersten wichtigen Schritt schon gemacht. Und der steht bekanntlich am Anfang selbst der längsten Reise …

Namaste,

Daniel DiTuro

EINLEITUNG

Herzlich willkommen! Mit diesem Buch beginnen Sie eine wunderbare Entdeckungsreise in Ihren Körper wie in Ihr Innerstes. Ob es Ihnen um mehr Kraft und Beweglichkeit, um körperliche Heilung oder um ein tieferes Verständnis des Lebens geht – Yoga ist ein idealer Weg, ihr physisches, mentales, emotionales und spirituelles Potenzial voll auszuschöpfen. Vor Ihnen sind schon viele Reisende in Tausenden von Jahren den gleichen Weg nach innen gegangen, sodass er gut kartiert ist. Das heißt: Ihre persönliche Yoga-Reise wird so individuell sein wie Sie selbst, und doch werden Sie auf Ihrem Weg nie alleine unterwegs sein, sondern als Teil einer großen Karawane von Menschen, die danach streben, ihr Leben zu bereichern und die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Jeder kann Yoga für sich nützen, egal, wie alt er ist, aus welcher Kultur er stammt oder an welche Religion er glaubt. Einige gehen auf dem Weg nur ein kurzes Stück, andere geleitet er durch ein ganzes Leben.

Dieses Buch soll sowohl dem Anfänger als umfassende Einführung in das Thema dienen als auch dem Fortgeschrittenen als Leitfaden für die Fortsetzung seiner Yoga-Reise. Im Zentrum stehen die Asanas (Körperhaltungen). Bei jeder einzelnen beschreiben wir Ihnen exakt, wie Sie in die jeweilige Körperhaltung gelangen, wie Sie die korrekte Ausrichtung finden und wie Sie den größten Nutzen aus der Übung ziehen. Hinzu kommen Einführungen in weitere Themenbereiche wie Pranayamas (Atemübungen), Mudras (Symbole und Gesten mit heilender Wirkung und spirituellen Inhalten), Meditation. Jede einzelne Übung wird für Ihr Leben hilfreich sein, alles zusammen kann Ihr Leben verändern.

Denn Yoga ist vermutlich die älteste Lehre vom Leben überhaupt. Aus dem Altindischen übersetzt bedeutet das Wort »Verbindung«, »Vereinigung«. Dabei geht es um eine ausgewogene Balance aller körperlichen, geistigen und seelischen Energien. Um eine solche Harmonie zu erreichen, müssen wir mit uns selbst ins Reine kommen. Nicht zufällig sind wir immer dann am glücklichsten, wenn wir unserem Herzen folgen. Ein harmonisches Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele bedeutet Gesundheit; Krankheit verweist auf eine Disharmonie. In einem spirituellen Sinn geht es beim Yoga auch darum, sein individuelles Selbst mit dem höchsten Selbst, dem Universum, in Einklang zu bringen.

Ihren Ursprung hat diese philosophische Lehre in Indien. Felsmalereien und Darstellungen auf Tonscherben, die Figuren in verschiedenen Yoga-Haltungen zeigen, belegen, dass dort schon seit Tausenden von Jahren Yoga praktiziert wird. Die ersten schriftlichen Zeugnisse gehen auf das 2. Jahrhundert v. Chr. zurück, als der indische Gelehrte Patanjali mit seinen Yoga-Sutras die bis heute als klassisch gültigen Yoga-Regeln formulierte. Aus diesen entwickelten sich die verschiedenen Yoga-Formen, von denen Hatha-Yoga die heute am meisten verbreitete und im Westen wohl auch bekannteste Form ist.

»Hatha« bedeutet im Altindischen wörtlich »Kraft«, die Silbe »ha« leitet sich von »Sonne«, »Sonnenatem« ab, die Silbe »tha« von »Mond«, »Mondatem«. »Hatha« umschreibt somit das vereinende Prinzip dieser gegensätzlichen Energien: Beim Hatha-Yoga geht es darum, die aufbauenden und heilenden Kräfte zu wecken, damit sich die vielfältigen Energien von Körper, Geist und Seele harmonisieren können.

