Bevor Er Sieht

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From the series: Ein Mackenzie White Krimi #2
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Bevor Er Sieht
Bevor Er Sieht
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Is reading Brianna Knickerbocker
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KAPITEL DREI

Als sie die Mülldeponie erreichten, war es 13:35 Uhr. Die dreißig Grad Celsius, die draußen herrschten, verschlimmerten den Gestank des Ortes, und die Fliegen brummten so laut, dass sie wie eine Art bizarre Musik klangen. Mackenzie war gefahren, während Bryers auf dem Beifahrersitz gesessen und sie über die Details des Falles informiert hatte.

Als sie aus dem Auto ausstiegen und sich den Müllbergen näherten, dachte Mackenzie, dass sie Bryers durchschaut hatte. Er war größtenteils ein Mann, der sich an Vorschriften hielt. Er kam nicht gerade aus sich heraus und sagte nur wenig, aber er war extrem nervös, dass sie mit ihm in demselben Auto fahren würde, obwohl seine Vorgesetzten dieser Sache mit verschlossenen Augen ihre Zustimmung gegeben hatten. All das konnte sie deutlich an seiner Körperhaltung und den flüchtigen Blicken, die er ihr zuwarf, erkennen.

Mackenzie ging langsam, während Bryers sich den großen, grünen Tonnen näherte. Er lief auf sie zu, als ob er hier arbeiten würde und sie musste sich daran erinnern, dass er bereits hier gewesen war. Er wusste, was ihn erwarten würde, was ihr das Gefühl gab, eine Anfängerin zu sein – was sie ja eigentlich auch war.

Sie ließ sich einen Moment Zeit, die Umgebung in sich aufzunehmen, denn sie hatte sich noch nie die Mühe gemacht, sich mit Mülldeponien zu beschäftigen. Der Bereich, in dem sie und Bryers sich zurzeit befanden – der Teil des Geländes, in dem Fahrzeuge erlaubt waren – war nichts weiter als eine Müllkippe. Er bestand aus sechs großen Metallcontainern, die nebeneinander aufgereiht waren, jeder von ihnen saß in einem Loch im Boden. Hinter den Müllgruben konnte sie einen Bereich sehen, an dem die Ausbeute auf LKWs geladen wurde. Um diese Gruben zu ermöglichen, in denen ein Großteil der Müllberge verschwand, war die gepflasterte Einfahrt und der Parkplatz wie ein Hügel geformt, auf dessen oberstem Punkt sie und Bryers nun standen, während die Straße durch die Mülldeponie und darüber hinaus führte und sich schlängelte, bis man am anderen Ende des Abladeplatzes wieder auf die Schnellstraße gelangte.

Mackenzie musterte den Boden. Dort, wo sie stand, gab es nichts außer zusammengedrücktem Dreck, der erst in Kiesel und dann auf der anderen Seite der großen Tonnen in Teer überging. Sie stand im dreckigen Bereich, auf dem Reifenspuren wie geisterhafte Abdrücke auf dem Boden zu sehen waren. Aufgrund der überkreuzten und verwischten Reifenabdrücke wäre es äußerst schwierig, eine verlässliche Spur zu identifizieren. In letzter Zeit war es trocken und heiß gewesen und es hatte zuletzt vor einer Woche geregnet, doch selbst das war nur ein leichtes Nieseln gewesen. Der trockene Boden würde die Sache noch zusätzlich erschweren.

Weil sie ahnte, dass es nahezu unmöglich war, nützliche Abdrücke aus dem Spurenchaos zu entnehmen, trat sie zu Bryers, der neben einer Müllgrube stand.

„Die Leiche wurde hier drinnen gefunden“, sagte Bryers. „Die Gerichtsmediziner haben bereits Blutproben und Fingerabdrücke des Opfers genommen. Sie hieß Susan Kellerman, war einundzwanzig Jahre alt, und kam aus Georgetown.“

Mackenzie nickte, doch schwieg. Als sie in die Grube schaute, verschoben sich ihre Prioritäten. Sie arbeitete jetzt direkt mit dem FBI zusammen, was ihr das Gefühl gab, ein paar Schritte zu überspringen. Sie würde ihre Zeit nicht damit verschwenden, etwas Offensichtliches zu suchen. Diejenigen, die vor ihr an dem Fall gearbeitet hatten – dazu gehörte wahrscheinlich auch Bryers – hatten diese Arbeit schon erledigt. Deshalb versuchte sich Mackenzie, auf das zu konzentrieren, was noch schleierhaft und womöglich übersehen worden war.

