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From the series: Ein Riley Paige Krimi #9
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KAPITEL SIEBEN

Es war noch dunkel, als Rileys Flugzeug abhob. Aber sie wusste, dass es durch die Zeitverschiebung bereits hell sein würde, wenn sie San Diego erreichte. Sie würde mehr als fünf Stunden in der Luft sein und sie war jetzt schon müde. Sie musste am nächsten Morgen fit sein, wenn sie sich Bill und Lucy bei den Ermittlungen anschloss. Sie hatten ernsthafte Arbeit vor sich und sie musste bereit dafür sein.

Ich sollte besser etwas schlafen, dachte Riley. Die Frau neben ihr schien bereits einzudösen.

Riley stellte ihre Lehne nach hinten und schloss die Augen. Aber anstatt einzuschlafen, erinnerte sie sich an Jillys Theaterstück.

Sie lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie Jillys Persephone Hades einen über den Kopf gegeben hatte und der Unterwelt entflohen war.

Der Gedanke daran, wie sie Jilly gefunden hatte, gab Riley einen Stich. Es war nachts an einer Truckerraststätte in Phoenix gewesen. Jilly war vor ihrem gewalttätigen Vater weggelaufen und in die Kabine eines der geparkten Lastwagen geklettert. Sie hatte vorgehabt sich, bzw. ihren Körper dem Lastwagenfahrer anzubieten, sobald er zurückkam.

Riley schauderte.

Was wäre aus Jilly geworden, wenn sie ihr nicht zufällig in dieser Nacht über den Weg gelaufen wäre?

Freunde und Kollegen hatten Riley oft gesagt, dass sie etwas Gutes tat, indem sie Jilly in ihr Leben brachte.

Also warum fühlte sie sich nicht besser deswegen? Stattdessen spürte sie Verzweiflung.

Schließlich gab es unzählige Jillys in der Welt und sehr wenige wurden aus ihren schrecklichen Leben gerettet.

Riley konnte nicht allen helfen, genauso wenig, wie sie alle Mörder dieser Welt einfangen konnte.

Es ist alles so sinnlos, dachte sie. Alles, was ich tue.

Sie öffnete die Augen und sah aus dem Fenster. Das Flugzeug hatte die Lichter von DC hinter sich gelassen und sie blickte in undurchdringliche Dunkelheit.

Während sie in die schwarze Nacht sah, dachte sie an ihr Treffen mit Bill, Lucy und Meredith und wie wenig sie über den anstehenden Fall wusste. Meredith hatte gesagt, dass drei Opfer über eine lange Distanz erschossen worden waren.

Was sagte ihr das über den Mörder?

War das Töten ein Sport für ihn?

Oder hatte er eine Art Mission, die nur er kannte?

Eines erschien ihr sicher – der Mörder wusste, was er tat und er war gut darin.

Der Fall würde sicherlich eine Herausforderung sein.

Langsam wurden Rileys Lider schwer.

Vielleicht kann ich doch ein wenig schlafen, dachte sie. Wieder lehnte sie den Kopf zurück und schloss die Augen.

*

Riley starrte auf Etwas, das aussah wie tausende Rileys, alle von ihnen in seltsamen Winkeln zueinander stehend, immer kleiner werdend, bis sie schließlich in der Ferne nicht mehr auszumachen waren.

Sie drehte sich ein wenig und alle anderen Rileys taten es ihr gleich.

Sie hob ihren Arm, die anderen folgten ihrem Beispiel.

Dann streckte sie ihre Hand aus und stieß auf eine Glasoberfläche.

Ich bin in einem Spiegelkabinett, wurde Riley klar.

Aber wie war sie hierhergekommen? Und wie sollte sie wieder herauskommen?

Sie hörte eine Stimme rufen …

"Riley!"

Es war eine Frauenstimme und sie kam Riley vertraut vor.

"Ich bin hier!", rief Riley zurück. "Wo bist du?"

"Ich bin auch hier."

Plötzlich sah Riley sie.

Sie stand direkt vor ihr, zwischen der Vielzahl von Spiegelbildern.

Sie war eine schlanke, attraktive junge Frau, die ein Kleid trug, das schon seit Jahrzehnten aus der Mode war.

Riley wusste sofort, wer sie war.

"Mommy", flüsterte sie.

Sie war überrascht, als sie hörte, dass ihre eigene Stimme die eines kleines Mädchens war.

