Mord beim Gloriasingen

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Mord beim Gloriasingen
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Mord beim Gloriasingen

1  Über dieses Buch

2  Disclaimer

3  Widmung

4  Impressum

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50  Über die Autorin:

Mord beim Gloriasingen

Ein weihnachtlicher Regional-Krimi

Weihnachten in der bezaubernden Fachwerkstadt Soest. Tausende Zuschauer lauschen andächtig dem stimmungsvollen Gloriasingen am mittelalterlichen Marktplatz, als ein schrecklicher Selbstmord passiert. Oder war es Mord? Kann Nicholas Reeves, englischer Privatdetektiv und zufälliger Zeuge, den Fall lösen? Die Verstrickungen führen ihn bis ins Berlin der 20er Jahre und in ein lang gehütetes Familiengeheimnis.

Disclaimer

Alle Personen in diesem Roman sind erfunden – bis auf die erwähnten Gastronomen und ihre Lokale. Darüber hinausgehende Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig. Die Orte sind jedoch authentisch und einen Besuch wert.

Widmung

Für die Berlinerinnen Jenny Guthke, Frieda Lange und Karin Diessner

- Rest in Peace

Impressum

Texte: © Copyright by Birgit Davidian

Umschlag: © Copyright by Heike Schön, www.3verben.de

Verlag: Birgit Davidian, Teichsmühlengasse, 59494 St, Email: birgit.davidian@outlook.de

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

1

Söst? So-est? Soost!

Slogan des Stadtmarketings zur korrekten Aussprache des Ortes dieser Handlung

Schnee fiel in dicken Flocken auf die kleine Stadt Soest. Das mittelalterliche Flair der verwitterten Grünsandsteinmauern zog - wie jedes Jahr - Menschenscharen in die pittoreske Fachwerkstadt. Erwartungsfroh schoben sie sich über das Kopfsteinpflaster der engen Gassen, angelockt vom Gesang des elektronischen Elchkopfs, der sich über einem der größeren Glühweinstände erhob. Mit den Augenlidern klappernd, die rotbraune Fellschnauze hin- und herschwenkend, begrüßte er wie jedes Jahr - kurioserweise mit holländischem Akzent - die Marktbesucher mit launigen Sprüchen und Liedern: Das untrügliche Zeichen für die Eröffnung des Weihnachtsmarktes. Inmitten der Altstadt mit ihren sieben im Wettstreit läutenden Kirchen, verführte er zuverlässig zu übermäßigem Glühweinkonsum. Vom Marktplatz aus strömten die Besucher weiter durch die nach Nadelbäumen duftende Mariengasse. Der Rindenmulch am Boden des Petrikirchhofs dämpfte die Geräuschkulisse und schuf eine romantische Atmosphäre. Warm mit Mützen und Handschuhen eingepackte Liebespaare umarmten sich. Anwohner und Touristen bestaunten das mit Lichterketten dekorierte zinnoberrote Rathaus. Freunde standen an den zu Tischen umfunktionierten Weinfässern, gaben sich der Feuerzangenbowle hin, lachten und freuten sich auf die Weihnachtszeit.

Einsam im Gedränge stand Nicholas Reeves, in der Rechten ein Spießbratenbrötchen, in der Linken einen Glühwein und auf der Skijacke einen Spritzer Soße.

„Immer das gleiche, wenigstens hab ich nicht den guten Mantel angezogen.“ dachte er, als auch noch sein Telefon klingelte. Schnell kippte er den Glühwein hinunter, steckte die Tasse in die verbeulte Jackentasche und ging ran.

“Hello Mum. I´m sorry, I´m not sure yet about Christmas. What? No, I can´t hear you. What? Listen, I´ll call you back tomorrow, okay? Bye.”

