Die Wiederentdeckung des Körpers

Text
From the series: Oktaven
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Die Wiederentdeckung des Körpers
Font:Smaller АаLarger Aa

BREGJE HOFSTEDE

Die Wiederentdeckung
des Körpers

Essay über Burn-out

Mit Fotos von Willemieke Kars

Aus dem Niederländischen von

Christiane Burkhardt und Janine Malz


«Ich hatte bis dahin schlichtweg nicht begriffen, dass es tatsächlich möglich war, mit seinem Körper zu leben und die grässlichen Dichotomien einfach sein zu lassen. […] Ich werde mich voll und ganz auf alles einlassen … alles ist wichtig!»

Susan Sontag,

Tagebucheintrag vom 23. Mai 1949

Inhalt

Einleitung

Willkommen zu Hause

Blaue Flecken

Was mit dem Kopf passiert, wenn man den Körper vergisst

Die Muse schlendert: Spazierengehen und Joggen

Was zum Teufel ist Wasser?

Literaturverzeichnis und Dank

Über die Autorin Bregje Hofstede und die Fotografin Willemieke Kars

Einleitung

Vom Luftschlösserbauen bekommt man keine Schwielen an den Händen. Es dürfte kaum eine Tätigkeit geben, die so unkörperlich ist wie das Schreiben. Geschichten erfinden, Ideen zu Papier bringen – alles reine Kopfarbeit. Der Körper wird dabei eher zur Last: Er will versorgt werden und ist ein Störfaktor. Dachte ich jedenfalls.

Meinen ersten Roman musste ich meinem Körper mühsam abringen. Ich kämpfte mit einem Burn-out; Körper und Geist waren erschöpft und unberechenbar. Ich fühlte mich, als würde ich an einem Laptop arbeiten, der jederzeit ausfallen kann und dessen Akku gerade mal fünfzehn Minuten hält. Fehlermeldungen erhielt ich in Form von Herzrasen und schlaflosen Nächten. Ich verfluchte das Arbeitsgerät, das mich da sabotierte. Hätte ich es gegen ein neues eintauschen oder noch besser ohne meinen Körper weitermachen können – ich hätte keine Sekunde gezögert.

Damals bekam meine Schwester ein Kind.

Ich besuchte sie im Wochenbett. Noch nie hatte ich so einen neuen Menschen im Arm gehalten. Und während ich spürte, wie das Baby zappelte und strampelte, staunte ich, wie sehr dieser kleine Mensch noch mit sich selbst eins war, sich in seinem Körper zuhause fühlte. Es kam mir absurd vor, ihn in Begriffe wie «Körper und Geist» fassen zu wollen. Und da fragte ich mich: Wenn auch ich einmal so ein Menschlein gewesen war – wie kam es dann, dass ich mich jetzt in meinem Körper so gar nicht mehr zuhause fühlte? Wann hatte ich damit begonnen, mich in die winzige Stube unter meinem Schädeldach zurückzuziehen, in der ich jetzt festsaß? Ich ließ meine Kindheit Revue passieren, blätterte in dem Tagebuch, das ich mit zwölf geschrieben hatte.

Bald darauf besuchte mich eine Freundin. Wir saßen auf dem Sofa, tranken Tee und tauschten Neuigkeiten aus. Sie hatte die Arme um die Knie geschlungen, weil sie so fror in ihrem eisern heruntergehungerten Körper. Ich dagegen hockte neben ihr wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren, und klagte über Hyperventilationsattacken. Unsere Körper schienen in erster Linie etwas zu sein, das einem Kopfzerbrechen bereitet, das man besiegen und zum Verstummen bringen muss. Bisher waren mir vor allem die Unterschiede zwischen uns aufgefallen, doch jetzt fragte ich mich, ob unsere Beschwerden nicht ein- und dieselbe Ursache hatten.

