Eine Spur von Hoffnung

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From the series: Keri Locke Mystery #5
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Sie erinnerte sich an den Schrei „Bitte, Mami, hilf mir“ und wie die blonden auf und ab hüpfenden Zöpfe sich immer weiter entfernten, als die achtjährige Evie über die grüne Wiese verschwand.

Sie erinnerte sich noch an die Kieselsteine, die während der Pressekonferenz noch in ihren Fußsohlen steckten, weil sie barfuß über den Parkplatz gesprintet war und dem Van hinterher gejagt war, bis er sie hinter sich gelassen hatte. Sie erinnerte sich an alles.

Anderson hatte aufgehört zu sprechen. Sie sah ihn an und erkannte, dass Tränen in seinen Augen standen, genau wie in ihren. Er fuhr fort.

„Dann sah ich ein paar Monate später eine andere Story, da hatte diese Polizistin ein anderes Kind gerettet, diesmal einen Jungen, der abgegriffen wurde, als er auf dem Weg zum Baseball-Training war.“

„Jimmy Tensall.“

„Und im Monat drauf fand sie ein Baby, ein Mädchen, direkt aus dem Einkaufswagen geklaut. Die Frau, die sie entführte, hatte eine falsche Geburtsurkunde anfertigen lassen und plante, mit dem Baby nach Peru zu fliegen. Sie haben sie am Gate geschnappt, als sie gerade ins Flugzeug steigen wollte.“

„Ich erinnere mich“.

„Da habe ich mich entschieden, dass ich so nicht weitermachen kann. Seitdem erinnerte mich jede Entführung an diese Pressekonferenz, in der Sie um die Wiederkehr ihrer Tochter gefleht haben. Ich konnte es nicht mehr auf Armeslänge halten. Ich bin weich geworden, denke ich mal. Und genau dann machte unser Freund einen Fehler.“

„Und zwar?“, fragte Keri und empfand ein Kribbeln, das nur auftauchte, wenn sie spürte, gleich etwas Großes aufzudecken.

Anderson blickte sie an und Keri konnte sehen, dass er mit einer großen, inneren Entscheidung rang. Dann glätteten sich seine Brauen und sein Gesicht wurde offener. Er schien sich entschieden zu haben.

„Vertrauen Sie mir?“, fragte er leise.

„Was ist denn das für eine Art Frage? Nie im L—”.

Doch bevor sie den Satz beenden konnte, hatte er sich schon vom Tisch, der die beiden trennte, abgestoßen, schlang seine Handschellen, die seine Handgelenke fesselten, um ihren Hals und riss sie zu Boden, während er sie in eine Ecke des Vernehmungsraumes warf.

Als Officer Kiley hereinstürmte, benutzte Anderson ihren Körper als Schild, indem er sie vor sich hielt. Sie spürte einen scharfen Stich am Hals und blickte hinunter, um zu sehen, was es war. Es sah aus wie ein angespitzter Zahnbürstengriff. Und er war an ihre Halsschlagader gepresst.

KAPITEL SIEBEN

Keri war total überrumpelt worden. Einen Moment zuvor standen Anderson die Tränen in den Augen beim Gedanken an ihre vermisste Tochter. Jetzt hielt er ihr ein messerscharfes Plastikteil an den Hals.

Ihr erster Reflex war sich zu bewegen, um seinen Griff zu lockern. Aber sie wusste, das würde nicht funktionieren. Niemals könnte sie etwas gegen ihn ausrichten, bevor es ihm gelingen würde, die Stichwaffe aus Plastik in ihre Vene zu rammen.

Außerdem, hier stimmte etwas nicht. Anderson hatte ihr nie das Gefühl vermittelt, ihr Böses zu wollen. Er schien sie sogar zu mögen. Er schien ihr helfen zu wollen. Und falls er wirklich Krebs hatte, war dies sowieso umsonst. Er hatte selbst gesagt, dass er bald tot sein würde.

Ist dies seine Art, dem Schmerz zu entgehen, seiner Version von Selbstmord durch einen Polizisten?

„Fallenlassen!“, schrie Officer Kiley, seine Waffe in ihre Richtung zielend.