"Was machst du hier?", fragte Riley.

"Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden", sagte Mommy mit einem Lächeln.

Mommy war direkt vor ihren Augen in einem Süßwarenladen erschossen worden.

Aber hier stand Mommy und sah genau so aus, wie Riley sich an sie erinnerte.

"Wo gehst du hin, Mommy?", fragte Riley. "Warum musst du gehen?"

Mommy lächelte und berührte das Glas, das zwischen ihnen stand.

"Ich habe dank dir endlich Frieden gefunden. Ich kann jetzt weiterziehen."

Langsam fing Riley an zu verstehen.

Sie hatte vor kurzem den Mörder ihrer Mutter gefunden.

Er war jetzt ein bemitleidenswerter alter Obdachloser, der unter einer Brücke lebte.

Riley hatte ihn dort zurückgelassen, nachdem ihr klar geworden war, dass sein Leben schon Strafe genug gewesen war.

Riley berührte das Glas, das ihre Hand von Mommys Hand trennte.

"Aber du kannst nicht einfach gehen, Mommy", sagte sie. "Ich bin nur ein kleines Mädchen."

"Oh nein, das bist du nicht", sagte Mommy, ihr Gesicht strahlend und glücklich. "Sieh dich einfach an."

Riley sah ihr eigenes Spiegelbild neben ihrer Mommy stehen.

Es stimmte.

Riley war jetzt eine erwachsene Frau.

Es kam ihr seltsam vor, dass sie jetzt so viel älter war, als ihre Mutter zum Zeitpunkt ihres Todes.

Aber Riley sah im Vergleich zu ihrer jugendlichen Mutter auch müde und traurig aus.

Sie wird nie älter werden, dachte Riley.

Das stimmte nicht für Riley.

Und sie wusste, dass ihre Welt voller Herausforderungen und Proben war, die ihr noch bevorstanden.

Würde sie jemals eine Auszeit bekommen? Würde sie jemals Frieden finden?

Sie spürte Neid bei dem Gedanken, dass ihre Mutter ewigen Frieden gefunden hatte.

Dann drehte ihre Mutter sich um und ging davon, verschwand zwischen den unzähligen Spiegelbildern von Riley.

Plötzlich hörte sie ein fürchterliches Krachen und die Spiegel zerbrachen.

Riley stand in vollkommener Dunkelheit, bis zu ihren Knöcheln in zerbrochenem Glas.

Sie zog vorsichtig ihre Füße heraus und versuchte dann, über die Scherben zu laufen.

"Pass auf, wo du hintrittst", sagte eine weitere vertraute Stimme.

Riley drehte sich um und sah einen alten Mann mit einem harten, wettergegerbten Gesicht.

Riley keuchte.

"Daddy!", sagte sie.

Ihr Vater grinste bei ihrem überraschten Gesichtsausdruck.

"Du hast gehofft, ich wäre tot, was?", sagte er. "Tut mir leid, dich zu enttäuschen."

Riley öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen.

Aber dann wurde ihr klar, dass er recht hatte. Sie hatte nach seinem Tod im letzten Oktober nicht getrauert.

Und sie wollte ihn definitiv nicht wieder in ihrem Leben haben.

Schließlich hatte er in seinem ganzen Leben kaum ein nettes Wort für sie gehabt.

"Wo bist du gewesen?", fragte Riley.

"Wo ich immer gewesen bin", sagte ihr Vater.

Die Szenerie veränderte sich von dem Meer aus zerbrochenem Glas, bis sie vor der Hütte ihres Vaters standen.

Er stand jetzt auf den Stufen zur Veranda.

"Du könntest meine Hilfe bei diesem Fall brauchen", sagte er. "Es klingt, als wäre dein Mörder ein Soldat. Ich weiß eine Menge über Soldaten. Und ich weiß eine Menge über das Töten."

Es stimmte. Ihr Vater war im Vietnamkrieg gewesen. Sie hatte keine Ahnung, wie viele Menschen er während des Krieges getötet hatte.

Aber das letzte was sie wollte, war seine Hilfe.

"Es ist Zeit für dich zu gehen", sagte Riley.

Das Grinsen ihres Vaters wurde spöttisch.

"Oh, nein", sagte er. "Ich mache es mir gerade erst gemütlich."