Das Burn-out gilt als psychische Störung mit psychischen Ursachen, trotzdem stellte ich mir die Frage, ob neben vielen anderen Faktoren nicht auch mein Körper an meinem Zusammenbruch mitgewirkt hatte. Sowohl was die Vorgeschichte als auch was die Symptome und den Genesungsprozess anbelangte. Im Mittelpunkt dieses Buches steht das Burn-out-Kapitel. Darin erkläre ich, wie ich meinen Körper jahrelang verleugnet habe, was das Burn-out mit diesem Körper gemacht hat und was geschah, als ich ihn bei dem Versuch mich zu erholen, genauestens beobachtet habe.

Das vorliegende Buch schildert nicht nur das Burnout und die damit verbundene Wiederentdeckung des Körpers, sondern beschäftigt sich auch mit der Frage, wie das mein Schreiben beeinflusst hat: Neben der Vergeistigung einer Erfahrung geht es also auch um die Verkörperlichung eines Arbeitsprozesses. Denn wie ich feststellen sollte, kann man vom Luftschlösserbauen sehr wohl Schwielen und Blasen bekommen.

Erholt von meinem Burn-out habe ich mich unter anderem dank langer Spaziergänge. Seitdem sind Laufen, Rennen und Schlendern zu einem unverzichtbaren Bestandteil meines Denk- und Schreibprozesses geworden. Um zu beschreiben, wie zielloses Umherstreifen, dem eigenen Denken Raum Geben und Stressabbau zusammenhängen, habe ich eine Ode an das Schlendern geschrieben.

Wie wichtig körperliche Bewegungsfreiheit für die Gedankenfreiheit ist, erlebte ich, als ich als Frau allein im Nahen Osten unterwegs war. Je nachdem wie wir uns zu unserem Körper verhalten und wie sich die Gesellschaft zu unserem Körper verhält, kann die Welt schrumpfen oder sich auf wundersame Weise auftun. Im letzten Teil dieses Buches gehe ich deshalb der auch schon vorher durchschimmernden Frage nach, inwiefern das schwierige Verhältnis zu meinem Körper etwas mit meinem Geschlecht zu tun hat.

Seit ich das erste Mal nach Burn-out-Symptomen gegoogelt habe, sind inzwischen mehr als drei Jahre vergangen. Mein Körper hat damals so laut mit der Faust auf den Schreibtisch gehauen, dass er nicht nur thematisch, sondern auch ganz konkret auf jede nur erdenkliche Weise seinen Platz in meinem Schreiben eingefordert hat.

Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln sind ohne den Körper unvorstellbar, insofern verbinde ich mein Nachdenken darüber auch mit den Erfahrungen meines Körpers. Andere Körper machen bestimmt andere Erfahrungen, und weil ich mich auf die körperlichen Aspekte des Burn-outs konzentriert habe, bleibt vieles andere außen vor. Würde ich allerdings nicht fest daran glauben, dass meine Erfahrungen eine größere, gesellschaftliche Tragweite besitzen, hätte ich sie nicht so explizit geschildert. Das Ergebnis ist ein Text, der von ganz persönlichen Dingen ausgeht, um immer wieder dorthin zurückzukehren. Ein Text, der mit diesem einen Körper untrennbar verbunden ist.


Willkommen zu Hause

Ich halte meinen neugeborenen Neffen im Arm. Auf einen Abstand von fünfzehn Zentimetern kann er Hell und Dunkel unterscheiden, mehr aber auch nicht, so meine Schwester. Ich habe ihn noch nie mit geöffneten Augen gesehen.

Seit vier Tagen lebt er eigenständig. Der Bauch meiner Schwester ist ihm zu klein geworden. Sie hat ihm ein Kinderzimmer eingerichtet und denkt noch kein bisschen an den Moment, wenn er eines Tages ausziehen wird – gut gelaunt und ohne jede Wehmut, mit blonden Locken und einem Rockbandlogo auf der Jacke. Ich halte das glatzköpfige, rosige Baby fest, das in meinem Schoß schnell und flach atmet. Sobald es Hunger hat, weint es. Bei Krämpfen verzerrt es seinen kleinen Mund, und im Schlaf tritt und greift es unaufhörlich. Noch ist Beunruhigung für ihn gleichbedeutend mit Bewegung.