Damn it, sie rief immer in den unmöglichsten Momenten an. Außerdem nannte Sie ihn beharrlich wie als Dreijährigen noch immer Nicky, obwohl ihn alle Freunde Nick riefen. Er müsste sich nun endlich entscheiden und ihr Bescheid sagen: Sollte er Weihnachten daheim in England bei seinen Eltern verbringen? Es würde wieder auf lästige Fragen zu seinem Single-Dasein und seiner fragwürdigen Berufstätigkeit als Privatdetektiv hinauslaufen. Bestimmt wäre sein Bruder Ted wieder da, der Angeber, in feinem Anzug, und würde von seinem wichtigen Job als Banker schwätzen. Hier wäre es doch deutlich entspannter und stressfreier. Er könnte in Jason´s Pub feiern. Sicher würde er dort auch einige alte Kumpels von der Army treffen, die sich auch vor der Heimreise drückten. Statt gefülltem Truthahn würde es dann eben Bulmers Cider und Bacon-Sandwich geben.

2

„Die weihnachtlich gestalteten Billigpreis-Tickets gibt es in allen DB-Reisezentren“

Deutsche Bahn

Eva Schneider war froh über ihre Entscheidung: Statt ewig im Stau zu stehen, hatte sie den ICE genommen. Ein Glück, dass es endlich diese neue Anbindung gab: Berlin – Soest in 3,5 Stunden. Unschlagbar schnell und entspannt würde sie in ihrer Heimatstadt ankommen. Wie jedes Jahr an Kirmes und Weihnachten – dies waren die unveränderlichen Koordinaten aller Exil-Soester. Zur Allerheiligenkirmes traf man alte Freunde wieder, zu Weihnachten die Verwandtschaft. Zehn Jahre lebte sie nun schon in Berlin, aber war dadurch trotzdem immer auf dem Laufenden über die wesentlichen Ereignisse im Leben der Bewohner der „heimlichen westfälischen Hauptstadt“. Wie es wohl wäre, einmal Weihnachten in Berlin zu feiern? Nach der Trennung von Tom war Ihre Hoffnung auf Gründung einer eigenen Familie leider in weite Ferne gerutscht. Sie hatte schon unzählige Einladungen ihrer Freunde ausgeschlagen, die regelmäßig ohne Familie feierten und fantastische Menüs daheim zauberten. Wie viel amüsanter wäre das im Vergleich zur ewig gleichen Schneiderschen Weihnacht: Mama wäre wie immer fleißig bemüht, so etwas wie Gemütlichkeit zu schaffen durch schwer erträgliche Musik, sicher Helene Fischers Weihnachtskonzert oder so, und stünde seit morgens schwitzend in der Küche. Papa, ganz der Patriarch, würde sich nicht vom Fleck rühren und die ganze Zeit bedienen lassen. Und Tante Herta, so gern sie sie eigentlich hatte, würde doch unweigerlich an den Punkt kommen, an dem sie Papa Vorhaltungen machen würde, wie ungerecht das Leben sei. Meistens endete es dann in einem lautstarken Streit, den Mama verzweifelt zu schlichten versuchte, natürlich erfolglos, bis Herta türknallend das Haus verließ. Frohe Weihnachten!

 

3

„Driving home for Christmas, I can´t wait to see those faces”

Chris Rea

Unschlüssig saß Nick bereits bei seiner dritten Tasse Twining´s Darjeeling, den Blick über die im Zimmer verstreuten Klamotten sowie den offenen Koffer schweifend. Er wollte nicht wirklich packen, hatte aber keine gute Ausrede und ein schlechtes Gewissen seinen Eltern gegenüber, die ihn höchstens einmal im Jahr sahen. Er hatte auch noch keine Geschenke gekauft, dabei war heute schon Heiligabend. Gut, dass daheim in England erst am Boxing Day die Geschenke ausgepackt werden.

„Reicht also, wenn ich morgen früh losfahre und mittags die Fähre von Calais nach Dover nehme.“ sagte er sich.