Sein Gesicht und Körper veränderten sich. Innerhalb von Sekunden war er jünger, stärker, dunkelhäutig und noch bedrohlicher als zuvor.

Er war jetzt Shane Hatcher.

Seine Verwandlung löste Angst in Riley aus.

Ihr Vater war immer eine grausame Gegenwart in ihrem Leben gewesen.

Aber sie fürchtete Hatcher noch mehr.

Hatchers manipulative Macht über sie schien noch größer zu sein als die, die ihr Vater gehabt hatte.

Er konnte sie dazu bringen Dinge zu tun, die sie sich niemals erträumt hätte.

"Gehen Sie weg", sagte Riley.

"Nein", sagte Hatcher. "Wir haben eine Abmachung."

Riley schauderte.

Es stimmt, wir haben eine Abmachung, dachte sie.

Hatcher hatte ihr geholfen, den Mörder ihrer Mutter zu finden. Dafür hatte sie ihm erlaubt, in der Hütte ihres Vaters zu wohnen.

Außerdem wusste sie, dass sie ihm etwas schuldete. Er hatte ihr geholfen Fälle zu lösen – aber er hatte mehr als das getan.

Er hatte sogar das Leben ihrer Tochter gerettet und auch das ihres Exmannes.

Riley öffnete den Mund, um zu sprechen, um zu protestieren.

Aber es kamen keine Worte heraus.

Stattdessen sprach Hatcher.

"Wir sind in unserem Verstand verbunden, Riley Paige."

Riley wurde durch einen scharfen Ruck geweckt.

Ihr Flugzeug landete auf dem San Diego International Airport.

Die Morgensonne ging hinter der Landebahn auf.

Der Pilot sprach über die Lautsprecheranlage, kündigte ihre Ankunft an und entschuldigte sich für die holprige Landung.

Die anderen Passagiere nahmen ihr Gepäck und machten sich bereit, das Flugzeug zu verlassen.

Als Riley benommen aufstand und ihre Tasche aus dem Gepäckfach nahm, erinnerte sie sich an ihren verstörenden Traum.

Riley war nicht abergläubig – aber sie konnte nicht verhindern, dass sie sich fragte:

Waren der Traum und die raue Landung ein Vorzeichen für die Dinge, die folgen würden?

 

KAPITEL ACHT

Es war ein heller, klarer Morgen, als Riley in ihr Mietauto stieg und den Flughafen verließ. Das Wetter war wundervoll und angenehm sonnig. Ihr wurde klar, dass die meisten Menschen an Tagen wie diesem es genießen würden, an einem Pool zu liegen oder an den Strand zu gehen.

Aber Riley spürte eine dunkle Vorahnung.

Sie fragte sich wehmütig, ob sie jemals nach Kalifornien kommen würde, um einfach nur das Wetter zu genießen – oder an irgendeinen Ort gehen würde, nur um sich zu entspannen.

Es schien ihr, als würde das Böse auf sie warten, wohin sie auch ging.

Die Geschichte meines Lebens, dachte sie.

Sie wusste, dass sie es sich und ihrer Familie schuldig war, dieses Muster zu durchbrechen – sich Zeit zu nehmen und mit den Mädchen irgendwo hinzufahren, einfach nur, weil es Spaß machte.

Aber wann sollte das jemals passieren?

Ihr entfuhr ein trauriges, müdes Seufzen.

Vielleicht niemals, dachte sie.

Sie hatte im Flugzeug nicht viel Schlaf bekommen und sie fühlte den Jetlag von dem Zeitunterschied zwischen Virginia und Kalifornien.

Trotzdem war sie motiviert, mit diesem neuen Fall anzufangen.

Auf ihrem Weg zum San Diego Freeway kam sie an modernen Gebäuden vorbei, die umgeben waren von Palmen. Bald war sie aus der Stadt, aber der Verkehr auf dem mehrspurigen Freeway nahm nicht ab. Die sich schnell vorwärts bewegende Schlange von dicht an dicht gereihten Wagen, fuhr über raue Hügel, auf denen das frühe Sonnenlicht eine steile Buschlandschaft enthüllte.

Trotz der Landschaft hatte Riley das Gefühl, dass Südkalifornien weniger entspannt war, als sie erwartet hatte. Wie sie, schienen auch die anderen in Eile zu sein.