Hallo, mein Kleiner! Fünfzig Zentimeter sind schon mal ein guter Anfang.

Zuallererst erkundest du die entlegensten Winkel deines eigenen Körpers, der fünfzig Zentimeter lang ist. Hände! Du hast Hände – und Füße, die du dir in den Mund stecken kannst! Sobald du gelernt hast, sie zu benutzen, erkundest du dein Zimmer, den Garten und dann die Straßen der Umgebung – bis zu der Ecke, hinter der du dich beim Versteckspiel noch verbergen darfst, ohne dass es geschummelt wäre. Der Radius, in dem du dich zuhause fühlst, wird immer größer. Irgendwann darfst du allein zur Schule oder zum Fußballtraining gehen. So habe auch ich die Welt erobert, mit einem Rad, an dem ein orangefarbener Wimpel befestigt war. Mit siebzehn bin ich schließlich von zuhause ausgezogen. Ich kehre regelmäßig dorthin zurück und bezeichne es immer noch als mein «Zuhause». «Fahrt ihr manchmal noch nach Hause?», frage ich meine Freunde.

Doch lange bevor mein Elternhaus zu einem Zuhause auf Distanz wurde, in das man hin und wieder zurückkehrt, machte mein Körper dieselbe Entwicklung durch. Mit zunehmendem Aktionsradius nahm auch die Distanz zu meinem einzigen lebenslänglichen Zuhause zu: zu diesem Körper, der dich jetzt festhält. Ich verlegte meinen Lebensmittelpunkt woandershin. Mein Körper war nur dazu da, meinen Kopf durch die Gegend zu tragen – für meinen Geschmack viel zu langsam –, sowie außerdem noch meinen Stift zu halten: ein notwendiges Übel.

Ab wann begann dieser Rückzug? Als mein Körper sich langsam auf etwas vorbereitete, das ich gar nicht wollte – auf ein Kind –, weshalb ich nicht mehr die Schnellste in der Klasse war? Oder als ich wieder mal mit «junger Mann» angesprochen wurde und ahnte, dass es das letzte Mal sein würde, da sich unter meiner Jacke kleine Brüste verbargen? Als ich mich nicht mehr nackt unter den Rasensprenger stellte? Als ich Dehnungsstreifen an mir entdeckte? Geschah es, als mein Körper damit begann, unwillkommene Gäste einzuladen, die laut an die von mir mit aller Macht zugehaltene Tür klopften – Gäste, für die mein Körper aber trotzdem monatlich die Gebärmutter neu tapezierte?

 

Das sind nur einige wenige Beispiele, von denen es bestimmt unzählige gibt. Doch du, mein Kleiner, weißt noch nichts von alledem, für dich sind diese Worte kaum mehr als Schwingungen meiner Stimmbänder. Du bist einen warmen, summenden Körper in unmittelbarer Nähe gewohnt. Wohingegen ich mit der Zeit immer weniger mit meinem Körper vertraut war, mich immer weniger darin aufhielt. Ich drehte die Heizung herunter und wünschte ihn weit fort. Ich sorgte für Ersatz, indem ich mir einen Zweitwohnsitz aus Papier errichtete. Anscheinend hatte ich beschlossen, dass das Tagebuch eine angenehmere Bleibe ist.

Die Kladden habe ich immer noch und kann darin blättern, ihnen entnehmen, dass mir damals durchaus bewusst war, was da passiert. Denn ab und zu hielt ich Momente fest, in denen ich doch wieder kurz in ihn zurückgekehrt war: «Heute habe ich mich drei Stunden lang richtig zuhause gefühlt in meinem Körper.»

In diesen Einträgen beschrieb ich, wie ich bei Nacht im Meer gebadet hatte oder in Sonnenstrahlen getaucht im Bad saß und dabei zusah, wie kräuselnd Dampf von meinen Armen aufstieg. «Schöne Stunden in meinem Körper.» Und was war mit den übrigen Stunden? Die müssen anderswo stattgefunden haben.

