Der Ring der Niedersachsen

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Informationen zum Buch

Dr. Bartling, ein angesehener Professor an der Leibniz Universität in Hannover, ist im Besitz eines legendären Schmuckstücks, des berühmt- berüchtigten Sephuris-Ringes. Er möchte mehr über Herkunft und Geheimnis des Erbstückes erfahren und sieht sich schließlich mit un angenehmen Wahrheiten konfrontiert, die sein bisher vom Schicksal begünstigtes Leben durcheinander bringen. Aber sein Los ist nur Anfang und Ende eines Reigens, der vor über zweitausend Jahren im ptolomäischen Ägypten seinen Anfang nahm und im heutigen Hannover endet.

Für eine spannende Zeitreise durch die niedersächsische Geschichte sorgen:

Richard Birkefeld

Bodo Dringenberg

Karola Hagemann

Cornelia Kuhnert

Susanne Mischke

Christian Oehlschläger

Egbert Osterwald

Wilhelm Stein

Ilka Stitz

Informationen zum Herausgeber

Susanne Mischke, Jahrgang 1960, ist erfolgreiche Krimiautorin und lebt heute bei Hannover. Sie war mehrere Jahre Präsidentin der »Sisters in Crime« und erschrieb sich mit ihren fesselnden Kriminalromanen eine große Fangemeinde. Zuletzt erschienen von ihr »Liebeslänglich« und »Der Tote vom Maschsee«.

Richard Birkefeld, 1951 in Hannover geboren, ist Historiker und Politologe. Er veröffentlichte zahlreiche Texte zur hannoverschen Stadtgeschichte und über kulturelle Veränderungen im frühen 20. Jahrhundert. Sein erster Roman »Wer übrig bleibt, hat recht«, den er zusammen mit Göran Hachmeister geschrieben hat, wurde 2003 mit dem Deutschen Krimipreis und dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet.

Herausgegeben von Richard Birkefeld und Susanne Mischke

Der Ring der Niedersachsen

Dunkle Geschichten aus zwei Jahrtausenden


Impressum

©2010 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe

info@zuklampen.de · www.zuklampen.de

Titelgestaltung: Angelika Konietzny (www.izwd.de), Hannover Konvertierung: Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN 978-3-86674-102-7

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

Inhaltsübersicht


Prolog Karola Hagemann
Anulus mundi Karola Hagemann
Mit eiserner Zunge Ilka Stitz
Zauber am Zuber Bodo Dringenberg
Schwedenschicksal Wilhelm Stein
Jagdzeit Christian Oehlschläger
Sozialistenjagd Egbert Osterwald
Eine Spende für das Hurenmädchen Cornelia Kuhnert
Novembernacht Susanne Mischke
Der Anfang vom Ende Richard Birkefeld
Kurzbiografien der Autoren/innen
Verlagsinformationen

Für August

Karola Hagemann

Prolog

Verderben würde er die falsche Pharaonin mit ihrer Erhöhung der Isis – eine durchaus ehrenwerte Göttin sonst. Doch dem größten Gott der Ägypter, Amun-Re, musste wieder zu den gebührenden Ehren verholfen werden. Es konnte doch nicht angehen, dass Amun-Re, der Hauch des Lebens für alle Dinge, der dem Küken im Ei, den Fischen im Wasser, den Raubtieren, den Menschen, den Sternen das Leben gab, an die Seite gedrängt wurde und seine Priester, jahrtausendelang die Bestimmer der Geschicke Ägyptens, an Reichtum, Macht und Einfluss verloren. Sie, die im Namen des Amun-Re Pharaonen gekrönt, Ägypten zu seiner Größe verholfen hatten. Nein, diese griechische Usurpatorin musste fallen, und Isis – eine durchaus ehrenwerte Göttin – wieder an den Platz, der ihr gebührte, hinter Amun-Re.

Nicht umsonst hatte er hier in den Gewölben des Tempels zwanzig Jahre lang die Kunst der Magie studiert. Mit jedem winzigen Schnitt, mit dem er das Relief aus dem Stein holte, dem Karneol eine neue Form gab, mit jedem gemurmelten, dem Amun-Re heiligen Wort wurde das Verhängnis sicherer. Mit jedem Polieren das Schicksal der Griechin besiegelt. Nur gut, dass er als Priester des Amun-Re, als Magier dieses Gottes auch die Kunst des Steinschneidens und Goldschmiedens gelernt hatte, denn einem Schmuckstück konnte kaum ein Mensch widerstehen, einem so gelungenem wie diesem Ring mit dem feingearbeiteten Cameo schon gar nicht. Oh ja, er, Sephuris, wusste das, er kannte die Menschen.

