Eine Spur von Hoffnung

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From the series: Keri Locke Mystery #5
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KAPITEL FÜNF

Als Ray drei Stunden später in den Konferenzraum kam, hatte Keri noch immer keine Handhabe. Aber sie meinte, nun besser zu verstehen, wer Jackson Cave war.

„Schön, dich zu sehen, Detective Sands“, sagte Mags, als er mit Sandwiches und Eiskaffees den Raum betrat.

„Auch schön, dich zu sehen, Red“, antwortete er, und warf die Sandwiches auf den Tisch.

„Sieh an“, gab sie gereizt zurück.

Keri war nicht sicher, wann Ray angefangen hatte, Margaret Merrywether „Red“ zu nennen, aber ihr gefiel es. Und trotz ihrer jetzigen Reaktion war Keri sicher, dass es Mags auch nichts ausmachte.

„Ich habe die Finanz- und Grundbuchdaten dieses Typen dabei“, meinte Ray. „Aber ich glaube nicht, dass uns das weiterhilft. Edgerton und ich haben sie durchgesehen, und er konnte nichts Merkwürdiges finden. Aber für einen Kerl mit soviel Geld und Macht ist allein das verdächtig.“

„Das sehe ich auch so“, sagte Keri. „Aber verdächtig allein reicht nicht, um etwas zu veranlassen.“

„Er wollte Patterson hinzuziehen, aber ich habe ihm gesagt, damit noch zu warten.“

Detective Garrett Patterson war nach Edgerton der zweitbeste Technologieexperte der Abteilung, und obwohl er nicht Edgertons Intuition besaß, unsichtbare Verbindungen innerhalb komplexer Materien zu erkennen, hatte er eine andere Fähigkeit. Er liebte es, sich mit den kleinsten Einzelheiten in den Akten zu befassen, um das kleinste, aber ausschlaggebende Detail zu finden, das alle anderen übersahen.

„Das war die richtige Entscheidung“, sagte Keri nach einem Moment. „Vielleicht entdeckt er etwas in den Grundbuchdaten. Aber ich mache mir Sorgen, dass er es einfach nicht lassen kann, Hillman in Kenntnis zu setzen oder sich zu großflächig umhört und damit Alarmglocken auslöst. Ich möchte ihn nur mit einbeziehen, wenn es nicht anders geht.“

„So könnte es kommen“, meinte Ray. „Es sei denn, du hast in den letzten Stunden den Cave Code geknackt.“

„Das kann ich nicht behaupten“, gab Keri zu. „Aber wir haben einiges Überraschendes gefunden.“

„Und das wäre?“

„Also, angefangen damit“, mischte sich Mags ein, „dass Jackson Cave nicht immer ein Arschloch war.“

„Das ist wirklich eine Überraschung“, sagte Ray, während er ein Sandwich auswickelte und abbiss. „Wie kommt’s?“

„Er hat mal für die Staatsanwaltschaft gearbeitet“, antwortete Mags.

„Er war Staatsanwalt?“ fragte Ray und verschluckte sich fast. „Der Verteidiger von Vergewaltigern und Kinderschändern?“

„Das ist lange her“, sagte Keri. „Er fing direkt nach dem Abschluss seines Jurastudiums bei der Staatsanwaltschaft an und arbeitete dort für zwei Jahre.“

„Hatte er nicht das Zeug dazu?“, überlegte Ray.

„Tatsächlich war seine Verurteilungsrate erstaunlich hoch. Er hatte scheinbar wenig für Strafmilderung übrig und verhandelte die meisten Fälle vor Gericht. Er hatte neunzehn Verurteilungen und zwei Jurys, die sich nicht einigen konnten. Keinen einzigen Freispruch.“

„Das ist gut“, gab Ray zu. „Warum ist er dann übergelaufen zur anderen Seite?“

„Danach mussten wir etwas graben. „Es war Mags, die es herausgefunden hat. Willst du es erklären?“

„Es ist mir eine Ehre“, sagte sie und schaute von dem Meer an Papieren auf. „Ich nehme an, manchmal zahlt sich lebenslange minutiöse Recherche aus. Jackson Cave hatte einen Halbbruder namens Coy Trembley. Sie hatten unterschiedliche Väter, wuchsen aber zusammen auf. Coy war drei Jahre älter als Jackson.“

„War Coy auch Anwalt?“, wollte Ray wissen.