Man kann Dinge erst dann beschreiben, wenn man ein bisschen Abstand dazu gewonnen hat. Mein Körper tritt erstmals ab meinem zwölften Lebensjahr in meinem Tagebuch in Erscheinung. In diesem Jahr mache ich meinen ersten Hungerversuch, und auch das Wort «sexy» feiert Premiere. Außerdem beginne ich damit, mich regelrecht auseinander zu nehmen; meine Oberschenkel finden keine Gnade, mein Po schon, mein Bauch kommt mir ein bisschen zu vorstehend vor. Die wenig schmeichelhafte Skizze, die das illustrieren soll, weist Pfeile auf. Sie sind auf jene Zonen gerichtet, die an meinem Körper zu wünschen übrig lassen. Mit Hilfe bestimmter Übungen lassen sie sich gezielt trainieren. Nur höchst selten erlebe ich meinen Körper als selbstverständlich, als nahtloses Ganzes, das wirklich zu mir gehört: «Schöne Stunden in meinem Körper», schreibe ich dann.

Mein lieber Neffe. Solange du noch klein bist, ist «Zuhause» ein Ort, den du als gegeben voraussetzt, so wie du auch deinen Körper nicht infrage stellst. Solange dir nichts wehtut, ist alles in bester Ordnung mit ihm. Er isst, rennt und klettert auf Bäume.

Vorläufig willst du nichts an deinem Zuhause verändern. Eine Einbauküche? Wozu denn? Du dürftest auch vehement gegen einen Teppich auf der Treppe sein, der das abgetretene Linoleum ersetzen soll – das mit den Löchern, durch die du das Holz darunter so gut erkennen kannst, was auch das Knarren erklärt. Jede Verbesserung würde dich bloß traurig stimmen. Du willst keine neue Tapete, und Ritzen in der Wandverkleidung sind doch ideal, um Zettel hineinzustecken.

Doch irgendwann – wenn du von einer langen Reise zurückgekehrt bist – wirst du die Dinge anders sehen. Du siehst ein altes Haus am Rande einer mittelgroßen niederländischen Stadt mit hässlichen Siebzigerjahre-Fliesen. Im Flur stören dich auf einmal die Holzverkleidung und die Jutetapete. Kann das nicht weg? Und was soll dieser Schimmelfleck an der Wand? Warum steht dieses Haus nicht in einer Stadt, in der richtig was los ist?

Die Selbstverständlichkeit sämtlicher Bestandteile geht verloren. Auf einmal ist alles bloß noch Stückwerk, und das Haus, in dem man aufgewachsen ist, ist vergleichsweise schäbig. Was bleibt, ist der kleinste gemeinsame Nenner: ein Haus, einfach bloß ein Haus. Andere Häuser gefallen dir womöglich besser.

Die Ansprüche, die ich zunehmend an mein Haus stellte, formulierte ich, indem ich mein Zimmer einrichtete: Monat für Monat stellte ich die Möbel um, schaffte Kissen und Decken an, um so gemütliche Ecken zu schaffen. Ich kaufte Duftkerzen, die nach Vanille rochen. Noch nie zuvor hatte ich das Bedürfnis nach Duftkerzen gehabt.

Ich glaube, dass es unweigerlich so kommen wird, mein kleiner Neffe: Irgendwann wirst du dein Haus mit den Augen eines Fremden betrachten. Ich weiß noch genau, wann es bei mir soweit war.

Wir fuhren in einem dunkelblauen Volvo ohne Klimaanlage in einem Rutsch bis nach Ancona und nahmen dort die Fähre nach Griechenland. Vier Schwestern verschmolzen auf der Rückbank miteinander. Weil für so viele Schultern kein Platz war, mussten sich zwei von uns abwechselnd vorbeugen. Wir teilten uns abwechselnd den Walkman, und ich schlug meiner kleinsten Schwester unterwegs einen Milchzahn aus. Irgendwann erreichten wir eine weiß gekalkte Villa auf dem Peleponnes. Wir drehten die glühend heißen Steine im Garten um und suchten nach Skorpionen, die wir dann irgendwann in unseren Betten vorfanden. Nachts konnten wir die Milchstraße in Form einer vagen Rauchfahne hinter den Sternen erkennen. Das Meer, das uns umgab, war dasselbe, das auch Odysseus befahren hatte, und wir verbrachten den ganzen Tag mit Schwimmen und Tauchen, bauten außerdem Sandburgen. Wir wurden braun wie Karamell, und wenn wir unseren Badeanzug auszogen, um uns mit Süßwasser aus dem Gartenschlauch abzuduschen, kam hellrosa Haut zum Vorschein. Von Trägern zurückgelassene Streifen kreuzten sich auf unseren Rücken. Um sie zu verewigen, stellten wir uns nackt nebeneinander und baten um ein Foto. Die älteste Schwester – deine Mutter – wollte dabei schon nicht mehr mitmachen.