„Lassen Sie Ihre Waffe fallen, Kiley“, sagte Anderson überraschend ruhig. „Sie werden aus Versehen die Geisel erschießen, und Ihre Karriere ist vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hat. Halten Sie sich an die Richtlinien. Benachrichtigen Sie Ihren Vorgesetzten. Holen Sie einen Verhandlungsführer. Das sollte nicht lange dauern. Es ist immer einer auf Stand-By. Einer kann bestimmt innerhalb von zehn Minuten hier in diesem Raum sein.“

Kiley stand dort, unsicher, wie er sich verhalten sollte. Seine Augen blickten zwischen Anderson und Keri hin und her. Seine Hände zitterten.

„Er hat recht, Officer Kiley“, sagte Keri und versuchte dabei, den beruhigenden Ton Andersons zu treffen. „Folgen Sie einfach der Standardprozedur und all dies hier wird gut laufen. Der Gefangene kann nicht weglaufen. Verlassen Sie den Raum und stellen Sie sicher, dass die Tür verschlossen ist. Tätigen Sie Ihre Anrufe. Ich bin okay. Mr. Anderson wird mir nichts tun. Er will ohne Zweifel verhandeln. Also müssen Sie jemanden holen, der befugt ist, dies zu tun, okay?“

Kiley nickte, seine Füße blieben, wo sie waren.

„Officer Kiley“, sagte Keri, diesmal mit festerer Stimme, „gehen Sie und benachrichtigen Sie Ihren Vorgesetzten. Jetzt!“

Das schien zu Kiley durchzudringen. Rückwärts verließ er den Raum, machte die Tür zu, schloss sie ab und griff zum Telefon an der Wand, wobei er sie nicht aus den Augen ließ.

„Wir haben nicht viel Zeit“, flüsterte Anderson Keri ins Ohr, als er den Griff, der die Plastikwaffe gegen ihren Hals drückte, ein wenig lockerte. „Es tut mir leid, aber es gab keinen anderen Weg, um mit Ihnen komplett vertraulich zu sprechen.“

„Wirklich?“, flüsterte Keri zurück, halb wütend, halb erleichtert.

„Cave hat seine Leute überall, hier drinnen wie auch draußen. Hiernach bin ich erledigt. Ich werde die Nacht nicht überstehen. Ich werde vielleicht nicht einmal die nächste Stunde überstehen. Aber ich mache mir mehr Sorgen um Sie. Wenn er glaubt, dass Sie alles wissen, was ich weiß, lässt er Sie vielleicht einfach eliminieren, ungeachtet der Konsequenzen.“

„Also, was wissen Sie?“, fragte Keri.

„Ich habe Ihnen erzählt, dass Cave einen Fehler gemacht hat. Er kam zu mir und sagte, er mache sich Ihretwegen Sorgen. Er hatte einige Nachforschungen angestellt und herausgefunden, dass einer seiner Leute Ihre Tochter entführt hatte. Wie Sie herausfanden, war es Brian Wickwire – der Sammler. Cave hatte es nicht angeordnet und wusste auch nichts davon. Wickwire hat oft allein gearbeitet und Cave hat vermittelt, dass die Mädchen von A nach B gebracht wurden. Das hat er auch mit Evie getan und keinen weiteren Gedanken daran verschwendet.“

„Also hatte er nicht sie speziell ins Visier genommen?“, fragte Keri. Sie hatte sich dies schon gedacht, wollte aber sicher sein.

„Nein. Sie war nur eine süße Blondine, für die Wickwire meinte, einen guten Preis erzielen zu können. Aber als Sie anfingen, Mädchen zu retten und Schlagzeilen zu machen, ging Cave seine Unterlagen durch und stellte fest, dass er durch Wickwire mit ihrer Entführung verbunden war. Er machte sich Sorgen, dass Sie sich zu ihm vorarbeiten würden und bat mich, ihm zu helfen, Evie gut zu verstecken und ihn aus der Sache herauszuhalten. Er wollte nichts damit zu tun haben.“

„Er hat seine Spuren verwischt, noch bevor ich ihn verdächtigte, involviert zu sein?“, fragte Keri, über Caves Voraussicht staunend.

„Er ist ein schlauer Kerl“, stimmte Anderson zu. „Was er allerdings nicht bemerkt hat war, dass er genau die falsche Person um Hilfe gebeten hat. Das hat er nicht ahnen können. Schließlich war ich derjenige, der ihn überhaupt erst korrumpiert hat. Aber ich habe mich entschieden, Ihnen zu helfen. Ich habe es natürlich auf eine Art und Weise getan, die mich schützen würde.“

Genau dann öffnete Kiley die Tür einen Spalt.