Die Pharaonin würde glauben, dass dieser Ring mit dem Bildnis der Isis ihr Glück brächte, Isis – eine durchaus ehrenwerte Göttin –, deren Antlitz unter seinen Händen entstand, der Horusknabe an ihrer Brust, der Bruder Osiris an ihrer Seite, der Gott der Toten. Durch ihn, durch Osiris würde Amun-Re wirken. Mit jedem Polieren, mit jedem Wort wurde das Schmuckstück schöner, verführerischer, effektiver.

Noch ein wenig Weihrauch in die Schale für Amun-Re, damit der Fluch wirksamer werde. Oh, dieser Wohlgeruch, der seinen Geist benebelte, ihn Amun-Re näherbrachte, fast mit dem Gotte verschmelzen ließ, ja, er spürte es, das Antlitz der Isis würde umgedeutet, fehlgedeutet werden, diese Göttin mit ihren Mysterien für jeden, der das Geld, die Verbindungen hatte, ha, nichts war das im Vergleich zu den Mysterien des Amun-Re, die nur dessen Priester kannten. Ja, er sah das Schicksal der Isis voraus, ihr Sohn würde zum Gott werden und Unheil über die Welt bringen. Nun, nicht er selbst – jeder Gott war ja durchaus ehrenwert –, aber seine Priester, sie würden ihn zum alleinigen Gott machen, Isis würde zur Mutter degradiert und Osiris zum Erzeuger, nein, nicht einmal das, sein Geist würde das übernehmen. Lächerlich! Und Ströme von Blut würden die Welt erfüllen, Schlachten geschlagen, Städte geschleift, Türme gestürzt. Das Volk verdummt und geknechtet.

Das Gesicht schwand, gut, bedrückend, beängstigend war es gewesen. Er musste sich auf sein Werk konzentrieren, auf sein Ziel, die falsche Pharaonin vom ägyptischen Throne zu stürzen. Nun ja, ganz würde er die Zeit nicht zurückdrehen können, die Abkömmlinge der großen, der echten Pharaonen waren verschwunden, keiner würde sie ersetzen können. Doch das Wichtigste war, dass Amun-Re wieder die ihm zustehende Rolle einnahm. Und wenn dieser junge Römer Octavian dafür bezahlte, dass er, Sephuris, die griechische Usurpatorin des Pharaonenthrons beseitigte, so musste er dieses Angebot annehmen, alle Seiten würden davon profitieren. Zwar ging er anders vor, als der Römer sich es vorstellte, ein Mordkomplott hatte der im Kopf gehabt, so etwas Profanes, doch wäre sein Weg, der Fluch des Sephuris, nicht weniger wirksam, zudem viel ungefährlicher.

Noch ein wenig schleifen am Antlitz der Isis, noch ein wenig kratzen am Körper des Knaben, der letzte große, anstrengende, wirkungsvollste Zauberspruch, Weihrauch, Wein für den Widder des Amun-Re – das Werk war vollbracht. Oh, anstrengend war es gewesen, die Fackeln flackerten stärker, Sterne streuten sie vor seine Augen. Schwäche erfüllte die Glieder. Doch wirklich gelungen war der Ring, die Figuren sahen aus, als lebten sie. Wunderbar. Kleopatra würde nicht widerstehen können, und das wäre das Ende der Herrschaft der Ptolemäer. Dieser Ring würde die Welt verändern.

 

Karola Hagemann

Anulus mundi

9 n. Chr. Das römische Reich unter dem Princeps Augustus, dem ersten Alleinherrscher nach der Republik, dehnt sich weiter aus, Provinzen werden dazugewonnen, verwaltet, Aufstände niedergeschlagen. Im Norden wird versucht, den Einfluss zu festigen bis an die Albis, die Elbe. Die Flüsse entlang, Lippe, Weser und vermutlich auch an der Lagina, Leine, stehen Legionäre in Lagern und Kastellen. Doch es regt sich Widerstand, nicht nur in den eroberten Provinzen, auch in den eigenen Reihen.