„Wohl kaum“, sagte Mags. „Während seiner gesamten Teenagerjahre hatte Coy Ärger mit dem Gesetz – meist ging es um kleine Sachen. Aber mit einunddreißig wurde er wegen sexueller Nötigung verhaftet. Im Grunde wurde er beschuldigt, sich an einer Neunjährigen vergangen zu haben, die in der Nähe wohnte.“

„Und Cave verteidigte ihn?“

„Nicht offiziell. Aber direkt nach der Verhaftung nahm er eine neunmonatige Auszeit von seinem Job bei der Staatsanwaltschaft. Er war nicht Trembleys offizieller Verteidiger und sein Name taucht auch nirgendwo in den Akten auf, die bei Gericht eingereicht wurden.“

„Ich höre da ein Aber“, meinte Ray.

„Du hörst richtig, mein Lieber“, verkündete Mag. „Aber steuerlich hat er als Beruf in diesem Zeitraum ‚Juristischer Berater‘ angegeben. Und ich habe Formulierungen in den Schriftsätzen in Trembleys Fall verglichen. Die Logik und einige der Formulierungen ähneln denen von Caves jüngeren Fällen ganz gewaltig. Ich denke, man kann davon ausgehen, dass er heimlich seinem Bruder geholfen hat.

„Wie ist es gelaufen?“ wollte Ray wissen.

„Ziemlich gut. Die Jury in Coy Trembleys Fall war sich nicht einig. Die Ankläger diskutierten gerade, ob man ihn erneut vor Gericht stellen sollte, als der Vater des Mädchens in seinem Apartment fünfmal auf ihn geschossen hat, einmal auch ins Gesicht. Er hat nicht überlebt.“

„Wow“, murmelte Ray.

„Ja“, stimmte Keri zu. „Ungefähr zu dieser Zeit kündigte Cave seinen Job bei der Staatsanwaltschaft. Danach war er drei Monate lang verschwunden. Dann tauchte er plötzlich wieder auf mit einer neuen Kanzlei, die vorwiegend Firmen betreute. Er übernahm auch die Verteidigung in Wirtschaftskriminalitätsfällen und über die Jahre immer mehr pro-bono-Arbeit für Leute wie seinen Bruder.“

„Halt“, fragte Ray ungläubig nach. „Soll ich glauben, dass der Kerl Verteidiger wurde um das Andenken seines toten Bruders zu ehren, oder sowas, um die Rechte der moralisch Verkommenen zu verteidigen?“

Keri schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es nicht, Ray“, sagte sie. „Cave hat über die Jahre fast überhaupt nicht über seinen Bruder gesprochen. Aber wenn doch, dann ist er dabei geblieben, dass er zu Unrecht beschuldigt worden ist. Er hat eisern daran festgehalten. Ich glaube, dass er seine Tätigkeit mit ehrbaren Intentionen begonnen hat.“

„Okay. Lasst uns also sagen, im Zweifel für den Angeklagten. Aber was ist dann mit ihm passiert?“

Mags übernahm.

„Nun ja, es ist ziemlich klar, dass die Schuld seiner meisten pro-bono-Mandanten hochgradig fragwürdig war. Einige schienen einfach aus Gegenüberstellungen oder von der Straße abgegriffen worden zu sein. Manchmal hat er sie frei bekommen, normalerweise nicht. Währenddessen hielt er Reden auf Bürgerrechtskonferenzen – gute Reden übrigens, sehr leidenschaftlich. Es war sogar die Rede davon, dass er sich eines Tages zur Wahl aufstellen lassen würde.“

„Bis hierher hört sich das nach einer amerikanischen Erfolgsstory an“, meinte Ray.

„Das war es“, stimmte Keri zu. „Bis ungefähr vor zehn Jahren. Da hat er den Fall eines Typen übernommen, der nicht ins Schema passte. Er war ein Serienkindesentführer, der das scheinbar professionell gemacht hat. Und er hat Cave reichlich entlohnt dafür, dass er ihn verteidigte.“

„Warum hat er plötzlich diesen Fall übernommen?“, fragte Ray.