Dann könnte er heute sogar noch zum Gloriasingen gehen. Eigentlich hielt er nicht viel von Traditionen, aber Clarissa hatte ihn letztes Jahr mitgenommen und er war selbst erstaunt über die eigentümliche Faszination, die der Brauch bei ihm ausgelöst hatte: Die Stille und Dunkelheit standen ganz im Kontrast zum sonst so lauten und glitzernden Weihnachtsgehabe. Vielleicht würde er Clarissa dort treffen? So klein Soest auch ist, waren sie sich doch kaum über den Weg gelaufen das letzte Jahr. Er hatte gehört, dass sie mit jemandem gesehen wurde, offensichtlich intimer vertraut. Was immer das heißen mochte. Auf jeden Fall würde er aber jetzt Geschenke kaufen: Zuerst eine Flasche des traditionellen Soester Kaffeelikörs namens „Bullenauge“. Sein Vater grunzte immer vor Freude beim Eintröpfeln der frischen Sahne in den dunkelbraunen Likör, so dass das weiße im Auge des Bullen zum Vorschein kam. Und einen Weihnachtslikör beim Soester Brauhaus „Zwiebel“ am Markt, wie jedes Jahr.

4

„Gloria in excelsis Deo"

Bereits seit über 300 Jahren versammelten sich die Soester an Heiligabend vor der „Alden Kerke“, der ältesten Kirche Westfalens aus dem 8. Jahrhundert, offiziell St. Petri, um dem Gloriasingen beizuwohnen. Nun war es wieder so weit: Schon kurz vor 19 Uhr! Obwohl weit mehr als tausend Menschen am Petrikirchhof eingetroffen waren, hörte man nur ein Wispern. Weitere Hundertschaften schlichen schweigsam durch die stockfinsteren Gassen auf die mächtige Kirche aus dem - nur in Soest zu findenden – typischen Grünsandstein zu. Die vollkommene Verdunkelung des Platzes war Tradition und sollte die absolute Konzentration auf den Chorgesang unterstützen. In der Eiseskälte leuchtete nun neben dem Sternenhimmel nur die Kirchturmspitze: Auf der barocken Balustrade unterhalb des Zwiebelturms hatten sich vier Bläser und zahlreiche Chorkinder versammelt, jedes zweite hielt eine Laterne. Die Spannung stieg, als endlich der erste Schlag der Kirchenglocke ertönte. Nach sieben Schlägen erklangen die Posaunen. Dann endlich sang der Kinderchor "Gloria in excelsis Deo“ in Anlehnung an das Weihnachtsevangelium von Lukas und danach "Dies ist der Tag, den Gott gemacht" von Christian Fürchtegott Gellert. Nach jeder Strophe kehrte wiederum Stille ein, da Bläser und Sänger jeweils auf die andere Seite des Turms rückten, damit der weihnachtliche Lobpreis in alle vier Himmelsrichtungen gesungen würde.

Nick stand am Rande der Menschenmenge. Weit und breit kein bekanntes Gesicht. Er hatte vergeblich gehofft, Clarissa zu treffen, es war sogar derart dunkel, dass er selbst seine eigene Mutter nicht erkannt hätte. Was tat er hier überhaupt? Eigentlich mochte er keine Chormusik. Der kleine Junge neben ihm schien sich auch zu langweilen, löste sich von der Hand seiner Mutter und machte Anstalten, wegzulaufen. Dabei rempelte er Nick an, worauf er von seiner Mutter streng ermahnt und eingefangen wurde. Eine Gruppe chinesischer Touristen hielt ihre Selfie-Sticks in die Höhe.

Nun begann endlich die zweite Strophe. Alle starrten wieder andächtig empor. Der sonst so harmonische Gesang klang plötzlich holprig und die getragenen Kerzen auf dem Turm wackelten unruhig im Geschiebe auf der engen Turmbrüstung. Nick versuchte genauer hinzuschauen, aber die Turmspitze war zu weit entfernt und zu dunkel. Plötzlich erschall ein hektisches Rufen vom Turm. Ein Schatten schob sich durch die Streben der Brüstung, fiel vor dem Turm hinunter, prallte am Vordach ab und stürzte weiter. Wie in Zeitlupe sah die Gemeinde mit angehaltenem Atem, wie die Gestalt mit einem dumpfen Geräusch am Boden aufschlug. Nur wenige Fassungslose erkannten im Dunkel die Umrisse der zartgliedrigen, alten Frau. Ihre verdrehten Gliedmaßen waren zerschmettert. Langsam sickerte ihr dunkelrotes Blut auf das Kopfsteinpflaster. Einer der Zuschauer in vorderster Reihe, ein Lehrer vom Archigymnasium, neigte sich über den auf dem Bauch liegenden Leichnam, machte die Lampe seines Handys an und rief: „Das ist doch Herta Schneider, oh mein Gott! Die Chorleiterin!“

Das hysterische Schreien und Weinen der Chorkinder und Zuschauer übertönte den Klang der zerberstenden Posaune, die einem der Bläser aus der Hand gefallen war.