„Der Verhandlungsführer ist auf dem Weg“, sagte er mit zitternder Stimme. „Er wird in fünf Minuten hier sein. Bleiben Sie ruhig, Anderson. Machen Sie keine Dummheiten.“

„Bringen Sie mich nicht dazu, Dummheiten zu machen“, brüllte Anderson ihn an, wobei er die Zahnbürste wieder an Keris Hals legte und versehentlich in ihre Haut stach. Schnell schloss Kiley wieder die Tür.

„Autsch“, sagte Keri. „Ich glaube, ich blute.“

„Tut mir leid“, sagte er überraschend verlegen. „Es ist schwer zu manövrieren, wenn man so ausgestreckt auf dem Boden liegt.“

„Halten Sie einfach den Ball ein bisschen flacher, okay?“

„Ich werde es versuchen. Hier läuft einfach gerade viel ab, wissen Sie? Jedenfalls, ich habe mit Wickwire gesprochen und ihm gesagt, Evie irgendwo in L.A. zu verstecken, wo man sich gut um sie kümmern würde, für den Fall, dass wir sie später noch bräuchten. Ich wollte sichergehen, dass sie nicht die Stadt verlässt. Ich wollte nicht, dass sie… mehr erdulden muss als sowieso schon.“

Keri erwiderte nichts, aber beide wussten, dass er den Horror, den ihre Tochter in den vergangenen Jahren hatte erdulden müssen, nicht mehr ändern konnte. Schnell fuhr Anderson fort, da er sich offensichtlich nicht länger mit dem Gedanken befassen wollte als sie.

„Ich weiß nicht, was er mit ihr gemacht hat, aber wie sich herausstellte, hat er sie bei dem älteren Typen untergebracht. Der, von dem Sie später herausbekommen hatten, dass sie bei ihm war.“

„Wenn Sie sich entschlossen hatten, mir zu helfen, warum haben Sie nicht einfach ihren Aufenthaltsort herausgefunden und sie selbst zurückgeholt?“

„Aus zwei Gründen“, sagte Anderson. „Erstens, Wickwire hätte mir ihren Aufenthaltsort nicht verraten. Dies waren wertvolle Informationen, die er sehr bewachte. Zweitens, und hierauf bin ich nicht stolz, wusste ich, dass ich verhaftet würde, wenn ich Ihnen Ihre Tochter wiedergebracht hätte.“

„Aber Sie haben sich doch einige Monate später freiwillig für Entführungen verhaften lassen“, protestierte Keri.

 

„Das war danach, als ich einsah, dass ich drastische Maßnahmen ergreifen musste. Ich wusste, dass Sie irgendwann über Kindesentführer nachforschen und so zu mir gelangen würden. Und ich wusste, dass ich Sie auf die richtige Spur setzen konnte, ohne dass Cave mich verdächtigen würde. Was die Verhaftung angeht, das ist richtig, dass es beabsichtigt war. Aber Sie werden sich erinnern, dass ich mich vor Gericht selbst verteidigt habe. Und wenn Sie sich die Dokumente bei Gericht genauer ansehen, werden Sie feststellen, dass sowohl dem Staatsanwalt als auch dem Richter etliche Fehler unterlaufen sind; Fehler, für die ich die Köder ausgelegt hatte, die dazu führen würden, dass meine Verurteilung fast zweifellos aufgehoben würde. Ich habe nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um in die Berufung zu gehen. Das ist jetzt natürlich alles fraglich.“

Keri blickte auf und sah einen Tumult vor dem Fenster des Raumes. Sie sah mehrere Beamte, von denen mindestens einer bewaffnet war, am Fenster vorübergehen. Es war ein Scharfschütze.

„Ich will nicht herzlos erscheinen, aber wir müssen zum Ende kommen“, sagte sie. „Man weiß nie, ob nicht jemand dort draußen einen nervösen Finger hat, oder ob Cave einen seiner Untergebenen beauftragt hat, Sie vorsichtshalber zu eliminieren.“

„Das ist wohl war, Detective“, stimmte Anderson zu. „Hier sitze ich und quatsche über meine moralische Konvertierung, während Sie wissen wollen, wie Sie Ihre Tochter wiederbekommen. Habe ich Recht?“

„Haben Sie. Also sagen Sie es mir. Wie bekomme ich sie wieder?“

„Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich glaube nicht, dass Cave weiß, wo sie ist. Er mag vielleicht den Ort des Vista Events morgen Abend kennen, aber er wird auf keinen Fall dort sein. Also hat es auch keinen Sinn, ihn beschatten zu lassen.“

„Also, was Sie sagen ist, dass ich keine Hoffnung habe, sie wiederzubekommen?“ verlangte Keri ungläubig

Habe ich all dies erduldet für diese Antwort?