„Das ist nicht hundertprozentig klar“, sagte Keri. „Seine Arbeit für Firmenkunden hatte noch nicht so recht Momentum angenommen. Es könnte also eine finanzielle Begründung geben. Vielleicht hat er aber auch diesen Kerl nicht als so verwerflich angesehen wie andere. Die Anklage gegen ihn lautete auf Auftragskidnapping, nicht auf sexuellen Übergriff oder Nötigung. Der Typ entführte Kinder und verkaufte sie an den Höchstbietenden. Um das nett auszudrücken, ein Professioneller. Was auch immer die Gründe waren, Cave verteidigte den Kerl, hat einen Freispruch erwirkt, und damit nahm es seinen Anfang. Er fing an, ähnliche Mandanten zu verteidigen, wobei viele von ihnen weniger … professionell waren.“

„Ungefähr zur gleichen Zeit“, fügte Mags hinzu, „lief die Arbeit mit den Firmenkunden besser. Er verlegte sein Büro, das bis dahin ein Laden mit Schaufenster in Echo Park gewesen war, in das Hochhaus in der City, wo er jetzt noch ist. Und er hat es nie bereut.“

„Ich weiß nicht“, meinte Ray skeptisch. „Es ist schwer nachzuvollziehen, wie aus einem Bürgerrechtskämpfer, der für die am meisten Benachteiligten unserer Gesellschaft kämpft, ein gewissenloser juristischer Hai wurde, der Pädophile verteidigt und möglicherweise einen Kindersexsklavenring koordiniert. Ich komme mir vor, als ob wir irgendetwas übersehen haben.“

„Naja, du bist der Detective, Raymond“, meinte Mags bissig. „Dann bitte, ermittle.“

Ray öffnete den Mund, wollte gerade zurückschießen, als er merkte, dass er auf die Schippe genommen wurde. Alle drei lachten, froh, dass sich die Spannung entlud, die sich aufgebaut hatte. Kerri meldete sich wieder zu Wort.

„Es muss etwas zu tun haben mit dem Serienkindesentführer, den er verteidigt hat. Da hat sich alles geändert. Wir sollten uns damit einmal näher befassen.“

„Was weißt du über ihn“? fragte Ray.

„Sein Fall führt in eine Sackgasse“, sagte Mags frustriert. „Cave verteidigte ihn, hat seinen Freispruch erwirkt, und danach ist der Kerl verschwunden. Seitdem haben wir nichts über ihn herausfinden können.“

 

„Wie hieß der Mann?“, fragte Ray.

„John Johnson“, antwortete Mags.

„Das kommt mir bekannt vor“, murmelte Ray.

„Wirklich?“, fragte Keri überrascht. „Denn über ihn ist fast nichts zu finden. Sieht aus, als sei es eine falsche Identität gewesen. Nach seinem Freispruch gibt es keinen Eintrag über seine Existenz. Er hat den Gerichtssaal verlassen und ist komplett verschwunden.“

„Trotzdem, der Name sagt mir etwas“, sagte Ray. „Ich glaube, das war, bevor du zur Polizei kamst. Hast du versucht, an ein Bild aus der Verbrecherkartei zu kommen?“

„Damit habe ich angefangen“, sagte Keri. „Es gibt vierundsiebzig John Johnsons in der Datenbank, deren erkennungsdienstliches Foto in dem Monat seiner Verhaftung aufgenommen wurde. Ich bin noch nicht dazu gekommen, sie mir alle anzusehen.“

„Darf ich mal einen Blick darauf werfen?“

„Nur zu“, sagte Keri, brachte die Fotos auf den Bildschirm und schob ihren Laptop zu ihm herüber. Ihr war klar, dass er an etwas dran war, wollte dies aber nicht laut sagen, für den Fall, dass er sich irrte. Während er die Fotos durchsah, sprach er gedankenverloren.

„Ihr beide sagtet, er sei quasi weg , einfach verschwunden, richtig?“

„Ja“, sagte Keri, ihm im Auge behaltend, während ihr Atem sich beschleunigte.

„Fast wie… ein Geist?“ fragte Ray.

„Ja“, wiederholte sie sich.

Er hörte auf zu scrollen, und starrte auf ein Foto auf dem Bildschirm, bevor er Keri ansah.

„Ich glaube, das ist, weil er ein Geist ist; oder genauer gesagt ‚Der Geist‘“.

Ray drehte den Laptop so, dass Keri das Foto sehen konnte. Sie starrte auf das Bild des Mannes, der Jackson Cave erstmals den dunklen Pfad hinuntergeführt hatte, und ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter.

Sie kannte ihn.

KAPITEL SECHS

Keri versuchte, ihre Emotionen zu kontrollieren. Adrenalin raste durch ihren Körper und ihr gesamter Körper begann zu kribbeln.