Im Lauf seiner Geschichte hat sich Yoga immer weiterentwickelt, um den Bedürfnissen der Menschen und der jeweiligen Zeit gerecht zu werden. Viele der aktuell gebräuchlichen Haltungen im Hatha-Yoga sind weniger als hundert Jahre alt. Sie können bis zu Tirumalai Krishnamacharya (1888–1989) zurückverfolgt werden, einem in Muchukundapura, einem kleinen südindischen Dorf, geborenen Mann, der oft als »Vater des modernen Yoga« bezeichnet wird. Krishnamacharya war nicht nur einer der einflussreichsten Yoga-Lehrer des 20. Jahrhunderts, auch einige seiner Schüler entwickelten seine Lehre fort, etwa Bellur Krishnamachar Sundararaja Iyenga (1918–2014), zu dessen Schülern wiederum viele heute bekannte Lehrer wie Angela Farmer, Victor Van Hooten, Rodney Yee und andere gehören.

Die in diesem Buch vorgestellten Asanas verbinden das traditionelle Hatha-Yoga mit den neuesten Erkenntnissen der Biomechanik und der Bioenergetik. Sie haben bereits Tausenden von Yogis – Anfängern wie erfahrenen Schülern – geholfen, sich individuell weiterzuentwickeln und dabei die fundierte Ausrichtung von Körper, Geist und Herz zu unterstützen. Zudem wurden sie mit großem Erfolg zur Behandlung und Prävention von Verletzungen eingesetzt

Zu den dokumentierten medizinischen Verdiensten des Yoga gehören eine Steigerung von Kraft und Ausdauer, eine Entlastung von Stress und innerer Unruhe sowie eine Senkung des Blutdrucks. Die meisten Yoga-Schüler berichten, dass sie sich durch regelmäßige Yoga-Übungen besser fühlen. Ob Sie nun Ihre sportliche Leistungsfähigkeit verbessern, eine alte Verletzung heilen oder ganz allgemein Ihre Beweglichkeit erhöhen wollen – in diesem Buch werden Sie genau die richtigen Übungen für sich finden.

Und denken Sie daran, dass es dabei nicht um einen Leistungswettbewerb geht, sondern um Ihre individuelle Lebensqualität. Messen Sie Ihren Erfolg nicht daran, wie gut Sie eine spezielle Haltung einnehmen können, sondern haben Sie einfach Freude am Tun.

»Der Weg ist das Ziel«, sagt man gern, und auch beim Yoga kommt es vor allem darauf an, die Reise als solche zu genießen …

KAPITEL 1

Kunst und Ausübung des Hatha-Yoga

Yoga entspricht dem Streben des Menschen, sich an seine wahre Natur zu erinnern, sein innerstes Ich zu finden. Seit Urzeiten hat der Mensch versucht, die Conditio humana (die Bedingung des Menschseins) zu überwinden, um über das gewöhnliche Bewusstsein hinauszukommen. Grundlegende Fragen wie »Wer bin ich?« und »Warum bin ich hier?« sind seit Jahrtausenden der Antrieb für das spirituelle Streben der Menschen. In jedem von uns existiert eine tiefe Sehnsucht danach, mit etwas Höherem verbunden zu sein, ein Zugehörigkeitsgefühl, einen Sinn im Leben zu finden. Im Zentrum dieser Sehnsucht steht der grundlegende Wunsch des Menschen nach einem Glück, das Kultur und Zeit transzendiert. Jeder Mensch wünscht sich, Glück zu finden.

 

Nirgendwo war der Impuls, die Conditio humana zu überwinden, beständiger als in Indien – der Heimat einer überwältigenden Vielfalt spiritueller Glaubensrichtungen, Praktiken und Ansätze, um dem Suchenden zu helfen, höhere Bewusstseinsebenen zu erreichen. Yoga ist mit der reichen indischen Kultur eng verwoben und entwickelte sich aus denselben Wurzeln wie viele andere spirituelle Praktiken.