Nachdem sie sich die unmittelbare Umgebung etwa eine Minute lang angesehen hatte, war Mackenzie der Meinung, dass sie alles wusste, was es zu wissen gab. Bis jetzt war das allerdings nicht sonderlich viel.

„Sagen Sie mir“, forderte Bryers sie auf. „Was meinen Sie, warum der Mörder die Leichen hier ablegt? Welche Bedeutung hat das für ihn?“

„Ich glaube nicht, dass es reine Bequemlichkeit ist“, antwortete Mackenzie. „Ich denke, er versucht, auf Nummer sicher zu gehen. Er lässt die Leichen hier zurück, weil er sie loswerden will. Ich schätze auch, dass er in der Nähe lebt…nicht weiter als zwanzig oder dreißig Meilen entfernt. Ich glaube nicht, dass er so weit fahren würde, um eine Leiche loszuwerden…vor allem bei Nacht.“

„Warum bei Nacht?“, fragte Bryers.

Mackenzie wusste, dass er sie testete, aber das machte ihr nichts aus. Im Angesicht der unglaublichen Chance, die ihr gegeben worden war, hatte sie schon mit ein paar Sticheleien gerechnet.

„Weil es für ihn praktisch nur nachts möglich gewesen ist. Es wäre ziemlich dumm, hier bei Tageslicht eine Leiche abzulegen, wenn es nur so von Arbeitern wimmelt.“

„Dann denken Sie also, dass er schlau ist?“

„Nicht unbedingt. Er ist vorsichtig und sorgsam. Das ist nicht das Gleiche wie schlau.“

„Ich habe bemerkt, dass Sie sich nach Reifenabdrücken umgesehen haben“, meinte er. „Das haben wir bereits versucht und nichts gefunden. Es gibt einfach zu viele von ihnen.“

„Ja, das wäre schwierig“, entgegnete sie. „Wie gesagt, der Körper muss außerhalb der Betriebszeiten hier abgelegt worden sein. Ist das auch Ihre Annahme?“

„Ja, das ist sie.“

„Dann gibt es also keine brauchbaren Abdrücke“, fasste Mackenzie noch einmal zusammen.

Er lächelte sie an. „Das stimmt“, meinte er. „Zumindest keine Reifenabdrücke. Aber Fußabdrücke vielleicht. Nicht, dass das von Bedeutung wäre, es gibt einfach zu viele von ihnen.“

Mackenzie nickte und fühlte sich dumm, solch offensichtliche Fakten übersehen zu haben. Aber jetzt gerade brachte sie das auf einen neuen Gedanken.

„Nun ja, er wird die Leiche wohl kaum über der Schulter getragen haben“, bemerkte Mackenzie. „Seine Reifenabdrücke müssen irgendwo sein. Nicht hier, aber vielleicht direkt vor dem Tor. Wir könnten dann versuchen, die Abdrücke, die vor dem Tor aufhören, mit denen hier zu vergleichen. Wir könnten sogar direkt am Rand des Zaunes nachschauen, ob es irgendwelche Hinweise gibt, wo er den Körper möglicherweise hinübergeworfen hat.“

„Das ist ein guter Gedanke“, entgegnete Bryers offensichtlich amüsiert. „Dieses Detail haben die Leute der Spurensicherung erkannt, ich jedoch übersehen. Aber ja, Sie haben Recht. Er hätte sein Auto vor dem Tor abstellen müssen. Dann denken Sie also, dass die Spur, die vor dem Tor aufhört und dann wieder in die entgegengesetzte Richtung davonfährt, von unserem Täter stammen könnte.“

„Das könnte sein“, antwortete Mackenzie.

„Sie denken schon in die richtige Richtung, haben allerdings noch nichts Neues entdeckt. Was haben Sie sonst noch drauf?“

Er war nicht unhöflich oder respektlos, das erkannte sie schon an seinem Ton. Er wollte sie einfach nur anstacheln und zum Weitermachen motivieren.

„Wissen wir, wie viele Fahrzeuge jeden Tag hier durchfahren?“

„Ungefähr eintausendeinhundert oder so“, antwortete Bryers. „Trotzdem, wenn wir die Abdrücke abgleichen, die sich dem Tor nähern und dann einfach aufhören…“

„Es wäre ein Anfang.“

„Das hoffen wir“, meinte Bryers. „Seit gestern Nachmittag arbeitet ein Team daran, doch bis jetzt haben wir immer noch keine neuen Spuren.“

„Ich könnte mich einmal umschauen, wenn Sie möchten“, bot sich Mackenzie an.