Sie erkannte den Mann, der sie von dem Foto aus anstarrte. Aber sie kannte ihn nicht als John Johnson. Als sie ihn kennengelernt hatte, war sein Name Thomas Anderson gewesen, aber alle nannten ihn nur ‚Der Geist‘.

Sie hatten sich nur zweimal gesprochen, beide male im Twin Towers Gefängnis in der City von Los Angeles, wo er derzeit einsaß für Vergehen, ähnlich denen, von denen John Johnson freigesprochen worden war.

„Wer ist es, Keri?“, fragte Mags, halb besorgt und halb genervt von der anhaltenden Stille.

Keri merkte, dass sie das Foto die letzten paar Sekunden stumm angestarrt hatte.

„Sorry“, entgegnete sie, wieder in die Gegenwart zurückkehrend. „Er heißt Thomas Anderson. Er sitzt ein für die Entführung und den Verkauf von Kindern, meist an Familien aus anderen Bundesstaaten, die nicht adoptieren durften. Ich kann kaum glauben, dass ich nicht gesehen habe, dass Johnson und Anderson die gleiche Person sein könnten.“

„Cave hat mit vielen Entführern zu tun, Keri“, sagte Ray. „Es gibt keinen Grund, dass du die Verbindung hättest erkennen sollen.“

„Woher kennst du ihn?“, fragte Mags.

„Letztes Jahr bin ich über ihn gestolpert, als ich Akten von Entführern durchsah. Einmal dachte ich, er könnte Evie gekidnappt haben. Ich bin ins Twin Towers Gefängnis gefahren, um ihn zu befragen, und es hat sich schnell abgezeichnet, dass er nicht der Richtige war. Von ihm erhielt ich einige Hinweise, durch die ich ultimativ den Sammler aufspürte. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, war er der erste, der mir gegenüber Jackson Cave erwähnte – er sagte, Cave sei sein Anwalt.“

„Vorher hattest du noch nie von Cave gehört?“, fragte Mags.

„Doch, ich hatte von ihm gehört. Bei den Polizisten der Abteilung für Vermisste Personen ist er berüchtigt. Aber bis Anderson mich auf ihn aufmerksam machte, hatte ich noch nie einen seiner Klienten getroffen oder hätte Grund gehabt, ihn als irgendetwas anderes als einen Drecksack zu sehen. Bis ich Anderson getroffen habe, hatte ich Jackson Cave nicht auf dem Zettel.“

„Und glaubst du, das ist Zufall?“, fragte Mags.

„Bei Anderson kann man sich nicht sicher sein, ob irgendetwas ein Zufall ist. Ist es nicht merkwürdig, dass er als John Johnson davonkommt, dann aber unter seinem eigenen Namen verhaftet wird für die gleiche Art Entführung. Warum hat er keine falsche Identität benutzt? Ich meine, der Typ war über dreißig Jahre Bibliothekar. Er hat sich sein Leben ruiniert, indem er seinen echten Namen benutzt hat.“

„Vielleicht dachte er, Cave könne ihn ein zweites mal raushauen?“, schlug Ray vor.

„Aber die Sache ist die“, sagte Keri. „Obwohl technisch gesehen Cave sein Verteidiger bei seinem letzten Verfahren war, bei dem er verurteilt wurde, hat sich Anderson selbst verteidigt. Und angeblich war er großartig. Es heißt, wäre der Fall nicht so wasserdicht gewesen, wäre er freigesprochen worden.“

„Wenn dieser Kerl so ein Genie gewesen ist“, konterte Mags, „warum sprach die Sachlage überhaupt so sehr gegen ihn?“

„Das gleiche habe ich ihn auch gefragt“, antwortete Keri. „Und er stimmte zu, dass es merkwürdig war, dass jemand so cleveres und sorgfältiges wie er sich hat überführen lassen. Er hat es nicht direkt gesagt, aber er deutete an, dass er geschnappt werden wollte.“

„Aber warum, in aller Welt?“, fragte Mags

„Das ist eine exzellente Frage, Margaret“, sagte Keri und schloss ihren Laptop. „Und es ist eine, die ich jetzt vorhabe mit Mr. Anderson zu besprechen.“

*

Keri parkte ihren Wagen in dem riesigen Gebäude gegenüber der Twin Towers und ging zu den Fahrstühlen. Wenn sie manchmal tagsüber dorthin musste, war dort so viel los, dass sie ganz bis in die nicht überdachte zehnte Etage fahren musste, um einen Parkplatz zu finden. Aber es war nicht einmal 20 Uhr und sie fand in der zweiten Etage einen Parkplatz.