Auch wenn die Kunst des Yoga häufig mit dem Hinduismus assoziiert wird, ist Yoga keine Religion. Man muss nicht religiös sein, um Yoga auszuüben, ebenso wenig schließt Yoga irgendeine religiöse Ausübung aus. Die einzige Voraussetzung, um Yoga auszuüben, ist der Wunsch, mehr über sich selbst und seine Beziehung zum Universum zu erfahren.

Die im Westen bekannteste Yoga-Form wird als »Hatha-Yoga« bezeichnet. Dabei geht es um eine Vereinigung gegensätzlicher Qualitäten, wie sie zum einen mit der Sonne (Hitze, Männlichkeit, Anstrengung) und zum anderen mit dem Mond (Kühle, Weiblichkeit, Hingabe) assoziiert werden. Diese Gegensätze wurden auch als »Trittsteine auf einem Weg der Gnade« bezeichnet.

Hatha-Yoga soll uns dabei helfen, offenkundige Gegensätze in eine harmonische Verbindung zu bringen – an einem Ort der Mitte. Diese Mitte ist für die meisten von uns das Tor zu einer völlig neuen Welt. Sie ist ein Ort, an dem wir wunderbare neue Dinge über unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten für unser Leben entdecken. Sie ist ein Tor zu unserem eigenen Herzen. Den Weg durch dieses Tor gehen wir nicht allein. Vor uns finden wir die Fußabdrücke vieler, die vor uns auf diesem Weg gegangen sind und ihn für uns erleuchtet haben. Wir könnten auch von einem breiten Fluss sprechen, dessen Strömung die Hoffnungen und Träume vieler Suchender über die Jahrhunderte hinweg mit sich trägt. Diese Strömung hat eine Kraft, die uns auf unserer eigenen spirituellen Reise helfen wird: die Kraft der Gnade. Sie hilft uns bei der Suche nach unserem individuellen Glück.

Die Wurzeln des Yoga

Erstmals erwähnt wurde Yoga in den Veden (»Veda« = »Wissen«), den ältesten heiligen Schriften des Hinduismus. Sie bestehen aus vier Samhitas (Sammlungen), deren älteste »Rigveda« heißt. Darin taucht das Wort »Yoga« in seiner anfänglichen Bedeutung als »Joch« (bzw. »Geschirr«) auf, was darauf verweist, dass damals das Individuum mit einem Reisenden verglichen wurde – der Körper als Wagen, der Verstand als Kutscher, die fünf Sinnesorgane als Pferde; auch einen »Fahrgast« gab es (die Seele) und eben das Geschirr.

Die Anfänge der vedischen Überlieferung reichen bis in das 2. Jahrtausend v. Chr. zurück und stehen wohl in Zusammenhang mit der Einwanderung arischer Gruppen in das Indusschwemmland sowie dann weiter entlang der Gangesebene. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Sprüche und Hymnen für den priesterlichen Gebrauch bei feierlichen Opferhandlungen. In seiner frühesten Form wurde auch Yoga im Kontext religiöser Opferhandlungen und mystischer Ekstasetechniken praktiziert.

Der Inhalt der Veden galt als göttliche Offenbarung, welche die Brahmanen (Priester und Weise der höchsten Gesellschaftskaste) in tiefer Meditation in ihrem Herzen »hörend« empfangen hatten und zunächst nur im Rahmen eines engen Lehrer-Schüler-Verhältnisses mündlich, durch Rezitation, weitergaben. Mit den Niederschriften der Veden um 1000 v. Chr. wurde das bis dahin ausschließlich von den Brahmanen gehütete Wissen erstmals auch einer kleinen lesenden Minderheit zugänglich gemacht.

An die Veden schließen sich zahreiche Brahmanas an – Erläuterungstexte mit präzisen Anweisungen für die Ausführung der heiligen Riten und erklärenden Kommentaren zu ihrer Bedeutung. Einige dieser Brahmanas münden ihrerseits in Aranyakas – Opfermystik und priesterliche Philosophie beinhaltende »Waldtexte« (die nur in der Einsamkeit des Waldes gelehrt werden durften).