„Das wäre viel zu anstrengend“, widersprach Bryers. „Sie arbeiten jetzt mit dem FBI, Ms. White. Überanstrengen Sie sich nicht, wenn es ein anderes Team gibt, das sich mit der Sache besser auskennt.“

Mackenzie schaute zurück in die Grube und versuchte, in dem Berg aus zusammengepresstem Müll die Lösung zu finden. Eine junge Frau war hier vor kurzem nackt und mit leichten Hämatomen gelegen. Sie war an demselben Ort abgelegt worden, an dem die Menschen ihren Müll sowie Dinge entsorgten, die sie nicht mehr brauchten. Vielleicht dachte der Mörder, dass die Frauen, die er umgebracht hatte, nicht mehr Wert waren als gewöhnlicher Hausmüll.

Sie wünschte sich fast, hier gewesen zu sein, als Bryers und sein bald in den Ruhestand gehender Freund angekommen waren. Vielleicht hätte sie dann mehr Ansatzpunkte. Vielleicht könnte sie Bryers dann dabei helfen, einen Verdächtigen ausfindig zu machen. Aber für jetzt hatte sie fürs Erste ihr Können recht schnell bewiesen, da ihr die Situation mit den Reifenabdrücken aufgefallen war.

Sie drehte sich wieder zu ihm um und sah, dass er still dastand und zum Tor schaute. Zuerst betrachtete sie ebenfalls das Tor, durch das die Autos hindurch fuhren, dann wandte sie ihren Blick nach links. Als sie die untere Stelle des Zaunes musterte, schoss ihr ein weiterer Gedanke durch den Kopf.

Er hatte über den Zaun klettern müssen, dachte die.

Dann begann sie damit, den Zaun absuchen, obwohl sie sich nicht sicher war, was sie eigentlich zu finden hoffte. Vielleicht Dreck, der nicht dort sein sollte, oder Stofffasern an dem Zaungitter. Wenn sie etwas fand, musste das zwar nicht unbedingt etwas mit dem Fall zu tun haben, aber immerhin wäre es ein Anfang.

Sie brauchte weniger als zwei Minuten, bis sie auf etwas stieß, dass ihre Aufmerksamkeit erregte. Es war so winzig, dass sie es fast übersehen hätte. Aber als sie näher herantrat, sah sie, dass es hilfreicher sein könnte, als gedacht.

 

Etwa eineinhalb Meter auf der linken Seite neben dem Eingangstor hing eine weiße Stofffaser an einem der diamantförmigen Maschen des Zaunes. Das Stück Stoff selber würde wahrscheinlich keine Ergebnisse liefern, aber immerhin zeigte es ihnen eine Stelle, an der es sich lohnen würde, nach Fingerabdrücken zu suchen.

„Agent Bryers?“, sagte sie.

Er trat langsam an sie heran, als ob er nichts Besonderes erwarten würde. Als er näherkam, hörte sie ihn einen brummenden Laut ausstoßen, während er das Stück Stoff musterte.

„Gute Arbeit, Ms. White“, lobte er.

„Bitte, nennen Sie mich Mackenzie“, bestand sie. „Oder Mac, wenn Sie abenteuerlustig sind.“

„Was denken Sie ist das?“, fragte er sie.

„Wahrscheinlich gar nichts. Aber vielleicht gehört der Stoffrest zu jemandem, der vor kurzem über den Zaun geklettert ist. Das Stück selbst mag vielleicht nutzlos sein, aber es zeigt uns zumindest, auf welchen Bereich wir die Suche nach Fingerabdrücken konzentrieren sollten.“

„Im Wagen gibt es ein kleines Beweismittel-Set. Könnten Sie es bitte holen, während ich Bescheid sage?“

„Natürlich“, erwiderte sie und ging zum Auto zurück.

Als sie wieder zurückkehrte, beendete er gerade das Telefonat. Bei Bryers schien alles schnell und effizient zu sein. Das war eines der Dinge, die sie schon an ihm schätzte.

„Okay, Mac“, begann er. „Lassen Sie uns jetzt auf die Spur konzentrieren, auf die Sie zuerst gekommen sind. Der Ehemann des Opfers lebt etwa zwanzig Minuten von hier entfernt. Haben Sie Lust, ihm einen Besuch abzustatten?“

„Definitiv“, entgegnete Mackenzie.