Sie rief sich noch einmal ihren Plan ins Gedächtnis, als sie die Straße überquerte. Technisch gesehen, auf Grund ihrer Freistellung und der internen Ermittlungen, hatte sie nicht die Autorität, sich mit einem Gefangenen in einem Vernehmungsraum zu treffen. Aber das war noch nicht überall bekannt. Sie hoffte, dass sie durchkam, weil sie die Angestellten des Gefängnisses kannte.

Ray hatte angeboten mitzukommen, um die Sache zu erleichtern. Aber sie machte sich Sorgen, dass das Fragen nach sich ziehen würde, die ihm unter Umständen Probleme bereiten könnten. Selbst wenn alles glatt ginge, hätte er vielleicht bei der Vernehmung von Anderson dabei sein müssen. Keri wusste, dass sich der Typ unter diesen Umständen bedeckt halten würde.

Wie sich herausstellte, hätte sie sich keine Gedanken machen müssen.

„Wie geht’s, Detective Locke?“, fragt Security Officer Beamon, als sie auf den Metalldetektor in der Lobby zuging. „Ich bin überrascht, Sie hier so zu sehen, nach Ihrem Zusammentreffen mit diesem Psycho diese Woche.“

„Oh, ja“, stimmte Keri zu. Sie hatte sich entschieden, ihre Konfrontation zu ihren Gunsten auszunutzen, „ich auch, Freddie. Sieht aus, als ob ich einen Boxkampf hinter mir habe, nicht? Bis ich wieder ganz fit bin, bin ich eigentlich noch offiziell beurlaubt. Aber ich konnte nicht länger in meinem Apartment sitzen, deshalb dachte ich, ich kümmere mich um einen alten Fall. Das hier ist inoffiziell, deshalb habe ich nicht einmal meine Waffe und meine Polizeimarke bei mir. Ist es trotzdem in Ordnung, dass ich jemanden vernehme, obwohl ich noch krankgeschrieben bin?“

„Natürlich, Detective. Ich wünschte nur, Sie würden es etwas langsamer angehen. Aber ich weiß, das werden Sie nicht. Holen Sie sich ihren Besucherausweis und gehen Sie auf die Vernehmungsetage. Sie wissen ja, wie es läuft.“

Keri wusste, wie es lief, und fünfzehn Minuten später saß sie in einem Vernehmungsraum und wartete auf das Erscheinen des Gefangenen Nummer 2427609, oder auch Thomas ‚Der Geist‘ Anderson. Der Security Officer hatte sie vorgewarnt, dass bald Licht Aus sein würde und es daher etwas länger dauern könnte, ihn zu holen. Während sie wartete, versuchte sie, cool zu bleiben, aber sie wusste, dass sie verloren hatte.

Anderson versuchte immer ihr unter die Haut zu gehen, als ziehe er ihr die Kopfhaut ab, um ihr Gehirn freizulegen und ihre Gedanken zu lesen. Oft hatte sie schon das Gefühl gehabt, als sei sie ein Kätzchen und er halte eine Laserlampe, mit deren Punkt er sie in alle Richtungen jagte, wie es ihm gerade gefiel.

Und trotzdem, es waren seine Informationen gewesen, die sie näher daran gebracht hatte, Evie zu finden, als alles andere zuvor. War das so beabsichtigt oder reines Glück? Er hatte niemals angedeutet, dass ihre Treffen etwas anderes seinen als Zufall. Aber warum sollte er auch, wenn er ihr soweit voraus war.

Die Tür öffnete sich und er kam herein, immer noch so aussehend, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Anderson, Mitte fünfzig, war eher klein, circa 173 Zentimeter und mit guter Figur, der man ansah, dass er das Fitnessstudio des Gefängnisses nutzte. Die Handschellen an seinen muskulösen Unterarmen sahen eng aus. Er sah schmaler aus als sie ihn in Erinnerung hatte, als habe er einige Mahlzeiten ausfallen lassen.