„Wahrscheinlich nicht, Detective“, gab er zu. „Aber vielleicht können Sie ihn dazu bewegen, sie Ihnen wiederzugeben.“

„Wie meinen Sie das?“

„Cave hat Sie immer als Störfaktor, als Hindernis gesehen, das ihm bei seinem Business im Weg steht. Aber das hat sich im letzten Jahr geändert. Er ist besessen von Ihnen. Nicht, dass er denkt, Sie sind nur darauf aus, sein Business zu zerstören. Er glaubt, dass Sie ihn persönlich zerstören wollen. Und weil er in dieser verdrehten Realität meint, der Gute zu sein, denkt er, Sie sind die Böse.“

„Er meint, ich bin die Böse?“, wiederholte Keri ungläubig.

„Ja. Sie müssen bedenken, er manipuliert seine Moral, wie es ihm passt, damit er funktionieren kann. Wenn er denken würde, Böses zu tun könnte er nicht mit sich leben. Aber er hat Wege gefunden, selbst die schlimmsten Verbrechen zu rechtfertigen. Einmal sagte er zu mir, dass ohne ihn die Mädchen in diesen Sexsklavenringen auf der Straße verhungern würden.“

„Er ist verrückt geworden“, sagte Keri.

„Er tut alles dafür, sich morgens noch im Spiegel anzugucken zu können, Detective. Und inzwischen gehört dazu zu glauben, dass Sie auf einer Hexenjagd sind. Für ihn sind Sie der Feind. Er sieht Sie als seinen Untergang. Und das macht ihn sehr gefährlich. Denn ich bin nicht sicher, bis wohin er zu gehen bereit ist, um Sie aufzuhalten.“

„Wie kann ihn dann jemanden wie ihn dazu bewegen, mir Evie zurückzugeben?“

„Wenn Sie zu ihm gehen und ihn davon überzeugen, dass Sie nicht hinter ihm her sind, dass Sie nur Ihre Tochter wollen, vielleicht gibt er dann nach. Wenn Sie ihn dazu bringen können zu glauben, dass Sie ihn ein- für allemal vergessen, sobald Sie ihre Tochter sicher in Ihren Armen halten, vielleicht sogar die Polizei verlassen, vielleicht legt er dann die Waffen nieder. Im Moment glaubt er, Sie wollen ihn vernichten. Aber wenn man ihn glauben machen kann, dass Sie nicht ihn wollen, sondern sie, dann gibt es vielleicht eine Chance.“

„Glauben Sie, das könnte wirklich funktionieren?“, fragte Keri und konnte die Skepsis in ihrer Stimme nur schwer verbergen. „Ich sage einfach ‚Geben Sie mir meine Tochter zurück und ich lasse Sie für immer in Ruhe‘, und er steigt darauf ein?“

„Ich weiß nicht, ob es funktionieren wird. Aber ich weiß, dass Sie keine andere Option haben. Und Sie haben nichts zu verlieren, wenn Sie es versuchen.“

Keri dachte darüber nach, als es an der Tür klopfte.

„Der Verhandlungsführer ist da“, rief Kiley. „Er kommt jetzt den Flur runter.“

„Warten Sie!“ rief Anderson. „Sagen Sie, er soll zurückbleiben. Ich sage, wann er hereinkommen kann.“

„Ich gebe es weiter“, sagte Kiley, wobei seine Stimme annehmen ließ, als wolle er die Kommunikation schnellstmöglich abgeben.

„Eins noch“, flüsterte Anderson in ihr Ohr, noch leiser als vorher, wenn dies überhaupt möglich war. „Sie haben einen Maulwurf in der Abteilung.“

„Was? In der L.A. Division?“, fragte Keri fassungslos.

„In der Abteilung für Vermisste Personen. Ich weiß nicht, wer es ist. Aber irgendjemand versorgt die andere Seite mit Informationen. Also seien Sie vorsichtig. Mehr als gewöhnlich, meine ich.“

Eine neue Stimme rief von der anderen Seite der Tür.