Sie gingen zurück zum Auto und verließen die immer noch geschlossene Müllkippe. Über ihren Köpfen erfüllte ein Schwarm Aasfresser seine Aufgabe gewissenhaft, indem er das Drama mit gefühllosen Augen beobachtete.

***

Caleb Kellerman hatte bereits zwei Polizisten zu Besuch, als Mackenzie und Bryers an seinem Haus ankamen. Er lebte am Rande von Georgetown in einem kleinen zweistöckigen Haus, das perfekt als erstes gemeinsames Heim diente. Der Gedanke daran, dass die Kellermans gerade einmal etwas länger als ein Jahr miteinander verheiratet gewesen waren, als seine Frau umgebracht worden war, erweckte in Mackenzie Mitleid für den Mann, aber gleichzeitig auch Wut über das, was geschehen war.

Das erste gemeinsame Heim, das nie die Chance gehabt hatte, zu sehen, was die Zukunft bringen würde, dachte Mackenzie, als sie eintraten. Wie unglaublich traurig.

Sie gingen zur Tür hinein, wobei sie direkt in einen kleinen Eingangsbereich kamen, der ins Wohnzimmer führte. Mackenzie spürte die aufkommende Einsamkeit und Stille, die in den meisten Wohnungen kurz nach einem Todesfall herrschten. Sie hoffte, dass sie sich irgendwann daran gewöhnen würde, doch es fiel ihr schwer zu glauben, dass das jemals geschehen könnte.

Bryers erteilte den Polizisten draußen Befehle und diese schienen erleichtert zu sein, dass er sich nun um die Sache kümmerte. Während die beiden davon gingen, betraten Bryers und Mackenzie das Wohnzimmer. Sie sah, dass Caleb Kellermann unglaublich jung aussah, mit seinem glatt rasierten Gesicht, dem T-Shirt, auf dem die Band Five Finger Death Punch abgebildet war, und der weiten kurzen Hose im Tarnmuster könnte er durchaus für achtzehn durchgehen. Mackenzie ließ sich jedoch nicht von seinem Aussehen ablenken, sondern konzentrierte sich stattdessen auf die unbeschreibliche Trauer, die auf dem Gesicht des jungen Mannes lag.

Er schaute zu ihnen auf und wartete darauf, dass einer von ihnen sprach. Mackenzie bemerkte, dass Bryers ihr den Vortritt ließ, indem er kaum merklich in Caleb Kellermans Richtung nickte. Sie trat vor, obwohl sie große Angst hatte und sich doch zugleich geschmeichelt fühlte, dass eine so große Verantwortung übertragen worden war. Entweder hatte Bryers eine hohe Meinung von ihr oder er wollte, dass sie sich unbehaglich fühlte.

„Mr. Kellerman, ich bin Agent White und das ist Agent Bryers.“ An dieser Stelle zögerte sie einen Moment. Hatte sie sich gerade tatsächlich Agent White genannt? Das hörte sich wirklich gut an. Schnell machte sie weiter. „Ich weiß, dass Sie gerade mit einem Verlust zu kämpfen haben und werde auch gar nicht vorgeben, zu verstehen, wie Sie sich fühlen“, begann sie. Dabei sprach sie mit weicher, warmer aber auch fester Stimme weiter: „Aber um denjenigen zu finden, der das getan hat, müssen wir Ihnen ein paar Fragen stellen. Sind Sie dazu in der Lage?“

Caleb Kellerman nickte. „Ich werde alles dafür tun, dass der Mann, der ihr das angetan hat, gefunden wird“, sagte er. „Ich werde alles tun.“

In seiner Stimme lag eine Wut, die Mackenzie hoffen ließ, dass Caleb in den kommenden Tagen eine Art Therapie bekam. In seinen Augen lag etwas Verstörtes.