Verlorene Schlachten werden von offiziellen Geschichtsschreibern gern der Unfähigkeit der Befehlshaber zugeschrieben, doch ist dies wirklich immer die Ursache?

Schneidet den Faden durch, Ihr Parzen!

Geh’, Privatus, du kannst mir nicht mehr helfen, versuche dich zu retten. Nimm die restlichen Männer und flieh! Ach, in den Triumph wollte ich euch führen, den Tod habe ich euch gebracht. Den Tod, der mir gebührt, der nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Parzen, zerschneidet endlich den Faden, es schmerzt, nein, nicht die Schwertwunde im Bauch, das Wissen, dass ich versagt habe. Alles ist verloren, unser Plan gescheitert, er hat gesiegt. Oh, ihr Götter, so seid ihr mit ihm, nicht mit mir.

Was sagst du, Privatus? Bist du noch immer hier? Ich kann dich nicht verstehen, es rauscht in meinen Ohren. Weine nicht, ich musste es tun. Privatus, mein treuer Sklave, erfülle mir diesen letzten Wunsch, nimm den Unglücksring, wirf ihn in den Fluss oder vergrabe ihn auf der Insel der Fährmänner.

Ich habe versagt. Sie brennen, sie morden, sie zerstören. Verrat im Verrat.

Lange scheint es zu dauern, bis Morpheus mich holt, für immer. Bist du noch immer da, Privatus, nun denn, so reiche mir einen letzten Becher Wein. Hilf mir, ihn an die Lippen zu führen, meine Hand will mir nicht mehr gehorchen. Oh, es tut gut zu spüren, wie dieser Nektar die Kehle hinunterläuft. Was sagst du, der Blonde ist im Blutrausch? Er wird nicht lange Freude an seinem Siege haben, Tiberius sagte schon damals, sie würden sich gegenseitig zerfleischen, wir bräuchten nicht viel zu investieren. Er wird recht behalten! Tiberius, guter Freund, mit dem ich zum ersten Mal dieses Land betrat, weiter im Süden, damals, vor nunmehr vierundzwanzig Jahren. Seltsam, wie klar die Bilder sind, obwohl mir die Kräfte schwinden.

Wild war das Land, in das wir kamen, wie auch die Bewohner. Tiberius hatte den Oberbefehl, ich kommandierte eine Legion, meine Legion – die heute untergegangen ist. Immer wieder waren die Stämme in römisches Gebiet eingefallen, hatten gemordet, geplündert, zerstört, Verbündete und Bundesgenossen vertrieben. Rom musste handeln, so sah ich das auch. Von Gallien aus zogen wir am Rand der Alpes entlang, bis zu den Quellen der Danubis. Wir unterwarfen sechsundvierzig Stämme. Die ersten hatten sich zum Kampf gestellt. Ich liebte den Kampf, den Rausch, hervorgerufen durch den Gleichschritt von Tausenden von Füßen, schneller werdend, gemischt mit dem Klirren der Waffen, dem Angriffsschrei der Legionäre. Ich liebte es zu sehen, wie die wilden, ungeordneten Horden der Barbaren sich lichteten, wie sie fielen, wie sie flohen; die stolzen Gesichter meiner Männer. Ich fand, Augustus’ Befehl, so viele wie möglich zu töten, Dörfer zu verwüsten, verbrannte Erde zu hinterlassen, damit sie sich nie wieder gegen Rom erhöben, damit sie keine Kinder hätten, die Rache nehmen könnten, war genau richtig. Ich lebte diesen Befehl. Tiberius tat es nicht. Er schlug die Schlachten, die notwendig waren, schlug sie ruhig und besonnen, siegte. Dann verhandelte er. Er schloss Verträge, nahm vornehme Geiseln, schickte sie nach Rom, zu Augustus, verpflichtete die Jugend, im römischen Heer zu dienen. Er hatte Erfolg. Die meisten der sechsundvierzig Stämme unterwarfen sich kampflos.