Dann setzte das ohrenbetäubende Glockengeläut des Doms ein, gefolgt von allen anderen Soester Kirchen.

Nick schob sich durch die Menschenmenge, hin zum Ort des Geschehens. Solange die Polizei nicht alles absperrte, würde er wachsam sein. Wer wusste schon, wozu es nützlich sein konnte. Immerhin war er als Privatdetektiv sicher ein besonders aufmerksamer Zeuge. Er prägte sich den ersten Eindruck ein, den das Opfer auf ihn machte. Sie musste sofort tot gewesen sein, bei der Höhe. In der Dunkelheit konnte er aber kaum etwas erkennen, zumal die Dame einen dicken Mantel trug. Dann bezog Nick Position zwischen Opfer und Kircheneingang und beobachtete die Reaktionen der Passanten. Bis der Chor vom Turm herunterkam, würde es noch dauern, zu steil war der Abstieg. Menschen liefen kreuz und quer über den Platz, vor allem Familien mit kleinen Kindern wollten diesen Ort des Schreckens so schnell wie möglich verlassen. Andere jedoch, insbesondere Jugendliche und Touristen, brannten darauf, dieses Spektakel für die Nachwelt festzuhalten und filmten mit ihren Handykameras die Panik und die Tote. Das öffentliche WLAN-Netz brach fast zusammen, als die Anwesenden ihre Facebook-Accounts mit Fotos und Statusmeldungen über ihre persönliche Sicherheit und einen vermeintlichen Terroranschlag aktualisierten. Dann hörte man das Herannahen der Polizeisirenen.

5

„Stille Nacht, heilige Nacht“

Das hatte ihm gerade noch gefehlt: Heiligabend auf Einsatz! Seine Frau hatte schon den Braten in der Röhre und war stinksauer. Die Kinder würden die Bescherung dieses Jahr ohne ihn erleben. Kommissar Meik Schulte war zunächst zum Tatort gefahren, wo glücklicherweise die Kollegen bereits alles abgesperrt hatten. Viel war nicht zu tun, er überließ jetzt der Spurensicherung das Feld, um die Angehörigen zu befragen. Die Nichte des Opfers war am Tatort so aufgelöst gewesen, dass man sie erstmal nach Hause geschickt hatte. Er parkte vor einem imposanten Flachbau. Das rötliche Ziegelmauerwerk und die große Eingangsüberdachung hoben sich stark von den umstehenden Häusern ab. Nachdem er geklingelt hatte, öffnete ihm ein älterer Herr.

„Schulte, Kripo Soest. Entschuldigen Sie die Störung, aber ich muss Sie und Ihre Familie zu dem tragischen Todesfall am Petrikirchhof befragen. Darf ich reinkommen?“

„Aber sicher, Sie müssen ja Ihre Arbeit erledigen.“ sagte der behäbige Mann und trat zur Seite.

„Sie sind Heinz Schneider, der Bruder der Toten?" fragte Schulte.

„Ja, so ist es, es ist schrecklich, wir sind alle noch fassungslos über dieses Unglück. Wie konnte sie nur runterstürzen? Furchtbar. Marlies, machst du mal Kaffee für den Kommissar? Sie möchten doch Kaffee?“

„Ja, sehr gerne, es ist zwar schon spät, aber Kaffee fördert ja bekanntermaßen das Denkvermögen, nicht wahr?“ setzte er schmunzelnd hinzu, froh über das Angebot. Wenigstens höfliche Leute, da hatte er ja meistens mit ganz anderer Klientel zu tun: Den ganzen Kleinkriminellen und Banden, die Soest im letzten Jahr einen achtzig prozentigen Anstieg der Wohnungseinbrüche beschert hatten. Sie machten sich den Umstand zunutze, dass Soest und einige umliegende Dörfer direkt an der A44 lagen. Schon im Mittelalter eine bekannte Handelsstraße und Zubringer für Pilger des Jakobswegs, diente der „westfälische Hellweg“ nun als schneller Fluchtweg nach Osteuropa.