„Nun, zu allererst muss ich wissen, ob Susan irgendwelche Feinde hatte…zum Beispiel einen Rivalen.“

„Ein paar Mädchen, mit denen sie auf der High School war, machten sie auf Facebook dumm an“, entgegnete Caleb. „Aber es ging hauptsächlich um Politik. Und außerdem würde keine der jungen Frauen so etwas machen. Es waren einfach nur beleidigende Streitereien.“

„Und was ist mit ihrer Arbeit?“, fragte Mackenzie. „Hatte sie ihr gefallen?“

Caleb zuckte mit den Schultern. Er lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen. Jedoch schien der finstere Ausdruck auf seinem Gesicht festgefroren zu sein. „Sie mochte ihre Arbeit genauso gerne wie jede andere Frau, die studiert hat, und anschließend einen Job bekommt, der gar nichts mit ihrem Abschluss zu tun hat. Es zahlte die Rechnungen und die Boni waren manchmal echt gut. Allerdings waren die Arbeitszeiten schlecht.“

„Wussten Sie, mit welchen Menschen sie zusammenarbeitete?“, wollte Mackenzie wissen.

„Nein. Sie hat mir zwar Geschichten von ihnen erzählt, aber das war alles.“

Nun schaltete sich Bryers wieder ein. Seine Stimme klang in der Stille des Hauses ganz anders, als ob er mit Absicht eine düstere Tonlage verwendete. „Sie war Verkäuferin, nicht wahr? Für ein Selbstoptimierungsunternehmen?“

„Ja. Ich habe der Polizei schon die Nummer ihres Vorgesetzten gegeben.“

„Mitarbeiter des FBI sprechen gerade schon mit ihm“, bestätigte Bryers.

„Das spielt keine Rolle“, entgegnete Caleb. „Keiner ihrer Kollegen hat sie getötet. Das kann ich garantieren. Ich weiß, dass es sich dumm anhört, aber ich habe es im Gefühl. Jeder auf ihrer Arbeit ist nett…sie alle befinden sich in der gleichen Situation wie wir, sie müssen ihre Rechnungen zahlen und versuchen, durch den Monat zu kommen. Es sind ehrliche Leute, wissen Sie?“

Einen Moment lang sah es so aus, als ob er gleich anfangen würde zu weinen. Er versuchte sich zu beherrschen und schaute zu Boden, während er sich sammelte, dann schaute er wieder auf. Die Tränen, die er zuvor kaum hatte unterdrücken können, flossen ihm nun aus den Augenwinkeln.

„Okay, was wäre Ihrer Meinung nach dann die richtige Spur?“, fragte Bryers.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Caleb. „Sie hatte ein Blatt, auf dem alle Kunden standen, die sie an jenem Tag besuchen wollte, aber es ist unauffindbar. Die Polizisten meinten, dass er Mörder es wahrscheinlich genommen und vernichtet hat.“

„Das kann gut sein“, sagte Mackenzie.

„Ich kann es immer noch nicht glauben“, meinte Caleb. „Es fühlt sich gar nicht echt an. Ich warte darauf, dass sie jeden Moment zur Tür hereinkommt. Der Tag, an dem sie starb…er fing genauso an wie jeder andere. Sie küsste mich auf die Wange, während ich mich für die Arbeit fertig machte, und verabschiedete sich von mir. Sie ging zur Bushaltestelle und das war es. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.“

Mackenzie bemerkte, dass Caleb am Rande eines Nervenzusammenbruches stand, und auch wenn es ihr falsch erschien, musste sie ihm dennoch eine letzte Frage stellen, bevor er komplett zusammenbrach.

„Bushaltestelle?“, bohrte sie nach.

„Ja, sie fuhr jeden Tag mit dem Bus ins Büro, sie nahm den Bus um zwanzig nach acht, um rechtzeitig auf die Arbeit zu kommen. Unser Auto ging vor zwei Monaten kaputt.“

„Wo ist diese Bushaltestelle?“, wollte Bryers wissen.

„Zwei Straßen von hier“, antwortete Caleb. „Es ist so eine kleine Überdachung.“ Dann schaute er Mackenzie und White an, plötzlich blühte in seinen Augen unter dem Schmerz und dem Hass auch Hoffnung auf. „Warum? Glauben Sie, dass es wichtig ist?“

„Das können wir nicht mit Sicherheit sagen“, entgegnete Mackenzie. „Aber wir werden Sie auf dem Laufenden halten. Vielen Dank für ihre Zeit.“

„Natürlich“, erwiderte Caleb. „Hey…Leute?“

„Ja?“, sagte Mackenzie.

„Es ist jetzt schon länger als drei Tage her, nicht wahr? Drei Tage, seitdem ich sie zum letzten Mal gesehen habe, und fast zwei ganze Tage, seitdem ihr Leichnam gefunden wurde.“

„Das stimmt“, bestätigte Bryers.