Sie nahm die Ausfahrt "Fort Nash Mowat." Nach einigen Minuten hielt sie vor einem Tor, zeigte ihre Marke und erhielt die Erlaubnis das Gelände zu betreten.

Sie hatte Bill und Lucy geschrieben und sie wissen lassen, dass sie auf dem Weg war. Die beiden warteten bei ihrem Wagen und Bill stellte die uniformierte Frau neben ihnen als Colonel Dana Larson vor, Kommandantin des Fort Mowat CID Büros.

Riley war sofort von Larson beeindruckt. Sie war eine kräftige, stämmige Frau mit eindringlichen dunklen Augen. Ihr Handschlag vermittelte Riley ein Gefühl von Selbstsicherheit und Professionalität.

"Es freut mich, Sie kennenzulernen, Agentin Paige", sagte Colonel Larson mit klarer, kräftiger Stimme. "Ihr Ruf eilt Ihnen voraus."

Rileys Augen weiteten sich leicht.

"Ich bin überrascht", sagte sie.

Larson lachte leise.

"Nicht nötig", sagte sie. "Ich bin ebenfalls in der Strafverfolgung und halte mich informiert über alles, was das BAU tut. Wir sind geehrt, Sie hier im Fort Mowat zu haben."

Riley spürte leichte Röte in ihre Wangen steigen, als sie sich bei Colonel Larson bedankte.

Larson rief einen in der Nähe stehenden Soldaten, der mit schnellem Schritt auf sie zutrat und salutierte.

Sie sagte, "Korporal Salerno, ich möchte, dass sie Agentin Paiges Wagen zurück zu der Mietwagenstation am Flughafen bringen. Sie wird es hier nicht benötigen."

"Jawohl, Ma'am", sagte der Korporal, "wird erledigt." Er stieg in Rileys Wagen und verließ den Stützpunkt.

Riley, Bill und Lucy stiegen in das andere Auto.

Während Colonel Larson fuhr, fragte Riley, "Was habe ich bisher verpasst?"

"Nicht viel", sagte Bill. "Colonel Larson hat uns gestern Abend hier getroffen und uns unsere Unterkunft gezeigt."

"Wir haben noch nicht den Stützpunktkommandanten getroffen", fügte Lucy hinzu.

Colonel Larson sagte, "Wir sind jetzt gerade auf dem Weg zu Kommandant Dutch Adams."

Dann, mit einem leisen Lachen, fügte sie hinzu, "Erwarten Sie kein herzliches Willkommen. Agenten Paige und Vargas, damit meine ich insbesondere Sie."

Riley war sich nicht sicher, was Larson meinte. War der Kommandant unzufrieden, weil das BAU zwei Frauen geschickt hatte? Riley konnte sich nicht denken, warum. Wo auch immer Riley hinsah, sah sie uniformierte Frauen und Männer beisammen stehen. Und mit Colonel Larson auf dem Stützpunkt musste Adams daran gewöhnt sein, mit Frauen in Autoritätspositionen umzugehen.

Colonel Larson hielt vor einem sauberen, modernen Bürogebäude und führte die Agenten hinein. Als sie sich näherten, standen drei junge Männer stramm und salutierten Colonel Larson. Riley sah, dass ihre CID Jacken denen des FBIs ähnelten.

Colonel Larson stellte die drei Männer als Sergeant Matthews und seine Teammitglieder, Spezialagenten Goodwin und Shores vor. Dann betraten sie alle einen Konferenzraum, in dem sie von Kommandant Dutch Adams erwartet wurden.

Matthews und seine Agenten salutierten Adams, Colonel Larson nicht. Riley wurde klar, dass es an dem gleichgestellten Rang der beiden lag. Sie spürte außerdem deutlich die Spannung zwischen den beiden Kommandanten.

Und wie Colonel Larson gesagt hatte, sah Adams nicht erfreut darüber aus, Riley und Lucy in dem Konferenzraum zu sehen.

Jetzt verstand Riley, was das Problem war.

Kommandant Dutch Adams war von der alten Schule und hatte sich nicht daran gewöhnt, dass Männer und Frauen zusammen dienten. Und ausgehend von seinem Alter, würde er das wohl auch nie. Er würde mit seinen Vorurteilen in den Ruhestand treten.

Adams musste vor allem die Anwesenheit von Colonel Larson auf dem Stützpunkt gegen den Strich gehen – eine uniformierte Frau, über die er keine Autorität hatte.