Wir lagerten am Lacus Brigantinus1. Es war ein schöner Sommer in jenem Jahr, warm, mild, grün lag das Land vor uns, das wir eroberten. Dieses Grün … Ich mochte das Land. Wie jeden Abend bauten die Männer ein Lager, hoben den Graben aus, schütteten den Wall auf, setzten Palisaden darauf. Einige tränkten die Pferde und Maultiere, andere sprangen in das klare Wasser, um sich nach dem Marsch zu erfrischen, doch immer auf der Hut, man konnte den Einheimischen nicht trauen, in jedem Wald, in jedem Tal konnten sie sich verstecken. Indes, wir waren unbesiegbar, dies Gefühl erfüllte mich.

Am Abend saßen wir vor unserem Zelt am Feuer, buken Brot wie unsere Männer, aßen das Wildbret, das dieses Land so großzügig feilbot. Dann zogen wir uns zurück, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Tiberius war akribisch, plante genau, überließ nichts dem Zufall. Ah, Tiberius, guter alter Freund. Wir tranken Wein, und ich wurde streitlustig. »Meine Männer sind unruhig, sie wollen kämpfen, nicht verhandeln, sie wollen Beute machen, wollen Frauen«, sagte ich.

»So können deine Männer ab morgen mit den Landvermessern gehen und unsere Straßen bauen«, erwiderte Tiberius, »dann sind sie beschäftigt.«

»Komm, alter Kumpel, du weißt doch, was Augustus will. Wir sollen das Land erobern, den Leuten hier eine Lektion erteilen.«

»Ich weiß, was Augustus will: Macht. Macht über Rom, über uns, über die Welt. Ja, du hast recht, wenn es nach ihm ginge, würden wir hier alle totschlagen, ein paar nach Rom bringen als Sklaven, die schönsten für ihn. Die kann er dann quälen.«

Gute Götter! Tiberius als Stiefsohn des Augustus sprach solche Worte. »Er hat Frieden gebracht, die ›Pax Romana‹, den Bürgerkrieg beendet. Nie ging es uns besser als jetzt!«

»Ach, Publius, was weißt du schon. Uns mag es gutgehen, dir, weil du aus einer angesehenen Familie stammst, mir, weil ich das Pech hatte, dass er meine Mutter wollte. Hast du die Verbrechen vergessen, mit denen er an die Macht kam? Mit dem Schwert in die Curie zu gehen und die Senatoren zu zwingen, ihn zum Konsul zu machen, ist das eine friedliche Tat? Die Morde, die er beging in Perusia, die Vertreibungen der Bauern von ihren Höfen, um Land für seine Veteranen zu erhalten? Nein, er ist kalt, er ist grausam, ich kenne ihn.«

»Du bist betrunken, Tiberius!«

»Ja, ich bin betrunken, ich habe vor, noch mehr zu trinken. Wenn ich darüber nachdenke, ist es nur im Trunk zu ertragen.«

»Warum dienst du ihm dann?«

»Natürlich müssen unsere Grenzen geschützt werden. Und ich mag das Leben als Feldherr, fern von den Intrigen in Rom. Ich will die Völker nicht ausrotten, ich will sie durch die Vorzüge römischer Kultur an uns binden. Schau dir doch diese Dörfer hier an. Wer einmal eine römische Stadt gesehen, wer ohne Hunger und ohne zu frieren über den Winter kam, der wird sich nicht nach den tristen, kalten, schmutzigen Hütten zurücksehnen. Das ist meine Richtung, so kann ich Rom dienen, das Reich vergrößern, Freunde und Bundesgenossen zählen allemal mehr als Feinde. Erschlägst du hundert von ihnen, wachsen tausend nach. Das gilt in der Außen- wie in der Innenpolitik. Ich diene Rom, nicht Augustus. Ich diene der Res Publica, nicht dem Principat. Und das solltest du auch tun!«

Der Republik. Ich sprang auf, der Wein und die Worte rauschten in meinen Ohren. »Tiberius! Das ist Verrat! Willst du wieder Bürgerkrieg?« Ich war nahe daran, mein Schwert zu ziehen.