„Mr. Anderson, hier ist Cal Brubaker. Ich bin der Verhandlungsführer. Darf ich hereinkommen?“

„Sekunde, Cal“, rief Anderson. Dann beugte er sich noch dichter zu Keri. „Ich habe das Gefühl, dies ist unsere letzte Unterhaltung, Keri. Ich glaube, Sie sind eine sehr beeindruckende Person. Ich hoffe, Sie finden Evie. Das tue ich wirklich. Kommen Sie herein, Cal.“

Als die Tür sich öffnete, legte er die Zahnbürste wieder an ihren Hals, ohne dabei jedoch ihre Haut zu berühren. Ein Mann glitt in den Raum, Mitte bis Ende Vierzig, mit einem Schopf grauer Haare und einer schmalen, runden Brille, von der Keri annahm, dass er sie nur der Wirkung halber trug.

Er trug blaue Jeans und ein zerknittertes rot-schwarz-kariertes Hemd. Der Aufzug war schon fast lachhaft, wie eine verkleidete Version dessen, was als einen nicht bedrohlichen Verhandlungsführer durchging.

Anderson blickte zu ihr herüber und sie konnte sehen, dass ihm das gleiche durch den Kopf ging. Er schien sich zusammenreißen zu müssen, nicht die Augen zu rollen.

„Hallo, Mr. Anderson. Möchten Sie mir erzählen, was Ihnen heute Abend auf der Seele liegt?“, sagte er in einem eingeübten, nicht aggressiven Ton.

„Also, Cal“, sagte Anderson sanft, „während wir auf Sie gewartet haben, hat mir Detective Locke stark ins Gewissen geredet. Ich bin mir jetzt bewusst, dass ich von meiner Situation überfordert war und … schlecht reagiert habe. Ich bin bereit, aufzugeben und mich den Konsequenzen zu stellen.“

„Okay“, sagte Cal überrascht. „Dies ist die einfachste Verhandlung meines Lebens. Wo Sie mir dies so einfach machen, muss ich Sie fragen, sind Sie sicher, dass Sie keine Forderungen haben?“

„Einige kleine Dinge vielleicht“, sagte Anderson. „Aber ich glaube nicht, dass Sie sich damit befassen wollen. Ich möchte sichergehen, dass Detective Locke umgehend auf die Krankenstation gebracht wird. Ich habe sie aus Versehen mit der Zahnbürste verletzt und ich bin nicht sicher, wie steril sie ist. Das sollte sofort gesäubert werden. Und Officer Kiley, der Herr, der mich herein gebracht hat, soll mir bitte Handschellen anlegen und mich dahin bringen, wo immer ich nun hingebracht werden soll. Ich habe das Gefühl, dass einige der anderen Typen grober als nötig mit mir umspringen werden. Und vielleicht könnten Sie den Scharfschützen bitten, sich zu entfernen, wenn ich die Waffe fallengelassen habe. Er macht mich ein wenig nervös. Klingt das vernünftig?“

„Sehr vernünftig, Mr. Anderson“, stimmte Cal zu. „Ich werde mein möglichstes tun, all dies zu veranlassen. Warum fangen Sie nicht an, indem Sie die Zahnbürste fallenlassen und den Detective gehen lassen?“

Anderson beugte sich dicht zu Keri herüber, so dass nur sie ihn hören konnte.

„Viel Glück“, flüsterte er fast unhörbar, bevor der die Zahnbürste fallenließ und die Arme anhob, so dass sie unter seinen Fesseln hindurch schlüpfen konnte. Sie glitt von ihm weg und erhob sich langsam, wobei sie sich an dem umgekippten Tisch festhielt. Cal bot ihr seine Hand zu Hilfe an, aber sie ergriff sie nicht.

Als sie sich aufgerichtet hatte und sicher auf den Füßen stand, drehte sich um zu Thomas „Der Geist“ Anderson, sicherlich zum letzten Mal.

„Danke, dass Sie mich nicht getötet haben“, murmelte sie und versuchte dabei, sarkastisch zu klingen.

„Na klar“, sagte er, wobei er zuckersüß lächelte.

Als sie sich der Tür des Vernehmungsraums näherte, öffnete sie sich weit und das SWAT Team stürmte herein; fünf Männer in voller Kampfmontur rannten an ihr vorbei. Sie schaute sich nicht um, um zu sehen, was als nächstes passierte, als sie aus der Tür und auf den Gang stolperte.