In meiner Erinnerung ist das einer der schönsten Sommer überhaupt. Trotzdem hatte ich es eilig, wieder nach Hause zu kommen, denn dort wartete die Orientierungsstufe. Ich war fast zwölf und voller Ungeduld, weil ich dringend in die siebte Klasse kommen wollte. Ungeduld empfand ich auch unserem Haus gegenüber, das mir bei unserer Rückkehr genauso klein und nichtig vorkam wie die Aufgaben im Haushalt, der Geruch, die Vertrautheit. Ich fieberte dem Einführungstag entgegen, an dem dann innerhalb weniger Stunden Grenzlinien gezogen und Allianzen geschmiedet wurden, die die nächsten Jahre gelten sollten – aufgrund von Aussehen, Selbstbewusstsein und Klamottenbudget.

Ich war erst wenige Wochen in der Orientierungsstufe, als die Urlaubsfotos kamen. Die Reise schien Lichtjahre her zu sein. Auf einem der letzten Fotos sind drei kleine Mädchen vor einer weißen Wand zu sehen – meine Schwestern und ich. Wir haben uns mit dem Rücken zur Kamera der Größe nach aufgestellt, wie die Orgelpfeifen. Ich musterte mich gründlich, entdeckte erste Rundungen an den Hüften, stellte fest, dass ich eigentlich X-Beine hatte und mit dem rechten Knöchel einknickte. Ich versteckte das Foto in meinem Zimmer, damit es nicht eingeklebt werden konnte, holte es aber mit einem unguten Gefühl immer wieder zum Vorschein.

Das war der Moment, in dem ich auf mein Zuhause zurückblickte und es als das sah, was es tatsächlich war: einfach bloß ein Körper, der nur zufällig und nicht mehr bedingungslos zu mir gehörte.

Mein kleiner Neffe, ich glaube nicht, dass ich mich je wieder irgendwo so heimisch fühlen werde – weder in einem Zuhause aus Ziegeln noch in einem aus Haut und Knochen – zumindest nicht so wie du es die nächsten Jahre tun wirst. Ich kehre nach wie vor häufig in mein Zuhause zurück, das schon. Manchmal schlafe ich im Gästezimmer und manchmal in meinem alten Bett. Oft fühle ich mich unwohl, aber hin und wieder, wenn mein Körper alkoholbedingt glüht und ausgelassen tanzt, ist er wieder mit sich im Einklang. Dann ist darin Platz genug, und Duftkerzen werden auch keine gebraucht. Länger als ein paar Stunden hält dieses Gefühl jedoch nie an. Wenn ich heute nach Hause komme, dann als Gast.

Ich will dir keine Angst machen, aber ich glaube, genau das bedeutet Erwachsenwerden: Dass es nichts mehr gibt, das über eine bloße Kategorienzuschreibung hinausgeht. Du hast eine Freundin. Ein Haus. Einen Beruf. Ein Buch. Doch nichts davon gehört bedingungslos zu dir.

Ich schaue zu, wie du im Schlaf schmatzt und die Stirn runzelst, und das bringt mich zum Weinen. «Ach komm schon, Breg!», sagt meine Schwester. Ich gebe ihr das warme Bündel zurück.