Tiberius blieb ruhig sitzen. »Mäßige dich! Oder soll das ganze Lager mithören? Nein, Publius, ohne Legionen wird der politische Wechsel geschehen. Der Widerstand formiert sich in Augustus’ eigenem Haus.«

Nur ein Familienzwist, versuchte ich mich zu beruhigen. Und in der Erfüllung seiner Aufgaben war Tiberius hervorragend. Kein Verräter also. »Du lehnst dich gegen den Stiefvater auf. Hast du ihm nicht verziehen, dass er damals das Herz deiner Mutter gewann, die seinetwegen deinen Vater verließ? Das ist kindisch, Tiberius, und das weißt du.«

Er antwortete mit einem Blick, den ich noch jetzt spüre. Tief, auf mich und doch nach innen gerichtet, wie der Blick einer Götterstatue. »Du weißt nichts«, sagte er langsam, »nichts, nun, woher auch, Marcella merkte nichts davon.«

»Lass Marcella aus dem Spiel!« Vipsania Marcella, Großnichte des Princeps, meine Frau. Schwester der Gattin des Tiberius, und wo diese schön und klug und anschmiegsam war, erging sich Marcella in Missgunst und Spott, ein Biest. Sie empfand sich als hoch über mir stehend, die Heirat mit mir als Katastrophe. Mir gab sie die Schuld, nicht dem Princeps, der dies angeordnet. »Was sollte ich wissen?«, zwang ich meine Aufmerksamkeit zu Tiberius zurück.

Wieder dieser eindringliche Blick. »Der Princeps ist ein kalter, berechnender Verbrecher, an den Menschen wie am Staat. Du denkst, er gewann meine Mutter? Nein, er nahm sie, er lockte sie mit Versprechungen, er kaufte sie unserem Vater ab. Kein Mensch ist unglücklicher als sie. Er mag keine Frauen. Julia ist nicht seine Tochter, nicht umsonst verstieß er Scribonia sofort nach der Niederkunft. Meine Mutter nahm er, weil er den Namen brauchte, die Verbindung mit den Claudiern, geschlafen hat er mit ihr nie. Jungen liebt er, nicht einmal Männer. Er genießt die Macht über sie. Was meinst du, was er mit den Geiseln macht, die wir ihm schicken? Je vornehmer, desto besser, die Unterwerfung ist total. Wer nicht mitmacht, stirbt, wer nicht für ihn ist, steht gegen ihn.«

Ich glaubte ihm nicht, wollte ihm nicht glauben, zu ungeheuerlich war das Gehörte. Ich schlug ihm auf die Schulter, sagte: »Tiberius, alter Freund, der Wein verwirrt dir die Sinne. Das ist Sklavenklatsch.«

Tiberius schüttelte den Kopf, trank seinen Becher leer und erhob sich. »Leg dich schlafen, Publius, wir ziehen morgen weiter.«

Zwei Jahre später das Konsulat mit Tiberius. Konsul, der Gipfel der Macht. Und doch machtlos, fand Tiberius, genauso wie der Senat, ein Haufen eitler Panegyriker, ein jeder Wachs in den Händen des Augustus mit Hilfe von Zuwendungen, Bestechungen, Posten. Ließ er jemanden fallen, sahen die anderen, wie tief er fiel – sagte Tiberius. Der Senat eine Farce. Das Konsulat auch. Die fähigen Köpfe, die er brauchte, beschäftige Augustus anderswo, in den Provinzen, als Heerführer.

Nein, widersprach ich, die Entscheidungen des Princeps’ Augustus seien immerhin getragen von Erfahrung, Wissen und Zielstrebigkeit. Legitim sei es, Querdenker aus dem Senat zu entfernen. Nie würde man zu einem Konsens kommen, wenn zu viele individuelle, zu wenig dem Gemeinnutz geltende Ziele von den Senatoren verfolgt würden. Einer müsse letztendlich die Entscheidung treffen, sonst verfiele das Reich wieder in Chaos. Bei einem müssten die Fäden zusammenlaufen, und das könnten nicht die Konsuln sein, gewählt für ein Jahr. Kontinuität sei, was das Reich brauche.

Gewählt, ha! Die Zeiten seien vorbei, da die Konsuln gewählt würden, rief Tiberius, und trank meinen Wein. Ach, die Stunden, die wir im Garten meines Hauses saßen, diskutierten, stritten, uns austauschten, ohne uns zu fürchten. Marcella, meine Gattin, betrachtete den Gast mit Argwohn. Er sei nicht loyal, ließ sie verlauten, alten Traditionen verhaftet, er sei kein würdiger Stiefsohn unseres so wohltätigen Vaters des Vaterlandes. Genau wie sein Bruder, Drusus. Sprach sie, warf mir einen eisigen Blick zu, bevor sie sich in ihre Gemächer zurückzog, in die ich ihr nicht folgen durfte.