Sein volles Haar war ordentlich gescheitelt, aber es überraschte sie, dass es nicht mehr so tief schwarz war, wie sie es in Erinnerung hatte. Das Schwarz war mit Weiß durchsetzt. Unter seiner Gefängniskleidung schauten Teile seiner Tätowierungen hervor, die die rechte Seite seines Körpers bis hinauf zum Hals zierten. Seine linke Seite war noch immer makellos.

Seine grauen Augen ruhten auf ihr, als er zu dem Metallstuhl auf der anderen Seite des Tisches geführt wurde. Sie wusste, dass er sie beobachtete, sie abschätzte, Maß nahm, um soviel wie möglich über ihre Situation zu erfahren, bevor sie etwas sagte.

Als er sich setzte, nahm der Wachmann seine Position bei der Tür ein.

„Wir kommen allein klar, Officer… Kiley“, sagte Keri, und kniff ihre Augen zusammen, um sein Namensschild lesen zu können.

„Normale Prozedur, Ma‘am“, sagte der Beamte schroff.

Sie schaute zu ihm hinüber. Er war neu … und jung. Sie bezweifelte, dass er sich schmieren ließ, aber sie konnte es sich nicht leisten, dass irgendjemand – ob korrupt oder sauber – die Unterhaltung mithörte. Anderson lächelte sie ein wenig an; er wusste, was kam. Dies würde wahrscheinlich unterhaltsam für ihn sein.

Sie stand auf und starrte den Wachmann an, bis er ihren Blick bemerkte und zu ihr herüber schaute.

„Zuerst einmal heißt es nicht Ma’am. Es heißt Detective Locke. Und zweitens interessiert mich eure Prozedur einen Scheiß. Ich will mit diesem Insassen vertraulich sprechen. Wenn Sie dem nicht nachkommen können, dann muss ich mit Ihnen vertraulich sprechen und es wird keine angenehme Unterhaltung werden.“

„Aber…“, stotterte Kiley, während er von einen Fuß auf den anderen trat.

„Aber gar nichts, Officer. Sie haben hier zwei Möglichkeiten. Sie lassen mich mit diesem Insassen allein sprechen, oder wir beide werden unser Gespräch haben. Wofür entscheiden Sie sich?“

„Vielleicht sollte ich meinen Vorgesetzen ho-“.

„Diese Möglichkeit steht nicht auf der Liste, Officer. Wissen Sie was? Ich werde die Entscheidung für Sie treffen. Lassen Sie uns nach draußen gehen, damit wir uns mal in Ruhe unterhalten können. Man hätte denken können, mein Bestreben, einem religiösen, pädophilen Fanatiker das Handwerk zu legen, würde mir für den Rest der Woche das Recht geben, hier zu sein, aber wie es scheint, muss ich jetzt auch noch einen Gefängnis-Officer instruieren. „

Sie griff nach der Türklinke und wollte sie gerade herunterdrücken, als Officer Kiley seine Nerven verlor. Sie war beeindruckt, wie lange er sich gehalten hatte.

„Vergessen Sie’s, Detective“, sagte er eilig. „Ich warte draußen. Aber bitte seien Sie vorsichtig. Dieser Gefangene ist schon mehrfach gewalttätig geworden.“

„Natürlich“, sagte Keri mit honigsüßer Stimme. „Danke für Ihr Entgegenkommen. Ich versuche, es kurz zu machen.“

 

Als er vor die Tür trat und Keri zu ihrem Stuhl zurückkehrte, war sie von einer Selbstsicherheit und einer Energie erfüllt, die ihr vor nur dreißig Sekunden noch gefehlt hatten.

„Das hat Spaß gemacht“, sagte Anderson sanft.

„Da bin ich mir sicher“, entgegnete Keri. „Sie können darauf wetten, dass ich im Austausch für eine solch qualitativ hochwertige Unterhaltung wertvolle Informationen von Ihnen erwarte.“

„Detective Locke“, sagte Anderson mit gespielter Entrüstung, „Sie beleidigen meine delikaten Empfindungen. Seit Monaten haben wir uns nicht mehr gesehen, und doch ist das erste, das Sie tun, Informationen von mir zu verlangen? Kein ‚Hallo‘? Kein ‚Wie geht es Ihnen‘?“

„Hallo“, sagte Keri. „Ich würde fragen, wie es Ihnen geht, aber es ist offensichtlich, dass es Ihnen nicht besonders gut geht. Sie haben abgenommen. Ihr Haar ist grau geworden. Die Haut um Ihre Augen ist schlaff. Sind Sie krank? Oder belastet etwas Ihr Gewissen?“

„Beides“, gab er zu. „Sehen Sie, die Jungs hier drinnen haben mich in letzter Zeit nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst. Ich gehöre nicht mehr der beliebten Gruppe an. Daher wird sich mein Essen gelegentlich ‚ausgeliehen‘. Ich habe außerdem einen Hauch von Krebs.“

„Das wusste ich nicht“, sagte Keri ehrlich betroffen. All die körperlichen Anzeichen des Verfalls machten jetzt mehr Sinn.