Blaue Flecken
I

Sechsundzwanzig Grad. Endlich. Einer von den Julitagen, wie ich sie von früher in Erinnerung habe. Vor ungefähr zehn Jahren versuchten wir an einem Nachmittag wie diesem, Eislöffel auf der Nasenspitze zu balancieren. Vor uns im Gras lag ein aufgeschlagener Weltatlas, auf dem wir mit verschmierten Fingern an den Orten Flecken hinterließen, an denen wir eines Tages leben wollten. Wir, das waren meine beste Freundin und ich. Früher waren wir unzertrennlich. Inzwischen haben wir uns schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Ich warte auf sie, doch sie kommt nicht. Irgendwann rufe ich bei ihr an.

«Wo steckst du?»

Sie sei noch immer zuhause, erklärt sie mit schwacher, brüchiger Stimme. «Kannst du mir vielleicht was zu essen mitbringen? Ich bin so schlapp, ich kann kaum aufstehen.»

Die junge Frau, die früher keine Sekunde stillsitzen konnte, liegt nun im Bett. Schon seit Jahren ist Abnehmen ihr liebstes Hobby. Eine Zeitlang schien sie nur noch von Luft zu leben. Sie trieb viel Sport und trank ausschließlich Kokoswasser. Aber inzwischen zittern ihr die Beine so sehr, dass sie Angst hat, es nicht bis vor die Haustür, geschweige denn bis zum nächsten Laden zu schaffen.

Ich bringe ihr Erdbeeren mit. Die stehen ganz oben in der Top Ten der gesündesten Früchte. Ich setze mich neben sie aufs Bett, während sie mit zittrigen Fingern die Plastikverpackung öffnet. Sie hält jede Erdbeere am Stiel fest und nimmt winzige Mäusebissen: erst wird die Spitze weggeknabbert, dann folgen alle vier Seiten und schließlich der blasse Rest. Trotz der Hitze bibbert sie unter der Decke.

Kurz nachdem ich meine Freundin aus dem Zuckertief gerettet habe, lade ich sie ein, für ein paar Tage zu mir nach Brüssel zu kommen. Selbst wenn wir nicht mehr dieselben Ansichten teilen, können wir zumindest dieselbe Aussicht haben: den Blick vom Mont des Arts oder, wenn es regnet, den auf die Ladenpassage Galeries Royales Saint-Hubert. Nachmittags schauen wir im Het Ivoren Aapje vorbei, einem schummrigen Antiquariat im Begijnhof. Hinter den Bänden der griechischen Philosophen in der Auslage sieht man den Buchhändler sitzen, ganz in ein Buch versunken, einen schlafenden Terrier zu seinen Füßen. Als ich mit dem Finger darauf zeige, folgt meine Freundin meinem Blick, fasst sich ins Haar und mustert stirnrunzelnd ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe.

Im Laden schlendere ich von meinen üblichen Literaturregalen zu der Abteilung mit den Philosophiebüchern und fahre mit dem Zeigefinger über die Buchrücken, um bei S innezuhalten: Jean-Paul Sartre. L’existentialisme est un humanisme. Der Papprücken ist vom vielen Herausziehen ganz weich geworden.

Ich wollte schon immer jemand sein, der Philosophen liest. Viele Sprachen spricht. Keine Höhenangst hat und Walnüsse mit den bloßen Händen knackt. Es gab jede Menge Eigenschaften, die ich gerne besessen hätte.

L’homme sera tel qu’il se sera fait: Der Mensch ist das, wozu er sich selbst macht, so Sartre, der Meister des machbaren Menschen. Ich lege das Buch auf den Ladentisch. Seufzend markiert der Buchhändler die aktuelle Seite und lässt sich dazu herab, mich abzukassieren.

Laut Sartre geht die Existenz der Essenz voraus (l’existence précède l’essence). Mit anderen Worten: Zunächst existiert man bloß und lebt eine Weile, erst durch die eigenen Handlungen legt man fest, wer man wirklich sein will. Es kann auch genau umgekehrt sein (das Wesen geht dem Sein voraus), allerdings trifft das nach Sartres Auffassung nicht auf den Menschen zu. Angenommen, jemand will einen Tacker konstruieren, dann wird die- oder derjenige von einem bereits bestehenden Konzept ausgehen. Es ist undenkbar, dass jemand rein zufällig, ohne vorab zu wissen, wozu so ein Gerät gut sein soll, etwas Entsprechendes zusammenbastelt. Ein Mensch, der sich selbst erfindet, geht jedoch nicht nach einem vorgegebenen Rezept vor, sondern definiert sich erst nach und nach und ist vollkommen frei in seinen Entscheidungen.