Ich war nicht traurig darum. Um so mehr genoss ich die langen Abende mit dem Freund, im Triklinium, im Garten, in den Bädern. Tiberius, menschenscheu und introvertiert, öffnete sich mir, vertraute mir, wir stritten, wir scherzten, wir lachten. Es war eine schöne Zeit.

Tiberius bereitete einen weiteren Feldzug gegen die Barbaren des Nordens vor. Augustus wollte eine neue Provinz, wollte die dauernden Angriffe der dortigen Stämme ein für alle Mal unterbinden, wollte Zugang zum Nordmeer, zu den Bernsteinküsten. So zogen sie aus, Drusus eroberte von Westen her das neue Gebiet, Tiberius von Süden. Später fiel Drusus vom Pferd und starb – an einer entzündeten Wunde, hieß es. Drusus war Anhänger der Republik gewesen.

 

Tiberius übernahm sein Kommando. Und wieder, im Gegensatz zu Drusus, agierte er mehr mit Verträgen als mit Schwertern. Erfolgreich, wenige unserer Männer ließen ihr Leben, und in der Provinz entstanden Straßen, Lager, Städte. Die Einheimischen begannen, sich an das neue Leben zu gewöhnen. Tiberius schrieb Briefe, berichtete mir von den Fortschritten, doch war er vorsichtig, nicht zu viel durfte man in der Korrespondenz verraten. Ich wurde nach Africa geschickt, ein heißes Land, ich mag es nicht. Ich beneidete Tiberius um sein Kommando im hohen Norden, in den wilden Wäldern, dem grünen, wasserreichen Land.

Dann Syrien. Auch dort war es heiß, trocken, gelb die Vegetation. Doch die Städte waren schön, alte Kultur, jeglicher Luxus vorhanden. Ich war fauler geworden mit den Jahren, runder, ohnehin nicht groß gewachsen, sah ich dick aus. Sagte Marcella. Sie liebte das Leben in Syrien, ging voll in der Gesellschaft auf, klatschte mit den Weibern der örtlichen Würdenträger. Ich verhandelte mit ihren Männern, allesamt korrupt. Wer Handel treiben wollte, musste sich das erkaufen, tat er es nicht, sanken seine Schiffe, wurden seine Karawanen überfallen, seine Güter gestohlen, Sklaven und Tiere ermordet. Wer einen Posten im örtlichen Magistrat bekleiden wollte, zahlte, und war er im Amt, ließ er sich bezahlen. Ich räumte auf mit der Korruption, setzte die örtlichen Magistrate ab und neue ein, übernahm viele Prozesse selbst, obwohl dies eigentlich in die Zuständigkeit der Provinzbeamten fiel. Ich konfiszierte unrechtmäßig erworbenes Vermögen, war gnädig gegen solche, die sich gegen Willkür gewehrt hatten. Langsam setzte sich das Rechtsempfinden wieder durch. Sehr langsam. Aber der Princeps war zufrieden mit mir, viel Geld floss in die Kassen Roms.

Natürlich gab es Aufstände, besonders durch die Judäer, nichts Unerwartetes. Fast jeder Statthalter hier hatte mit diesem Problem zu kämpfen. Ich schlug die Aufstände nieder, mit aller Härte, ganz dem Befehl des Princeps entsprechend. Doch die Überlebenden fanden neue Mitstreiter. Verbrannte Häuser, verwüstete Höfe, tote Menschen waren die Folge. Schlug ich einen Aufstand nieder, erstand an drei Stellen ein anderer, wurden römische Bürger ermordet.

Ich änderte meine Taktik auf Rat des Tiberius, mit dem ich in regem Briefverkehr stand. So schloss ich Verträge mit den aufständischen Völkerschaften. Ich ließ die Legionen in ihren Lagern, setzte romtreue örtliche Fürsten ein, unterstützte sie mit Geld. Ich hatte Erfolg, aber es kostete Kraft. Syrien ist eine schwierige Provinz.