„Woher auch?“, fragte er. „Ich bin damit nicht hausieren gegangen. Vielleicht hätte ich es Ihnen bei meiner Bewährungsanhörung letzten November gesagt, aber Sie waren nicht da. Es hat übrigens nicht geklappt. Nicht Ihr Fehler. Ihr Brief war übrigens sehr nett, vielen Dank.“

Nachdem Anderson ihr geholfen hatte, hatte Keri in seinem Namen einen Brief aufgesetzt. Darin hatte sie ihn nicht verteidigt, jedoch die Art und Weise, wie er der Polizei geholfen hatte, zu seinen Gunsten dargelegt.

„Ich nehme an, Sie waren nicht überrascht, dass Sie nicht auf Bewährung freikommen?“

„Nein“, sagte er, „aber es ist schwer, sich nicht doch Hoffnung zu machen. Es war meine letzte, echte Chance, hier herauszukommen, bevor die Krankheit mich niederstreckt. Ich habe von Spaziergängen am Strand von Zihuatanejo geträumt. Naja, es hat nicht sein sollen. Aber genug des Smalltalks, Detective. Lassen Sie sich uns damit befassen, weshalb Sie wirklich hier sind. Und bedenken Sie, dass die Wände Ohren haben.“

„Okay“, sagte sie, lehnte sich nach vorne und flüsterte, „wissen Sie über morgen Abend Bescheid?“

Anderson nickte. Keri fühlte, wie die Hoffnung in ihr aufstieg.

„Wissen Sie, wo es stattfindet?“

Er schüttelte seinen Kopf.

„Mit dem Wo kann ich Ihnen nicht helfen“, flüsterte er zurück. „Aber vielleicht mit dem Warum.“

„Was sollte mir das bringen?“ wollte sie mit bitterer Stimme wissen.

„Zu wissen warum könnte helfen, das Wo herauszukriegen.“

„Lassen Sie mich die Frage anders stellen“, sagte sie, wohlwissend, dass ihre Wut gerade die Oberhand gewann, ohne dies ändern zu können.

„In Ordnung.“

„Wieso helfen Sie mir überhaupt?“ fragte sie. „Haben Sie mich die ganze Zeit, seit wir uns kennen, gelenkt?“

„Ich kann Ihnen folgendes sagen, Detective. Sie wissen, womit ich mein Geld verdient habe. Sie wissen, dass ich den Klau von Kindern aus ihren Familien koordiniert habe, um sie anderen Familien zuzuführen, oft gegen eine sehr hohe Gebühr. Dies konnte ich aus der Entfernung tun, benutzte einen falschen Namen und konnte ein glückliches, unkompliziertes Leben führen.

„Als John Johnson?“

„Nein, mein glückliches Leben führte ich als Thomas Anderson. Mein Deckname war John Johnson, der Entführungsexperte. Als ich geschnappt wurde, habe ich mich an jemanden gewandt, den wir beide kennen, um sicherzustellen, dass John Johnson entlastet wurde und niemals eine Verbindung zu Thomas Anderson hergestellt werden konnte. Das war vor fast zehn Jahren. Unser Freund hat abgelehnt. Er sagte, er repräsentiere nur diejenigen, die vom System unfair behandelt wurden und dass ich – und es ist witzig, wenn man jetzt darüber nachdenkt – ein Krebsgeschwür jenes Systems sei.“

„Das ist witzig“, sagte Keri ohne zu lachen.

„Aber Sie wissen ja, dass ich überzeugend sein kann. Ich überzeugte ihn davon, dass ich Kinder aus reichen Familien, die diese Kinder nicht verdient hatten, entführte und sie Familien zuführte, denen weniger Mittel zur Verfügung standen. Dann bot ich ihm eine immense Summe an, um einen Freispruch zu erwirken. Ich glaube, er wusste, dass ich log. Denn wie hätten diese ärmeren Familien mich bezahlen sollen? Und waren die Eltern, die ihre Kinder verloren, wirklich alle so schrecklich? Unser Freund ist sehr smart. Er musste es wissen. Aber ich gab ihm etwas, an dem er sich festhalten konnte, damit er sich etwas vormachen konnte, als er die sechsstellige Summe in bar von mir annahm.“

„Sechsstellig?“, wiederholte Keri ungläubig.