„Dann ist es also zu spät? Wird dieser Bastard davonkommen?“

„Nein“, entgegnete Mackenzie. Das Wort war ihr aus dem Mund gerutscht, bevor sie es aufhalten konnte, und sie wusste sofort, dass sie sich gerade ihren ersten Fehler in Bryers Gegenwart geleistet hatte.

„Wir geben unser Bestes“, versicherte ihm dieser, während er seine Hand sanft aber bestimmt auf Mackenzies Schulter legte. „Bitte rufen Sie uns an, wenn Ihnen noch etwas Nützliches einfällt.“

Mit diesen Worten gingen sie hinaus. Mackenzie überlief ein Schauder, als sie hörte, wie Caleb weinend zusammenbrach, noch bevor sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.

Das Geräusch löste etwas in ihr aus…etwas, das sie an ihr Zuhause erinnerte. Das letzte Mal, als sie so etwas verspürt hatte, war der Moment, in dem sie in Nebraska vollkommen in die Aufgabe, den Vogelscheuchen-Mörder zu fassen, eingetaucht war. Nun, als sie die Stufen vor Caleb Kellermans Haus hinabging, spürte sie dieses alleinnehmende Bedürfnis wieder, und so langsam wurde ihr klar, dass sie nicht stillstehen würde, bis sie diesen Mörder gefasst hatte.

KAPITEL VIER

„So etwas dürfen Sie nicht tun“, sagte Bryers, sobald sie wieder im Auto saßen, diesmal war er hinter dem Steuer.

„Was darf ich nicht tun?“

Er seufzte und versuchte, ernst statt tadelnd zu wirken. „Ich weiß, dass Sie vermutlich noch nie in einer solchen Situation gewesen sind, aber Sie dürfen der Familie eines Opfers nicht versprechen, dass der Täter nicht davonkommen wird. Sie dürfen Ihnen keine Hoffnung machen, wenn es keine gibt. Verdammt, selbst wenn es eine Hoffnung gibt, dürfen Sie so etwas nicht sagen.“

„Ich weiß“, erwiderte sie enttäuscht. „Das wurde mir in demselben Moment klar, in dem das Wort meinen Mund verließ. Es tut mir leid.“

„Kein Grund, sich zu entschuldigen. Versuchen Sie einfach, einen kühlen Kopf zu bewahren, Verstanden?“

„Verstanden.“

Weil Bryers sich in der Stadt besser auskannte als Mackenzie, fuhr er zu der Zentrale der Öffentlichen Verkehrsmittel. Er fuhr schnell und bat Mackenzie, schon einmal dort anzurufen, damit sie sofort mit jemandem sprechen konnten, der wusste, worum es ging und der die Sache schnell abwickelte. Es war zwar eine einfache Methode, aber trotzdem war Mackenzie von ihrer Effizienz überrascht. Es war auf jeden Fall Welten von dem entfernt, was sie in Nebraska erlebt hatte.

Während der halbstündigen Fahrt unterhielt sich Bryers mit ihr. Er wollte alles über ihre Zeit auf der Polizeiwache in Nebraska wissen, vor allem über den Fall des Vogelscheuchen-Mörders. Er fragte sie nach dem College und wofür sie sich interessierte. Sie erzählte ihm gerne oberflächliche Informationen, doch sie gab nicht zu viel von sich Preis – wahrscheinlich, weil er auch nichts von sich erzählte.

Bryers schien sogar sehr reserviert zu sein. Als Mackenzie ihn nach seiner Familie fragte, behielt er seine Antworten so allgemein wie möglich, ohne unhöflich zu sein. „Ich habe eine Frau, zwei Söhne, die auf dem College sind, und ein Hund, der ein Bein verloren hat.“

 

Nun ja, dachte Mackenzie. Es ist immerhin unser erster Tag zusammen und er kennt mich überhaupt nicht – alles, was er über mich weiß, stammt aus sechs Monate alten Zeitungsberichten und meiner Akte in der Akademie. Ich kann es ihm nicht verübeln, dass er sich mir noch nicht öffnet.

Als sie an der Zentrale der Öffentlichen Verkehrsmittel ankamen, hatte Mackenzie war immer noch eine gute Meinung von dem älteren Agenten, doch es lag eine Spannung zwischen ihnen, die sie nicht fassen konnte. Vielleicht spürte er sie nicht, vielleicht ging es nur ihr so. Die Tatsache, dass er praktisch all ihre Fragen über seine Arbeit abgewehrt hatte, gab ihr ein ungutes Gefühl. Es erinnerte sie auch schnell wieder daran, dass das hier eigentlich noch gar nicht ihre Arbeit war. Sie machte das nur als Gefallen für Ellington, es war sozusagen ein Test, um zu sehen, wie sie sich anstellte.