Doch der Princeps war zufrieden. Nur Marcella nicht. Obwohl Antiochia, wo ich meinen Sitz hatte, eine schöne, kulturvolle Stadt war, wurde Marcella immer unzufriedener.

»Was soll ich noch erreichen?«, wehrte ich mich, als sie wieder einmal keifte und zankte. »Ich war Konsul, jetzt bin ich Prokonsul. Ich verwalte eine der schwierigsten Provinzen des Reiches, ich bin anerkannt, wir verkehren mit dem Princeps, sein Stiefsohn ist mein bester Freund. Was also kann ich noch erreichen?«

»Du bist keineswegs anerkannt«, zischte sie, »die Damen machen sich lustig über dich, dick und plump mit Doppelkinn, wie du bist. Du kleidest dich wie ein Prolet, nicht wie ein Repräsentant des römischen Reiches! Und sieh’ dir unseren Sohn an, er kommt ganz nach dir.«

Ich atmete tief durch, verdrehte die Augen, es war mein Schutz gegen ihre Angriffe. Ich kleidete mich, wie ein Römer sich kleiden sollte, in Toga, mit einfacher Tunika als Untergewand. Wie Augustus es wollte und selbst tat. Die Diskussion kannte ich zur Genüge, doch war es hier schlimmer als in Rom. In Syrien schmückten sich die reichen Männer mit feinsten, goldbestickten Gewändern, legten sich Gold um Hals und Arme, nicht meine Welt. Aber Marcellas. Und noch immer trafen mich die Worte, wie sie es beabsichtigte. Doch nie tat ich ihr den Gefallen, laut zu werden, sie gar zu schlagen, meine Waffe war die Ruhe. Es brachte sie zur Weißglut. »Seit wann ist das Aussehen relevant für das, was man im Staate leistet?«

»Du, und leisten? Weißt du eigentlich, warum du Konsul geworden bist? Nur weil ich es bei Augustus erbeten habe, nur mir zu Gefallen, um die Schmach, die er mir damals antat, als er mich mit dir verheiratete, zu mildern!«

Das traf mich unvorbereitet. »Du missgünstige Ziege, lass dein Meckern. Nicht mehr jung und frisch bist du selbst, trotz aller Salben und Badeessenzen und Schminke, die du auf deinem faltigen Gesicht verteilst. So lass dich doch scheiden von mir, mit oder ohne des Augustus’ Zustimmung, lebe dein eigenes Leben, fern von meinem unverhältnismäßigen Haushalt. Geh, wohin du willst, wohin er dich gehen lässt, doch weiter als in seinen Palast wird das nicht sein, wo du, wie viele andere vor dir, in Ungnade versteckt wirst.« Nie hatte ich es ausgesprochen, was mir schon so oft auf der Zunge gelegen hatte, aus Respekt vor ihrem Großonkel Augustus, auch aus Angst vor Konsequenzen? Und doch, jetzt war es gesagt, und ich atmete frei wie nicht mehr seit meinen Jugendtagen. Die Worte hingen in der Luft, in dem Atrium der Privatgemächer im Statthalterpalast, und die Worte wollten nicht durch die kleine Öffnung im Dach entschwinden. Einen Moment stand die Zeit still, während Marcella mich fassungslos anstarrte, den Mund halb geöffnet, wie ein zurückgebliebenes Kind. Dann verzerrten sich ihre Züge vor Hass. Die Schande der Scheidung, denn das war es in den Augen des Augustus, würde sie nicht auf sich nehmen, das erkannte ich jetzt. Sie warf den Kopf zurück und ging.