Es sah aus, als habe Cal Brubaker zumindest einen Teil seines Versprechens eingelöst. Der Scharfschütze hatte sich zurückgezogen und lehnte an der Wand, seine Waffe auf den Boden gerichtet. Aber Officer Kiley war nirgendwo in Sicht.

Als sie den Gang hinunter ging, begleitet von einer Beamtin, die sie zur Krankenstation brachte, war sich Keri sicher zu hören, wie Gewehrkolben in menschliche Knochen krachten. Und obwohl sie keine anschließenden Schreie vernahm, konnte sie doch ein Keuchen hören, gefolgt von tiefem, anhaltendem Stöhnen.

KAPITEL ACHT

Keri eilte zurück zu ihrem Wagen und hoffte dabei, das Parkhaus verlassen zu können, bevor es jemandem auffiel, dass sie sich verdrückt hatte. Ihr Herz klopfte im Takt mit ihren Schuhen, die schnell und hart auf das Pflaster aufschlugen.

Der Gang zur Krankenstation war ein Geschenk von Anderson gewesen. Er hatte gewusst, dass sie nach einer Geiselnahme stundenlang vernommen würde; Stunden, die sie nicht hatte. Dadurch, dass er darauf bestanden hatte, dass sie auf die Krankenstation gebracht wurde, hatte er es ihr ermöglicht sich zu verdrücken, ohne von einem Haufen Downtown Division Detectives in die Enge getrieben zu werden.

Genau das hatte sie getan. Nachdem ihre kleine Wunde gereinigt worden war, hatte sie im Zuge der Geiselnahme eine Panikattacke vorgetäuscht, und gebeten, auf die Toilette gehen zu dürfen. Da sie keine Gefangene war, war es danach einfach gewesen zu verschwinden.

Mit den Beamten, die um 21 Uhr Feierabend hatten, war sie mit dem Aufzug hinunter gefahren. Scheinbar hatte Officer Beamon gerade Pause, denn ein anderer Beamter bewachte die Lobby und würdigte sie keines Blickes.

Einmal aus dem Gebäude, überquerte sie die Straße, wobei sie immer damit rechnete, dass ein Detective hinter ihr herkommen und verlangen wollte zu wissen, warum sie einen Insassen vernommen hatte, obwohl sie vom Dienst freigestellt war. Aber sie hörte nichts.

Tatsächlich war sie komplett alleine mit ihrem Herzklopfen und ihren Schritten, als die Beamten, die gerade Feierabend gemacht hatten, zur Bushaltestelle und der U-Bahn strömten. Anscheinend fuhr niemand von ihnen mit dem Auto zur Arbeit.

Als sie den zweiten Stock des Treppenhauses erreichte, vernahm sie schließlich Schritte. Sie waren laut und schwer und schienen aus dem Nichts zu kommen. Sie hätte sie früher hören müssen, wenn sie hinter ihr her gegangen wären. Sie konnten von der anderen Straßenseite kommen. Es war fast, als hätte jemand auf sie gewartet.

Sie ging zu ihrem Wagen, der ungefähr in der Mitte der rechten Reihe geparkt war. Die Schritte folgten ihr und ihr wurde klar, dass es sich nicht um die Schritte eines Einzelnen handelte, sondern um zwei, und die gehörten zu Männern. Ihr Gang war schwer und hölzern, und einer von ihnen hatte einen leicht pfeifenden Atem.

Es war möglich, dass diese Männer Detectives waren, aber sie bezweifelte es. Sie hätten sich sicher schon ausgewiesen, hätten sie sie vernehmen wollen. Und wenn sie Polizisten mit schlechten Absichten waren, hätten sie ihr nicht im Twin Towers Parkhaus aufgelauert. Überall waren Kameras. Wenn sie für Cave arbeiteten und ihr etwas tun wollten, hätten sie gewartet, bis sie die staatliche Einrichtung verlassen hatte.

 

Unbewusst ertastete ihre Hand das Pistolenholster, entsann sich aber, dass sie ihre Waffe im Kofferraum gelassen hatte. Sie hatte Fragen von der Security vermeiden wollen und ihre eigene Waffe in ein städtisches Gefängnis mitzunehmen dabei nicht helfen würde. Aus dem gleichen Grund war auch ihre Pistole, die sie am Fußgelenk trug, im Kofferraum. Sie war unbewaffnet.