Ein weiterer Grund für ihre Mitarbeit waren irgendwelche mysteriöse Gespräche in Hinterkammern, in denen die hohen Tiere mit ihr ein Risiko eingingen. Dieses war jedoch nicht nur für sie hoch, sondern auch für die Menschen, mit denen sie zusammenarbeitete – und dazu gehörten auch Bryers und Ellington.

Die Zentrale der Öffentlichen Verkehrsmittel befand sich in einem Gebäude, in dem noch etwa zehn weitere Behörden untergebracht waren. Mackenzie folgte Agent Bryers so gut es ging durch die Flure. Er lief schnell, wobei er hin und wieder jemandem zunickte, so als ob er sich hier auskennen würde. Ein paar Menschen schienen ihn zu erkennen, denn sie warfen ihm ein schnelles Lächeln zu und winkten vereinzelt. Der Tag neigte sich dem Ende entgegen, weshalb die Menschen hektisch ihre Arbeit erledigten und auf fünf Uhr warteten.

Als sie vor dem Teil des Gebäudes stehen blieben, das sie suchten, erlaubte es sich Mackenzie, den Moment zu genießen. Vor gerade einmal vier Stunden hatte sie McClarrens Vorlesung verlassen und nun steckte sie plötzlich bis zum Hals in einem Mordfall zusammen mit einem sehr gut ausgebildeten Agenten, der bei seiner Arbeit verdammt gut war.

Am Empfangsschalter beugte sich Bryers leicht nach vorne und beäugte die junge Frau, die direkt vor ihm hinter einem Schreibtisch saß. „Wir haben wegen dem Busfahrplan angerufen“, erklärte er ihr. „Agenten White und Bryers.“

„Oh, ja“, erwiderte die Rezeptionistin. „Sie werden mit Mrs. Percell sprechen. Sie ist draußen in der Buswerkstatt. Sie müssen bis zum Ende des Flures, dann die Treppe hinunter und hinausgehen.“

Sie folgten den Anweisungen und verließen das Gebäude zum Hinterausgang, wo Mackenzie bereits das Brummen der Motoren und der Maschinerie hören konnte. Das Gebäude war so konstruiert, dass der Lärm in den geschäftigeren und schöneren Bereichen nicht auffiel, hier draußen hörte es sich jedoch fast wie in einer Autowerkstatt an.

„Wenn wir diese Mrs. Percell treffen“, sagte Bryers. „Möchte ich, dass Sie die Führung übernehmen.“

„Okay“, erwiderte Mackenzie, die immer noch das Gefühl hatte, gerade mitten in einer seltsamen Prüfung zu stecken.

Sie gingen die Stufen hinab und folgten einem Schild, auf dem Werkstatt / Busparkplatz stand. Am Ende der Treppe führte ein schmaler Flur in ein kleines offenes Büro. Dort stand ein Mann in Mechanikerkleidung hinter einem antiquierten Computer und tippte vor sich hin. Durch ein großes Fenster konnte Mackenzie in die riesige Werkstatt schauen, in der mehrere Busse standen und gewartet wurden. Während sie zusah, öffnete sich eine Tür im hinteren Bereich des Büros und eine fröhlich aussehende, übergewichtige Frau kam aus der Werkstatt herein.

„Sind Sie die Leute vom FBI?“

„Ja, die sind wir“, antwortete Mackenzie. Neben ihr holte Bryers seine Polizeimarke heraus – wahrscheinlich, weil sie keine hatte, die sie vorzeigen konnte. Percell gab sich damit zufrieden und schoss sofort los.

„Soweit ich weiß, haben Sie Fragen über die Busfahrpläne und die Schichten der Fahrer“, sagte sie.

„Das stimmt“, erwiderte Mackenzie. „Wir hoffen, herauszufinden, wo ein bestimmter Bus vor drei Tagen angehalten und, wenn möglich, wer ihn gefahren hat.“

„Natürlich“, meinte die Frau. Sie ging zu dem kleinen Schreibtisch, an dem der Mechaniker tippte, und stupste ihn spielerisch an. „Doug, lass mich mal ran, ja?“

„Aber gerne doch“, entgegnete dieser mit einem Lächeln. Er trat vom Schreibtisch weg und ging in die Werkstatt, während sich Mrs. Percell hinter den Computer setzte. Sie drückte ein paar Tasten und schaute dann stolz zu ihnen auf, offenbar froh, dass sie helfen konnte.