Marcella mied mich seit jenem Vorfall, kein persönliches Wort wurde gesprochen. Ich sah sie nur zu offiziellen Anlässen, wenn sie an meiner Seite Rom repräsentieren musste. Ich war wie befreit. Die Provinz lag ruhig dank meiner Anstrengungen, ich konnte mich auf die Verwaltung, auf die Durchsetzung des Rechtes konzentrieren. Ich konnte das Leben genießen, das, was ich erreicht hatte, ich, nicht der Name meiner Frau. So gab ich mich dem Luxus des syrischen Lebens hin, nahm ihn als Lohn für meine Verdienste. Die Gastmahle der örtlichen Würdenträger waren grandios, die Speisen erlesen, der Wein schwer und zu Kopfe steigend. Er regte zu Diskussionen an, bei Symposien deuteten wir die Welt. Platon und Pythagoras, Epikur und Euripides, es war eine reine Freude. Dichter traten auf und rezitierten ihre Werke, in griechischer Sprache, griechische Gedanken, ich hielt dagegen mit Auszügen aus dem neuen, noch nicht veröffentlichten Werke meines Freundes Ovidius Naso, den ›Metamorphosen‹, einer Darstellung und Deutung der griechischen und römischen Geschichte. Humorvoll und tiefgründig ist die Arbeit, mit vielen Anspielungen, die selbst ich noch nicht in ihrer Bedeutung erfasst hatte. Man war angemessen beeindruckt, besonders eine junge Frau, Phyllis, Tochter des Bürgermeisters von Antiochia, Priesterin des Apollon.

Phyllis. Sie war die Erfüllung meines Lebens. Jung, zierlich, schön, schöner als jede Statue der Venus. Augen, so dunkel und tief wie eine Schlucht in der Nacht, mit langen dunklen Wimpern, die sie nie züchtig senkte. Ihre Stimme melodisch, doch allzu selten hörte man sie, Phyllis war eine stille Person. Ich eroberte sie mit Nasos Werken. Guter alter Naso, du brachtest uns kein Glück.

Ich besuchte sie, löste ihr langes schwarzes Haar, erfreute mich mit ihr an der Liebe. Oh, nicht dass ich mich in all den Jahren zurückgehalten hätte, doch selten war das Herz involviert, eher die Sinne, die Lust. Phyllis nahm mein Herz und meine Seele. Phyllis beherrschte meine Gedanken, meine Schritte, mein Tun. Nach Rom wollte ich sie mitnehmen, ihr ein Haus kaufen, sie mit Dichtern bekanntmachen, selbst sollte sie schreiben, denn das konnte sie, ich wollte sie immer in meiner Nähe, an meiner Seite wissen.

Sie lehnte ab. Sie liebe mich, beteuerte sie, doch sie fühle sich Apollon verbunden, seinem Heiligtum hier in der Provinz.

Es gäbe auch anderswo Apollon-Heiligtümer, hielt ich dagegen, und wo es noch keine gab, würden wir sie aufbauen. Es bestand die Möglichkeit, dass ich in die neue nördliche Provinz gesandt werden würde, sagte ich, und ob es sie nicht locke, dort ein Heiligtum für die Barbaren zu schaffen, ihnen den Kult des Apollon nahezubringen, den Wettstreit mit den dortigen Göttern und deren Priesterinnen aufzunehmen, die einst dem Drusus den Untergang vorhergesagt hatten?

Phyllis zögerte, bat sich Bedenkzeit aus. Oh Phyllis, meine Glaphyra, meine Kleopatra – meine Kassandra.

Sie wollte den Gott befragen in dieser Sache. Voller Neugier und Ungeduld überredete ich sie, dabei sein zu dürfen. So begleitete ich sie in den Tempel, in das Allerheiligste, nur weil ich Statthalter war, durfte ich hinein. Phyllis setzte sich auf einen kleinen Dreifuß, entzündete Weihrauch und anderes Räucherwerk, atmete tief die Rauchschwaden ein. Mir wurde schwindelig von dem Dunst, seltsam leicht der Kopf, Bilder jagten hindurch, die ich nicht fassen konnte. Phyllis auf ihrem Schemel wiegte sich vor und zurück und sang leise in einer mir unbekannten Sprache. Ihre Augen waren geschlossen, das Antlitz bleich, der Körper gespannt. Ich bin eingeweiht in die Mysterien von Eleusis, ich weiß, was die Dämpfe bewirken, ich weiß, wie ein Orakel funktioniert. Was jetzt jedoch folgte, war beängstigend. Phyllis’ Körper bog sich wie ein gespannter Bogen, sie riss die Augen auf, die ins Leere blickten, sie krümmte sich unter gutturalen Lauten, wie von der Heiligen Krankheit gepeinigt. Schaum trat ihr vor den Mund, »anulus«, schrie sie, und noch einmal »anulus!«. Dann fiel sie vom Dreifuß und blieb regungslos liegen. Die Stille war unheimlich.