Sie spürte ihren Puls rasen und zwang sich zur Ruhe, ermahnte sich, nicht schneller zu werden, damit die Kerle hinter ihr nicht merkten, dass sie mitbekommen hatte, dass sie da waren. Eigentlich mussten sie es wissen. Aber sie könnte vielleicht Zeit gewinnen, indem sie die Illusion aufrecht erhielt. Für sich umsehen galt das gleiche – sie weigerte sich, es zu tun. Denn das würde sicher bewirken, dass sie hinter ihr herjagten.

Stattdessen schaute sie beiläufig in einige der glänzenden SUVs hinein und hoffte dabei, ein Gespür dafür zu entwickeln, mit wem sie es zu tun hatte. Zwei Männer, beide in Anzügen: ein großer, und der andere riesig, mit einem Bauch, der über seinen Gürtel hing. Ihr Alter war schwer abzuschätzen, aber der Größere wirkte auch älter. Er war der mit dem pfeifenden Atem. Keiner von ihnen trug eine Waffe, aber der Größere hielt etwas, das aussah wie ein Taser, und der Jüngere umklammerte eine Art Knüppel. Es schien, als wollte jemand sie lebend haben.

Ganz lässig nahm sie ihre Schlüssel aus der Handtasche und ließ die spitzen Enden zwischen ihre Knöchel gleiten, während sie den Knopf drückte, der das Auto entriegelte, von dem sie jetzt nur noch sechs Meter entfernt war. Die beiden Männer waren noch circa drei Meter von ihr weg, aber sie würde es niemals schaffen, ihren Wagen zu erreichen, die Tür zu öffnen, einzusteigen, die Tür zu schließen und zu verriegeln, bevor sie sie schnappten. Im Stillen ärgerte sie sich, vorwärts eingeparkt zu haben.

Das Piepen des Autos schien den Fetten zu erschrecken und er stolperte ein wenig. Keri war sich bewusst, dass es verdächtiger war so zu tun, als habe sie sie noch immer nicht bemerkt als sich umzudrehen, deshalb stoppte sie abrupt, und wirbelte herum, was die beiden überrumpelte.

„Wie läuft’s so, Jungs?“, fragte sie mit zuckersüßer Stimme, als sei es das Normalste der Welt, zwei riesige Kerle hinter sich auftauchen zu sehen. Beide taten noch ein paar unbeholfene Schritte auf sie zu und blieben dann einen Meter vor ihr stehen.

Der Jüngere wirkte, als wüsste er nicht, was zu tun war. Der ältere Typ wollte zum Sprechen ansetzen. Keris Sinne befanden sich in Alarmbereitschaft. Aus irgendeinem Grund fielen ihr Bartstoppeln auf der rechten Seite seines Halses auf, die er beim letzten rasieren übersehen hatte. Fast ohne zu nachzudenken drückte sie den Alarmknopf der Autofernbedienung. Intuitiv blickten beide Männer in diese Richtung. Da bewegte sie sich.

Sie sprang nach vorne, schwang ihre rechte Faust, aus der die Schlüssel hervorstachen, in die linke Seite seines Gesichts. Alles spielte sich in Zeitlupe ab. Er sah sie zu spät, und noch bevor er seinen Arm heben konnte, um den Schlag abzuwehren, hatte sie ihn schon getroffen.

Keri wusste, dass sie getroffen hatte, denn mindestens einer der Schlüssel bohrte sich tief hinein, bevor er auf Widerstand traf. Sein Schreien kam direkt darauf, als Blut aus seinem Auge herausschoss. Sie nahm sich nicht die Zeit, ihr Werk zu bewundern. Stattdessen nutzte sie den Schwung ihres Unterarms, um sich nach vorn zu stürzen und ihre rechte Schulter in sein linkes Knie zu rammen, während er schon zu Boden ging.

Sie vernahm ein widerliches Geräusch und wusste, dass die Bänder in seinem Knie gerade rissen, als er zusammenbrach. Als sie versuchte, sich geschmeidig in eine stehende Position zu bringen, zwang sie sich, das Geräusch aus ihrem Gehirn zu vertreiben.

Sich gegen so eine riesige Person geworfen zu haben hatte leider zur Folge, dass ihr ganzer Körper von Kopf bis Fuß durchgeschüttelt war, wodurch die Schmerzen ihrer Verletzungen, die sie nur Tage vorher erlitten hatten, neu aufflammten. Ihre Brust fühlte sich so an, als habe sie eins mit der Bratpfanne übergezogen bekommen. Sie war sicher, mit dem verletzten Knie auf dem Betonboden des Parkhauses aufgeschlagen zu sein, als sie sich auf den Boden geworfen hatte, und durch den Aufprall pochte ihre rechte Schulter.