Um 800 v. Chr. fasste man quasi die Essenz der Veden in den Upanischaden zusammen, die ihrerseits im Lauf der Jahrhunderte immer wieder kommentiert und dabei zu einer entscheidenden Grundlage der späteren indischen Philosophie wurden, von denen sich auch abendländische Philosophen wie Leibnitz und Schopenhauer noch beeinflussen ließen.

Das Wort »Upanischaden« setzt sich zusammen aus den Vorsilben upa (»Zugang«) und ni (»nah«) sowie der Wortwurzel schad (»sitzen«). Gemeint ist eine »geheime, belehrende Sitzung«. Im Wortsinn dienten die Upanischaden als Einladung, sich neben einen Lehrer zu setzen, der dem Schüler ein tieferes Verständnis vermitteln kann. In der Diskussion über die Veden wurden alle elementaren Fragen der Menschheit und der Welt berührt. Die Upanischaden waren nach den Worten von Douglas Brooks, einem Religionsprofessor an der University of Rochester, für diejenigen bestimmt, die »nach Unterrichtsende noch bleiben«, wollen, um noch tiefer zu gehen – um nicht nur nach dem Wie zu fragen, sondern auch nach dem Warum; die also nicht nur wissen wollten, wie das Universum beschaffen ist, sondern auch, warum es so beschaffen ist; was seine eigentliche Natur ist und welchen Platz sie selbst darin einnehmen.

Aus Angst vor wem brennt das Feuer? Aus Angst vor wem scheint die Sonne? Aus Angst vor wem erfüllen Winde, Wolken und der Tod ihre Aufgaben?

Upanischaden

Mit den Upanischaden wurde der philosophische Kerngedanke entwickelt, dass letztlich alles eins (und demzufolge Gott in allem sowie alles in Gott) sei. In diesem Zusammenhang ließ sich ein Erlösungsweg für den Menschen formulieren, bei dem es um die Vereinigung Atmans (das wahre Selbst des Menschen) mit Brahman (das höchste abstrakte Eine – Brahma ist der Schöpfer) ging. Dadurch veränderte sich auch der Schwerpunkt des Yoga – weg von einer zutiefst introspektiv-meditativen, auf Opferrituale fokussierten Praktik und hin zu einer vermehrt auf die Erkennung des wahren Selbsts ausgerichteten Praktik. Diesem Wandel entsprechen auch die von dem indischen Gelehrten Patanjali zwischen 200 v. Chr. und 200 n. Chr. zusammengestellten Yoga-Sutras (sanskrit. »sutra« = »Leitfaden«), eine Sammlung von 196 aphoristisch formulierten Lehrsätzen, die bis heute als Grundpfeiler des Klassischen Yoga gelten, das im nächsten Abschnitt genauer erkundet wird.

Drei yogische Weltsichten

In Indien praktizieren viele Hindus Yoga, aber nicht alle Yogis sind Hindus. Yoga ist dort nur eine von verschiedenen philosophischen Schulen, die orthodoxe Hindus als gültige Darstellung der vedischen Wahrheit anerkennen. In der Evolution des indischen Denkens haben viele solcher Schulen eine wichtige Rolle gespielt und auch das westliche Denken beeinflusst. Im Wesentlichen bilden drei dieser Schulen den Kern des zeitgenössischen Yoga: Klassisches Yoga, Advaita Vedanta und Tantra.