Als die Gruppe sich setzte, spürte Riley einen Schauer über ihren Rücken laufen, als sie Adams' Gesicht genauer betrachtete. Es war ein breites, langes, kantiges Gesicht, das denen vieler Soldaten ähnelte, die sie während ihres Lebens gekannt hatte – ihren Vater eingeschlossen.

Tatsächlich fand Riley die Ähnlichkeit zwischen Kommandant Adams und ihrem Vater geradezu verstörend.

Er sprach mit Riley und ihren Kollegen in einem übertrieben offiziellen Ton.

"Willkommen in Fort Nash Mowat. Dieser Stützpunkt ist seit 1942 in Betrieb. Er erstreckt sich über fünfundsiebzigtausend Morgen, hat tausendfünfhundert Gebäude und dreihundertfünfzig Meilen Straße. Sie werden hier jederzeit etwa sechzigtausend Menschen finden. Ich bin stolz, ihn den besten Ausbildungsstützpunkt im ganzen Land zu nennen."

An dieser Stelle versuchte Adams ein abfälliges Grinsen zu unterdrücken. Es gelang ihm nicht völlig.

Er fügte hinzu, "Und aus diesem Grund, möchte ich Sie bitten, hier möglichst wenig Wirbel zu verursachen. Dieser Ort ist eine gut geölte Maschine. Außenseiter haben die unerfreuliche Angewohnheit Sand ins Getriebe zu werfen. Falls Sie das tun, verspreche ich Ihnen, dass Sie es bereuen werden. Habe ich mich klar ausgedrückt?"

Er sah Riley dabei direkt in die Augen, offensichtlich in dem Versuch, sie einzuschüchtern.

Sie hörte Bill und Lucy sagen, "Jawohl, Sir."

Aber sie sagte nichts.

Er ist nicht mein Vorgesetzter, dachte sie.

Sie hielt einfach den Augenkontakt aufrecht und nickte.

Dann sah er zu den anderen im Raum. Er sprach mit kalter Wut in seiner Stimme.

"Drei gute Männer sind tot. Die Situation ist untragbar. Ändern Sie das. Sofort."

Er hielt einen Moment inne. Dann sagte er, "Um Punkt elfhundert findet die Beisetzung von Sergeant Clifford Worthing statt. Ich erwarte, dass Sie alle daran teilnehmen."

Ohne ein weiteres Wort stand er auf. Die CID Agenten standen auf und salutierten und Colonel Adams verließ den Raum.

Riley war sprachlos. Waren sie nicht alle hier, um den Fall zu besprechen und das weitere Vorgehen festzulegen?

Ihre Überraschung bemerkend, grinste Colonel Larson sie an.

"Normalerweise ist er nicht so gesprächig", sagte sie. "Vielleicht mag er sie."

Alle lachten bei dieser sarkastischen Spitze.

Riley wusste, dass ein wenig Humor hilfreich sein konnte.

Die Dinge würden noch schnell genug ernst werden.

KAPITEL NEUN

Larson sah Riley, Bill und Lucy aufmerksam an. Ihr Blick war durchdringend und intensiv, als würde sie versuchen sie einzuschätzen. Riley fragte sich, ob die Kommandantin der CID eine wichtige Ansage machen würde.

Stattdessen fragte Larson, "Haben Sie schon gefrühstückt?"

Sie alle verneinten.

"Nun, diese Situation ist untragbar", sagte Larson mit einem Lachen. "Lassen Sie uns das korrigieren, bevor Sie mir vom Fleisch fallen. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen die Gastfreundschaft von Fort Mowat."

Larson ließ ihr Team zurück und führte die drei FBI Agenten in die Offizierskaserne. Riley sah sofort, dass Larson die Gastfreundschaft ernst gemeint hatte. Die Kaserne wirkte wie ein teures Restaurant und Larson wollte nichts davon hören, dass sie ihr Essen selbst bezahlten.

Bei einem köstlichen Frühstück besprachen sie den Fall. Riley wurde klar, dass sie einen Kaffee dringend benötigt hatte. Das Essen war auch willkommen.

Colonel Larson gab ihnen ihre Ansicht des Falls. "Das auffallendste Detail an diesen Morden ist die Methode und der Rang der Opfer. Rolsky, Fraser und Worthing waren alle Ausbildungsoffiziere. Sie wurden alle drei aus langer Distanz mit einem leistungsstarken Gewehr getötet. Und die Opfer wurden alle Nachts erschossen."