Als meine Freundin sich an jenem Abend in meinem Zimmer umzieht, entdecke ich blaue Flecken an den Innenseiten ihrer Knie. Nein, sie sei nicht gestürzt, sagt sie, sondern inzwischen nur so dünn, dass die Knochen aufeinanderprallen, wenn sie nachts auf der Seite im Bett liegt. Zwischen ihren Oberschenkeln klafft eine handbreite Lücke. Ich betrachte ihre Beine und denke an einen Tacker.

 

Ist es vielleicht doch möglich, einen Menschen nach Plan zu formen? Das Rezept, an das sich meine Freundin hält, besteht aus einer Reihe von ausgewählten Superfoods, die bis aufs Gramm genau abgewogen werden. Das Bild, dem sie nacheifert, hängt seit Jahren an ihrer Zimmertür: Es ist das Poster von einer schlanken, blonden, braungebrannten Surferin mit einem irre gephotoshopten Taille-Hüft-Quotienten. Sie feilt erbarmungslos an sich, um ihrem Idealbild näherzukommen. La femme sera telle qu’elle se sera faite – das schon, aber was ist mit Selbstbestimmung? Freiheit?

Der Archetyp, nach dem meine Freundin an sich herumdoktert, wurde bereits vor Jahren beschrieben. 2001 veröffentlichte das französische Autorenkollektiv Tiqqun, das kurz, aber heftig am philosophischen Firmament aufleuchtete, seine Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens. Der dünne Band ist ebenso bitter wie erheiternd und besteht aus einer losen Sammlung von «zufällig angehäufte[n] Materialien von Begegnungen, zum Umgang mit und zur Beobachtung von Jungen-Mädchen» sowie aus Frauenzeitschriften entnommenen Stilblüten. Tiqqun beschreibt die Jung-Frau (la Jeune-Fille) als Idealbürgerin der spätkapitalistischen Gesellschaft: ein Mensch, bei dem äußere Erscheinung und Wesen, Darstellung und Realität völlig deckungsgleich sind. Das Junge-Mädchen muss dabei nicht per se jung sein und übrigens auch nicht unbedingt weiblich, wie der geliftete Silvio Berlusconi hinreichend beweist, wenn er Fernsehen mit Politik und Wahrheit mit Zuschauerquoten verwechselt. Das Junge-Mädchen ist eine «Fassadistin», ein «Körper ohne Geist», dessen Identität nicht ihm selbst gehört, sondern von den Medien und Zeitschriften diktiert wird. (Im Buch findet sich nichts zu Selfies und Facebook, weil es beides bei Drucklegung noch gar nicht gab.) Das Leben des Jungen-Mädchens ist deshalb unweigerlich ein einziges Déjà-vu: Alles ist letztlich nur die unvollkommene Ausführung eines platonischen Modells. Das Buch ist voller Fotos von magersüchtigen Models, pseudo-tiefgründigen Beobachtungen wie «Das Junge-Mädchen ähnelt seinem Foto» und kämpferischen Losungen wie: «Ich mache mit meinen Haaren, was ich will!» Die Freiheit, um die es Sartre ging, läuft beim Jungen-Mädchen hinaus auf «Zen, Speed oder Bio» – so nach dem Motto: Entscheide dich für einen Lifestyle!

Anfangs musste ich beim Lesen der Grundbausteine an meine Freundin denken. In dem Jungen-Mädchen erkannte ich bis ins kleinste Detail den Bauplan für ihren Tacker wieder. Ich selbst war diesem Schicksal glücklicherweise entronnen. Ich wurde kein Tacker, schließlich las ich keine Frauenzeitschriften, sondern Sartre.

You have finished the free preview. Would you like to read more?