Klassisches Yoga

Im Klassischen Yoga sind Materie und Geist unterschiedliche Realitäten, die sich nie vermischen oder verbinden. Der Geist ist absolut, unwandelbar und der Materie überlegen. Die Materie ist relativ, wandelbar und dem Geist unterlegen. Die wesentliche Natur des Menschen ist der reine Geist, während alles in der physischen Welt, einschließlich Gedanken und Gefühle, als Materie betrachtet wird. Das menschliche Leid gilt als das Ergebnis einer Konfusion zwischen der wahren Natur des Menschen und der qualitativ geringeren, materiellen Realität. Ziel des Klassischen Yoga ist es, diese beiden Realitäten zu trennen, die wahre Natur des Menschen zum Vorschein zu bringen. Es soll den Schülern helfen, ihren unsterblichen Geist zu erfahren. Ziel der Yoga-Praktik ist es, sich in seinen Körper zu versenken, um ihn verlassen zu können. Die Übungen beinhalten manchmal eine harte Disziplin, die von den Schülern verlangt, über ihren Schmerz hinauszugehen, um zu realisieren, dass es da noch mehr gibt als ihren Körper oder ihre Gefühle. Da der Körper als qualitativ nachrangig gilt, muss er bis zur Unterwerfung diszipliniert werden, damit der Geist erkennbar wird. Wenn Sie einen Yoga-Kurs besuchen, der vom Klassischen Yoga beeinflusst ist, wird wahrscheinlich sehr großer Wert auf die Kontrolle von Körper und Geist durch Disziplin gelegt. Sie werden Sätze hören wie »Überwinde den Schmerz«, wenn die Haltungen besonders anspruchsvoll werden.

Für den Klassischen Yogi stellen der Körper und das physische Leben Probleme dar, die es zu lösen gilt. Die Geburt bedeutet im Ergebnis für das vorherige Leben ein Scheitern des Versuchs, unsere wahre Natur zu erkennen – solange wir unsere wahre Natur nicht erkennen, sind wir zur Wiedergeburt gezwungen. Um den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt zu durchbrechen, muss es dem Suchenden gelingen, den reinen Geist von den niederen Realitäten der Materie zu isolieren.

Advaita Vedanta

Vedanta ist eine aus den Upanischaden (sanskrit. »Vedanta« = »Ende der Veden«) schöpfende Philosophie, die im Gegensatz zur dualistischen Auffassung des Klassischen Yoga einen mehr oder minder strengen Monismus lehrt, nach dem es nur ein einheitliches Grundprinzip des Seins und der Wirklichkeit gibt, keine getrennten Realitäten für Materie und Geist. Im Advaita Vedanta ist nur der Geist Realität. Die Materie – inklusive Körper, Gedanken und Gefühle – hält man für eine Illusion. Für den nicht erleuchteten Geist scheint es viele Realitäten zu geben – tatsächlich gibt es aber nur eine Realität. Da diese Realität unveränderlich ist, wird im Umkehrschluss all das, was sich ändert, als nicht real betrachtet. Somit existieren auch all die Unterschiede, die wir in unserer weltlichen Erfahrung wahrnehmen, nicht wirklich – alles menschliche Leiden resultiert aus einer falschen Wahrnehmung.

Das körperliche Leben ist auch für Vedantiner ein Problem, das es zu lösen gilt. Eine der primären Strategien, um die Irrwege der Wahrnehmung zu überwinden, wird als neti, neti («nicht so, nicht so«) bezeichnet. Zur Praktik gehört das Wiederholen von Sätzen wie »Ich bin nicht mein Körper, denn mein Körper verändert sich«, »Ich bin nicht mein Geist, denn mein Geist verändert sich«, »ich bin nicht meine Emotionen, denn meine Emotionen verändern sich«. Die disziplinierte Anwendung dieser Praktik soll zur Erkenntnis des wahren Wissens führen. Hat ein Suchender dieses wahre Wissen erworben, wird er erleuchtet. Ein Erleuchteter kann weiterhin seinen Körper »bewohnen«, er hat aber erkannt, dass der Körper, die Gedanken und alles Sichtbare nur Illusionen sind. Wer einen Yoga-Kurs besucht, der vom Advaita Vedanta beeinflusst ist, wird dort Sätze hören wie »Du bist nicht dein Körper« oder »Du bist nicht deine Gedanken«.