„Um welche Bushaltestelle geht es?“

„Die an der Ecke zwischen Carlton und Queen Street“, sagte Mackenzie.

„Um welche Zeit ist die Person eingestiegen?“

„Um zwanzig nach acht Uhr morgens.“

Mrs. Percell tippte die Informationen schnell ein und überflog den Bildschirm für einen Moment, bevor sie antwortete: „Das war die Nummer 2021, gefahren von Michael Garmond. Der Bus hält dreimal an, bevor er um viertel vor zehn zu derselben Bushaltstelle zurückkehrt.“

„Wir müssen mit Mr. Garmond sprechen“, sagte Mackenzie. „Könnten wir bitte seine Kontaktdaten bekommen?“

„Sogar noch viel besser“, erwiderte Mrs. Percell. „Michael ist gerade in der Werkstatt und macht für heute Feierabend. Lassen Sie mich nachschauen, ob ich ihn noch erwische.“

„Danke“, entgegnete Mackenzie.

Mrs. Percell huschte durch die Tür zur Werkstatt mit einer Geschwindigkeit, die nicht zu ihrem Umfang passte. Mackenzie und Bryers beobachteten, wie sie auf der Suche nach Michael Garmond erfahrenen Schrittes durch die Werkstatt ging.

„Wenn nur jeder dem FBI so gerne helfen würde“, bemerkte Bryers grinsend. „Vertrauen Sie mir…gewöhnen Sie sich nicht daran.“

In weniger als einer Minute kehrte Mrs. Percell gefolgt von einem älteren, afroamerikanischen Mann zurück. Er schaute müde aus, aber genau wie Mrs. Percell schien er sich darüber zu freuen, helfen zu können.

„Hi Leute“, sagte er mit einem müden Lächeln. „Wie kann ich euch helfen?“

„Wir brauchen Informationen über eine Frau, die vor drei Tagen um zwanzig vor acht Uhr morgens an der Ecke Carlton und Queen Street in Ihren Bus gestiegen ist“, erklärte Mackenzie. „Glauben Sie, Sie können uns weiterhelfen?“

„Wahrscheinlich“, erwiderte Michael. „Morgens steigen dort nicht gerade viele Menschen ein. Es sind nie mehr als vier oder fünf.“

Bryers holte sein Handy hervor und tippte ein wenig darauf herum, bis er das Foto von Susan Kellerman fand. „Das ist sie“, sagte er. „Kommt sie Ihnen bekannt vor?“

„Ja, auf jeden Fall“, antwortete Michael, obwohl er in Mackenzies Ohren ein wenig zu aufgeregt klang. „Süßes Mädchen. Sie ist immer sehr nett.“

„Wissen Sie noch, wo sie vor drei Tagen ausgestiegen ist?“

„Na klar“, erwiderte Michael. „Ich dachte mir schon, dass das seltsam ist, weil sie seit etwa zwei Wochen jeden Morgen an einer anderen Bushaltestelle ausgestiegen ist. Ich habe mich einmal ein wenig mit ihr unterhalten und herausgefunden, dass sie von der Bushaltestelle, an der sie normalerweise immer ausstieg, zwei Blocks zu dem Büro laufen muss, in dem sie arbeitet. Aber vor drei Tagen stieg sie am Bahnhof aus. Ich sah, wie sie in einen anderen Bus einstieg und hatte gehofft, dass sie vielleicht einen besseren Job oder so bekommen hatte, weshalb sie eine andere Route nahm.“

„Wo war das?“, fragte Mackenzie nach.

„Dupont Circle.“

„Um wie viel Uhr stieg sie dort etwa aus?“

„Wahrscheinlich um viertel vor neun oder so“, antwortete Michael. „Auf keinen Fall später als neun.“

„Das können wir überprüfen“, sagte Mrs. Percell.

„Das wäre großartig“, warf Bryers ein.

Mrs. Percell ging zurück zu dem kleinen, schmuddeligen Schreibtisch, während Michael die Agenten mit tristem Gesichtsausdruck anschaute. „Ist ihr etwas Schlimmes zugestoßen?“, wollte er wissen.

„Ja“, erwiderte Mackenzie. „Es wäre also großartig, wenn Sie uns etwas über die Frau an diesem Morgen erzählen könnten.“

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