„Wie ich schon sagte, es ist ein sehr lukratives Geschäft. Und das war erst die erste Zahlung. Über den Zeitraum des Prozesses hinweg habe ich ihm ungefähr eine halbe Million Dollar gezahlt. Damit war er ein gemachter Mann. Nachdem ich freigesprochen wurde und anfing, unter meinem eigenen Namen zu arbeiten, half er mir sogar mit den Zuführungen von Kindern an ‚würdigere‘ Familien. Sofern er einen Weg fand, die Transaktionen zu rechtfertigen, fühlte er sich wohl damit, er war regelrecht enthusiastisch.“

„Dann hat er also durch Sie zum ersten Mal die ‚verbotenen Früchte‘ probiert?“

„Ja. Und er fand Gefallen an dem Geschmack. Tatsächlich bemerkte er, dass er an vielem Geschmack fand, von dem er nicht wusste, dass er es mögen würde.“

„Was genau heißt das?“, fragte Keri.

„Sagen wir einfach, irgendwann verlor sich sein Bedürfnis, die Transaktionen zu rechtfertigen. Das Event morgen Abend?“

„Ja?“

„Das war er seine Idee“, sagte Anderson. „Allerdings nimmt er nicht teil. Aber er stellte fest, dass es für solche Events und kleinere, ähnliche Festivitäten das ganze Jahr über einen Markt gibt. Er füllte eine Marktlücke. Er kontrolliert im Wesentlichen das obere Segment dieses Marktes in Los Angeles. Und man stelle sich vor, bevor er mich traf , arbeitete er aus einem ein-Zimmer-Büro heraus, das neben einem Donut-Laden lag, und verteidigte illegale Einwanderer, die von Polizisten, die nur ihre Quote erfüllen wollten und deshalb wahllos sexueller Vergehen beschuldigt wurden.“

„Sie haben also ein Gewissen entwickelt?“ presste Keri zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie war angewidert, doch sie brauchte Antworten und befürchtete, dass Anderson zumachen würde, wenn sie dies allzu offen zeigte. Er schien zu spüren, was in ihr vorging, sprach aber dennoch weiter.

„Zu dem Zeitpunkt noch nicht. Das hat es nicht bewirkt bei mir. Das passierte erst viel später. Etwa vor anderthalb Jahren sah ich in den Lokalnachrichten die Geschichte einer Polizistin und ihres Partners, die ein kleines Mädchen gerettet hatten, das vom Freund des Babysitters gekidnappt worden war; ein widerlicher Kerl.“

„Carlo Junta“, sagte Keri automatisch.

„Richtig. Jedenfalls erwähnten sie in der Story, dass diese Frau wenige Jahre zuvor an der Polizeiakademie gewesen war. Und sie zeigten den Clip eines Interviews mit ihr, nachdem sie die Akademie abgeschlossen hatte. Sie sagte, sie sei zur Polizei gegangen, weil man ihre Tochter entführt hatte. Sie sagte, obwohl sie ihre Tochter nicht hatte retten können, könne sie als Polizistin vielleicht die Töchter anderer Familien retten. Kommt Ihnen das bekannt vor?“

„Ja“, sagte Keri leise.

„Also“, fuhr Anderson fort, „weil ich in einer Bibliothek arbeitete und somit Zugang zu allerlei altem Filmmaterial hatte, suchte ich die Story heraus, die lief, als das Kind dieser Frau entführt worden war, und von der anschließenden Pressekonferenz, in der sie flehte, ihre Tochter möge unversehrt zu ihr zurückkommen.“

Sie dachte zurück an die Pressekonferenz, die Erinnerung daran größtenteils verschwommen. Sie erinnerte sich daran, in ein Duzend Mikrophone, die ihr vors Gesicht gehalten wurden, gesprochen zu haben; wie sie den Mann, der sich ihre Tochter mitten im Park gegriffen und sie wie eine Puppe in seinen Kofferraum geschmissen hatte, angefleht hatte, ihre Tochter heil zurückzubringen.