Viel mehr aber machte ihr Sorgen, dass sie durch den Zusammenstoß mit dem Größeren soviel Schwung verloren hatte, dass der jüngere, fittere Typ reagieren konnte. Als Keri nach dem Abrollen versuchte ihre Balance wieder zu finden, kam er schon auf sie zu; aus seinen Augen leuchtete eine Mischung aus Wut und Angst, und der Knüppel in seiner rechten Hand schwang nach unten.

Sie wusste, dass sie dem Knüppel nicht komplett ausweichen konnte und drehte sich so, dass der Schlag sie an ihrer linken Seite traf statt am Kopf. Auf der linken Seite ihres Oberkörpers unterhalb ihrer Schulter spürte sie den heftigen Schlag gegen ihre Rippen, gefolgt von einem stechenden Schmerz, der sich rasend schnell ausbreitete.

Die Luft entwich aus ihrem Körper, als sie vor ihm in die Knie ging. Ihre Augen hatten direkt nach dem Schlag angefangen zu tränen, aber sie schaffte es dennoch, etwas Ominöses vor sich zu erkennen. Der Jüngere hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt; seine Hacken berührten den Boden nicht mehr.

In Sekundenbruchteilen rechnete sich Keri aus, was das bedeutete. Er streckte sich, und holte mit dem Knüppel über seinem Kopf zum Schlag aus, damit er ihn so hart wie möglich niederbringen und sie k.o. schlagen konnte. Sie sah, wie sich sein linker Fuß nach vorne bewegte und wusste, dass er den Knüppel nach unten ziehen würde.

Sie ignorierte alles – ihre Unfähigkeit zu atmen, den Schmerz, der von ihrer Brust aus in ihre Schulter, ihre Rippen, ihr Knie schoss, ihre verschwommene Sicht – und warf sich nach vorne und direkt auf ihn. Sie war sich bewusst, dass sie nicht genug Schwung hatte, um sich mit den Knien abzustoßen, aber sie hoffte inständig, dass es reichte, um einem Schlag auf den Schädel zu entgehen. In der Hoffnung, ihn zu treffen, stieß sie dabei die Hand, die die Schlüssel umklammerte, in die generelle Richtung seines Schrittes.

Alles passierte auf einmal. Im selben Moment, in dem der Knüppel sie am oberen Teil des Rückens traf, hörte sie das Grunzen. Der Schlag brannte, aber nur für eine Sekunde, bis sie bemerkte, dass er seinen Griff um seinen Knüppel fast sofort verlor, nachdem er sie getroffen hatte. Als sie zusammenbrach, hörte sie noch, wie der Knüppel zu Boden ging und wegrollte.

Als sie aufblickte, sah sie den Mann vornüber gebeugt stehen, beide Hände hielten seinen Schritt. Er fluchte laut und anhaltend. Zumindest im Moment schien er Keri vergessen zu haben. Keri schaute zu dem fetten Mann herüber, der einige Meter entfernt lag, sich auf dem Boden wand, vor Schmerzen schrie, beide Hände vor sein linkes Auge geschlagen hatte und scheinbar sein Knie, das in einem unnatürlichen Winkel abstand, nicht einmal bemerkte.

Keri holte tief Luft, zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit, und zwang sich zu agieren.

Steh auf und beweg dich. Dies ist deine Chance. Vielleicht deine einzige.

Sie ignorierte den Schmerz, den sie überall fühlte, stieß sie sich vom harten Boden ab und rannte halb, hinkte halb, zu ihrem Wagen. Der Jüngere blickte von seinem Schritt auf und machte einen halbherzigen Versuch, seine Hand nach ihr auszustrecken und sie zu packen. Aber sie machte einen Bogen um ihn und stolperte zu ihrem Auto, stieg ein, verriegelte die Tür, und setze aus der Parklücke heraus, ohne auch nur in den Rückspiegel geblickt zu haben. Etwas in ihr hoffte, dass der junge Typ hinter ihr war und sie einen Aufprall hörte, wenn sie ihn anfuhr.

Sie stieg aufs Gaspedal und raste um die Kurve der zweiten Etage und runter zur ersten. Als sie sich dem Häuschen am Ausgang näherte, staunte sie, den Jüngeren u sehen, wie er die Treppen hinunter stolperte und sich in ihre Richtung schleppte.