Tantrismus

Um die Mitte des 1. Jahrtausends tauchte eine neue philosophische Strömung auf, deren genaues Alter und Entstehen im Dunkeln liegen. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Lehrtexten, mündlichen Überlieferungen und Praktiken, die unter dem Namen »Tantra« bekannt sind, was »Gewebe« bedeutet und sich auf die Vorstellung bezieht, dass der Kosmos aus den Fäden der Weiblichkeit und der Männlichkeit gewebt sei. In der Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der Weltsicht des Klassischen Yoga und den Vedantinern gelang den Tantrikern das Kunststück, beiden Seiten »irgendwie recht« zu geben und doch beide Auffassungen, Dualismus und Monismus, so miteinander zu verknüpfen, dass daraus etwas revolutionär Neues entstand. Der entscheidende Unterschied liegt in der grundlegenden Akzeptanz jeglicher Realität, sowohl der spirituellen als auch der materiellen. Das physische Universum wird erklärt als eine vielgestaltige Erscheinungsform der einen, höchsten Realität der Göttlichkeit. Die Grundmatrix der physischen Realität ist das vedantische »höchste Selbst«. Die Welt, in der wir leben, ist eine Erscheinungsform dieses höchsten Bewusstseins in unendlich vielen Formen.

Mit dieser Auffassung musste man auch den physischen Körper nicht länger als »Problem« betrachteten, das gelöst werden muss, sondern konnte ihn in einem kühnen Gegensatz dazu als Manifestation der Göttlichkeit selbst feiern und ehren. Die physische Existenz des Menschen war somit nicht länger eine Manifestation des Scheiterns im Kreislauf von Tod und Wiedergeburt, sondern das Leben als Ganzes wurde zur göttlichen Inkarnation – zum Gottesgeschenk. Das gilt für die männliche wie die weibliche Inkarnation gleichermaßen: Mann und Frau werden im Tantrismus nicht als wirkliche Dualität betrachtet, genauso wenig wie Makro- und Mikrokosmos, Universal- und Einzelseele. Die Auf- und Erlösung solcher »dualen Erscheinungsformen« erfolgt in deren Wiedervereinigung zum ursprünglich ungeteilten Einen.

Im Westen assoziiert man den Tantrismus häufig mit vergeistigten sexuellen Praktiken. Tatsächlich betrachten Tantriker zwar den menschlichen Körper als heilig, setzen aber ihre (nur zum geringsten Teil sexuellen) körperlichen Rituale und Praktiken spirituell ein, um das kosmische Bewusstsein (Shiva) mit der kosmischen Energie (Shakti) im eigenen Körper zu vereinen.

Überflüssig zu sagen, dass die Aufhebung des Dualismus auch die Yoga-Praktik beeinflusste. Wer heute eine Yoga-Klasse besucht, die sich auf die tantrische Philosophie stützt, wird dort vermutlich Sätze hören wie »Öffne dich der Gnade«, »Dein Körper ist ein Göttertempel« oder »Leuchte aus deinem Herzen und bringe die Göttlichkeit in dir zum Ausdruck«.

Yoga-Wege

So wie es für die Schriften der Weltreligionen verschiedene Philosophien und Auslegungen gibt, haben sich auch in der Welt des Yoga unterschiedliche Strömungen oder Wege herausgebildet. Alle diese Wege führen zum selben Ziel, so wie in den Bergen unterschiedliche Wege auf ein und denselben Gipfel führen. Und niemand muss ewig auf einem einmal gewählten Weg bleiben: Im Lauf ihres Lebens stellen viele Menschen fest, dass nicht nur ein Weg ihre spirituellen Bedürfnisse anspricht. Am besten achten Sie bei der Wahl Ihres individuellen Weges darauf, was Ihr Herz Ihnen sagt.

Die folgenden sechs Hauptwege haben im Lauf der Yoga-Geschichte eine größere Bedeutung erlangt: Bhakti, Jnana, Karma, Raja, Mantra und Hatha.

Bhakti-Yoga: Der Weg der Hingabe betont die Öffnung des Herzens für die göttliche Liebe, die Vereinigung des Liebenden (des Yogi) mit dem Geliebten (dem Göttlichen). Diese hingebungsvolle Liebe wird häufig in Lieder oder Sprechchöre übertragen, wobei die Namen des Geliebten bei Zusammenkünften, sogenannten Kirtans, ekstatisch wiederholt werden. Einer der bekanntesten heutigen Kirtan-Künstler in den Vereinigten Staaten ist Krishna Das, ein praktizierender Bhakti-Yogi.