Bill fragte, "Was haben sie noch gemeinsam?"

"Nicht viel. Zwei waren weiß und einer war schwarz, also keine Rassenfrage. Sie standen alle unterschiedlichen Truppen vor, also hatten sie auch keine gemeinsamen Rekruten."

Riley fügte hinzu, "Sie haben vermutlich schon die Unterlagen von allen Soldaten zusammengestellt, die abgemahnt worden sind oder psychologische Probleme hatten. Deserteure? Unehrenhafte Entlassungen?"

"Haben wir", erwiderte Larson. "Es ist eine sehr lange Liste und wir haben sie durchgearbeitet. Aber ich schicke sie Ihnen und Sie können sehen, was Sie darin finden."

"Ich würde gerne mit den Männern in jeder Truppe sprechen."

Larson nickte. "Natürlich. Sie können heute nach der Beerdigung mit einigen sprechen und ich arrangiere weitere Treffen, wenn Sie möchten."

Riley bemerkte, dass Lucy sich Notizen machte. Sie nickte der jungen Agentin zu, ihre eigenen Fragen zu stellen.

Lucy fragte, "Welches Kaliber hatten die Kugeln?"

"NATO Kaliber", sagte Colonel Larson. "7.62 Millimeter."

Lucy sah Larson interessiert an. Sie sagte, "Klingt, als könnte die Waffe ein M110 sein. Oder möglicherweise ein Heckler & Koch G28."

Larson lächelte leicht, scheinbar beeindruckt von Lucys Wissen.

"Aufgrund der Distanz nehmen wir an, dass es sich um ein M110 handelt", sagte Larson. "Die Kugeln scheinen aus der gleichen Waffe zu stammen."

Riley war erfreut Lucy so engagiert zu sehen. Für Riley war Lucy ein Protegé und sie wusste, dass Lucy sie als eine Art Mentorin sah.

Sie lernt schnell, dachte Riley stolz.

Riley sah zu Bill. Sie konnte sehen, dass er ebenso erfreut über Lucys Fortschritte war, wie sie.

Riley hatte selbst noch einige Fragen, entschied aber, nicht zu unterbrechen.

Lucy sagte zu Larson, "Ich nehme an, sie denken der Täter ist jemand mit einer Militärausbildung. Ein Soldat auf dem Stützpunkt?"

"Möglich", sagte Larson. "Oder ein ehemaliger Soldat. Auf jeden Fall jemand mit einer exzellenten Ausbildung. Kein gewöhnlicher Schütze."

Lucy klopfte mit ihrem Bleistift auf den Tisch.

Sie schlug vor, "Jemand, der ein Problem mit Autoritätspersonen hat? Insbesondere Ausbildungsoffizieren?"

Larson kratzte sich nachdenklich am Kinn.

"Ich habe darüber nachgedacht", sagte sie.

Lucy sagte, "Ich nehme an, sie haben auch Terrorismus in Betracht gezogen."

Larson nickte.

"Dieser Tage ist das leider die Standardtheorie."

"Ein einsamer Wolf?", fragte Lucy.

"Vielleicht", sagte Larson. "Aber es könnte sein, dass er auf Geheiß einer ganzen Gruppe hin agiert – entweder eine kleine Zelle hier in der Nähe oder etwas Internationales wie ISIS oder Al-Qaeda."

Lucy dachte einen Moment nach.

"Wie viele muslimische Rekruten haben Sie derzeit in Fort Mowat?", fragte Lucy.

"Momentan dreihundertdreiundvierzig. Das ist natürlich ein sehr kleiner Prozentsatz von Rekruten. Aber wir müssen vorsichtig sein mit einer Profilerstellung. Im Allgemeinen sind unsere muslimischen Rekruten sehr engagiert. Wir hatten bisher keine Probleme mit Extremismus – falls es das ist."

 

Larson sah Riley und Bill an und lächelte.

"Aber Sie beide sind sehr ruhig. Wie wollen Sie weiter vorgehen?"

Riley schielte zu Bill. Wie gewöhnlich konnte sie sehen, dass er das Gleiche dachte wie sie.

"Lassen Sie uns einen Blick auf die Tatorte werfen", sagte Bill.

*

Wenige Minuten später fuhren Riley, Bill und Lucy mit Colonel Larson durch Fort Mowat.

"Welchen Tatort wollen Sie sich zuerst ansehen?", fragte Larson.

"In der Reihenfolge der Morde", sagte Riley.

Während Larson fuhr, bemerkte Riley Soldaten, die Übungen absolvierten, Hindernisparkoure überwanden und am Schießstand übten. Sie konnte sehen, dass es harte, fordernde Arbeit war.

Riley fragte Larson, "An welcher Stelle ihrer Ausbildung sind diese Rekruten?"

"Sie sind in der zweiten Phase – der weißen Phase", sagte Larson. "Wir haben drei Phasen – rot, weiß und blau. Die ersten beiden, rot und weiß, dauern jeweils drei Wochen und diese Rekruten sind gerade in ihrer fünften Woche. Die letzten vier Wochen sind die blaue Phase. Die ist so schwer, wie sie nur sein kann. In der Phase finden die Rekruten heraus, ob sie haben, was nötig ist, um ein Soldat zu sein."

Riley hörte den Stolz in Larsons Stimme – den gleichen Stolz, den sie oft in der Stimme ihres Vaters gehört hatte, wenn er über seine Zeit im Militär sprach.

Sie liebt, was sie tut, dachte Riley.

Sie hatte außerdem keinen Zweifel daran, dass Colonel Larson gut in dem war, was sie tat.

Larson parkte neben einem Pfad, der durch das Camp führte. Sie stiegen aus und Larson führte sie an eine Stelle des Pfades. Sie lag auf einer freien Fläche, frei von Bäumen, die den Blick versperren könnten.

"Sergeant Rolsky wurde hier ermordet", sagte Larson. "Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Wir konnten anhand der Wunde oder der Position der Leiche nicht erkennen, wo der Schuss herkam – außer, dass es eine beträchtliche Distanz gewesen sein muss.

Riley sah sich um und studierte den Tatort.

"Wann wurde Rolsky getötet?", fragte sie.

"Gegen zweiundzwanzighundert", sagte Larson.

Riley wandelte es mental in ein vertrautes Format um – zehn Uhr abends.

Sie stellte sich vor, wie der Tatort um diese Zeit ausgesehen hatte. Einige Laternen standen in einem Umkreis von zehn Metern zu der Stelle. Trotzdem musste das Licht sehr gedämpft gewesen sein. Wahrscheinlich hatte der Schütze ein Nachtsichtvisier benutzt.

Sie drehte sich langsam um und versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung der Schuss gekommen war.

Im Süden und Norden standen Gebäude. Es war unwahrscheinlich, dass der Schütze Gelegenheit gehabt hatte, von einer dieser Positionen aus zu schießen.

Im Westen konnte sie hinter dem Stützpunkt den Pazifischen Ozean in der Distanz sehen.

Im Osten waren steile Hügel.

Riley zeigte zu den Hügeln und sagte, "Ich nehme an, dass der Schütze dort positioniert war."

"Das ist eine gerechtfertigte Annahme", sagte Larson und zeigte auf eine Stelle auf dem Boden. "Wir haben die Kugel gleich hier gefunden, was andeutet, dass der Schuss aus Richtung der Hügel gekommen sein muss. Ausgehend von der Wunde, wurde der Schuss aus einer Entfernung von achtzig bis neunzig Metern gefeuert. Wir haben das Gebiet durchsucht, aber er hat keine Beweisspuren hinterlassen."

Riley dachte einen Moment nach.

Dann fragte sie Larson, "Ist auf dem Gelände von Fort Mowat Jagen erlaubt?"

"Während der Saison mit Jagderlaubnis", erwiderte Larson. "Wir sind gerade in der Truthahnsaison. Während des Tages ist auch das Schießen von Krähen erlaubt."

Natürlich wusste Riley, dass diese Tode keine Jagdunfälle waren. Als die Tochter eines Mannes, der sowohl ein Marine, als auch ein Jäger gewesen war, wusste sie, dass niemand ein Scharfschützengewehr nutzen würde, um Truthähne oder Krähen zu schießen. Eine Schrotflinte wäre zu dieser Jahreszeit die wahrscheinlichere Waffe der Wahl.

Sie bat Larson, sie zu dem nächsten Tatort zu bringen. Der Colonel fuhr sie zu niedrigen Hügeln am Ende eines Wanderpfades. Als sie aus dem Wagen stiegen, zeigte Larson auf eine Stelle des Pfades, der sich nach oben wand.

"Sergeant Fraser wurde dort getötet", sagte sie. "Er hat eine Abendwanderung gemacht. Der Schuss scheint aus der gleichen Distanz gekommen zu sein. Wieder hat niemand etwas gesehen oder gehört. Aber wir nehmen an, dass er etwa um dreiundzwanzighundert getötet wurde."

Elf Uhr abends, dachte Riley.

Auf eine andere Stelle zeigend fügte Larson hinzu, "Wir haben die Kugel dort entdeckt."

Riley sah in die entgegengesetzte Richtung. Von dort musste der Schuss gekommen sein. Sie sah zahlreiche Plätze, an denen der Schütze sich versteckt haben konnte. Sie war sich sicher, dass Larson und ihr Team die Gegend abgesucht hatten.

Schließlich fuhren sie zu den Kasernen, wo die Rekruten wohnten. Larson führte sie zum Hintereingang. Das erste, was Riley auffiel, war ein riesiger dunkler Fleck auf der Wand gleich neben der Tür.

Larson sagte, "Hier wurde Sergeant Worthing getötet. Er scheint für eine schnelle Zigarette hergekommen zu sein, vor den morgendlichen Truppenübungen. Der Schuss war so sauber, dass nicht einmal die Zigarette aus seinem Mundwinkel gefallen ist.

Rileys Interesse nahm zu. Dieser Tatort unterschied sich von den anderen – und war deutlich informativer. Sie untersuchte den Fleck und die Schmierspuren, die nach unten führten.

Sie sagte, "Es sieht so aus, als hätte er an der Wand gelehnt, als die Kugel ihn traf. Sie müssen eine bessere Ahnung für die Schussrichtung bekommen haben, als von den anderen Tatorten."

"Deutlich besser", stimmte Larson zu. "Aber keine präzise Position."

Larson zeigte über das Feld hinter den Kasernen, wo die Hügel begannen.

"Der Schütze muss sich irgendwo zwischen diesen beiden Eichen versteckt haben", sagte sie. "Aber er hat sehr sorgfältig aufgeräumt. Wir konnten keine Spur von ihm finden."

Riley sah, dass die Entfernung zwischen den beiden Bäumen etwa sechs Meter betrug. Larson und ihr Team hatte gute Arbeit geleistet, die Position des Schützen einzugrenzen.

"Wie war das Wetter?", fragte Riley.

"Sehr klar", sagte Larson. "Ein dreiviertel Mond bis zum Morgengrauen."

Riley spürte ein Kribbeln über den Rücken laufen. Es war das vertraute Gefühl, das sie bekam, wenn sie sich an einem Tatort befand.

"Ich würde mich gerne selber dort umsehen", sagte sie.

"Sicherlich", sagte Larson. "Ich bringe Sie hin."

Riley wusste nicht, wie sie ihr sagen sollte, dass sie alleine gehen wollte.

Glücklicherweise sprach Bill für sie.

"Lassen Sie Agentin Paige ruhig alleine gehen. Das ist ihr Ding."

Larson nickte anerkennend.

Riley wanderte über das Feld. Mit jedem Schritt wurde das Kribbeln stärker.

Schließlich fand sie sich zwischen den beiden Bäumen wieder. Sie konnte sehen, warum Larsons Team nicht in der Lage gewesen war, die exakte Position zu finden. Der Boden war sehr uneben mit vielen kleinen Büschen. Alleine in dem Gebiet, in dem sie gerade stand, gab es sicherlich ein halbes Dutzend Plätze, an denen sich jemand verstecken und einen sauberen Schuss auf die Kasernen abgeben konnte.

Riley ging zwischen den Bäumen hin und her. Sie wusste, dass sie nicht nach etwas suchte, das der Schütze zurückgelassen hatte – nicht einmal Fußspuren. Larson und ihr Team hätte so etwas nicht übersehen.

Sie atmete langsam ein und aus und stellte sich vor, in den frühen Morgenstunden hier gewesen zu sein. Die Sterne verblassten und der Mond warf noch Schatten.

Das Gefühl wurde mit jeder Sekunde stärker – ein Gespür für den Mörder.

Riley atmete weiter tief durch und bereitete sich vor, in den Verstand des Mörders einzutreten.

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