„Sie und Ihre Nichte waren ja Zeugen des Unfalls, deshalb habe ich einige Fragen. Ist Ihre Tochter inzwischen wieder ansprechbar?“

„Na ja, es wird schon gehen. Marlies, hol Eva von oben und gib ihr einen Cognac, damit sie sich endlich beruhigt.“

„Ihre Frau war nicht mit beim Gloriasingen?“

„Nein, die hatte ja die Gans im Ofen. Normalerweise wäre ich auch nicht hingegangen, aber unsere Tochter Eva ist gerade zu Besuch und hatte sich darauf gefreut. Wir haben früher immer Weihnachten so gefeiert: Erst zum Gloriasingen, dann haben wir Tante Herta mit zu uns genommen zum Essen und zur Bescherung. Sie hatte ja sonst niemanden, wissen Sie? Keinen Mann, keine Kinder. Außer natürlich den Chor-Kindern. Sie war ja schon viele Jahre Chorleiterin.“

„Das heißt, sie hat auf dem Turm den Chor dirigiert?“

„Ja, sicher. Jedes Jahr zu Weihnachten war sie auf dem Petrikirchturm. Sie hatte wohl schon oft erzählt, wie schwer ihr der Treppenaufstieg fiel, sie war ja nicht mehr die Jüngste…“

„73?“ sagte Schulte mit Blick auf sein Notizbuch.

„Genau. Der Chor war ihr Ein und Alles, dafür hat sie gern die Strapazen in Kauf genommen: Jede Woche Chorprobe im Archigymnasium und Sonntag in der Petrikirche. Und eben die steilen Treppen einmal im Jahr. Wenn man sonst nie Treppen steigt, schafft man das halt nicht.“

Marlies Schneider brachte den Kaffee.

„Guten Abend, Herr Kommissar. Milch und Zucker? Entschuldigen Sie, meine Hände zittern richtig, es ist grauenvoll, was mit Herta passiert ist.“

„Setzen Sie sich doch bitte zu uns, Frau Schneider.“ sagte Schulte.

„Was ist denn jetzt mit Eva? Eva! Komm runter!“

„Sie macht sich nur nochmal frisch, war ganz verweint, das arme Ding.“

„Wie war denn Ihr Verhältnis zu Ihrer Schwester beziehungsweise Ihrer Schwägerin?“ fragte Schulte.

Marlies antwortete: „Gut natürlich, sie war jeden Mittwoch bei uns zum Kaffee. Sonst hatte sie ja keine Familie.“

„Ja, das sagte ich schon. Ich arbeite ja immer noch in unserer Apotheke, deshalb habe ich sie nur selten gesehen, also eben ganz normal zu Geburtstagen, Feiertagen. Oder natürlich in der Apotheke. Sie war ja ständig krank. Hat auch Antidepressiva genommen. Hat aber wenig genützt.“

„Jetzt hör doch auf, Heinz.“ versuchte Marlies ihren Mann zu bremsen.

„Wieso, der Herr Kommissar will doch alles genau wissen, oder? Außerdem ist das wichtig. Herta war ja schon lange unglücklich mit ihrem Leben.“

„Wie meinen Sie das?“ setze Schulte nach.

„Ach, sie hat eben nichts erreicht im Leben. Als ich die Apotheke unseres Vaters übernommen habe, hatte ich ihr sogar eine Anstellung angeboten, aber sie wollte ja nicht. Hat keinen Mann abbekommen, und dann diese unmögliche Tändelei mit dem Pfarrer, da hat sie sich doch nur lächerlich gemacht.“

„Sie wollen behaupten, Ihre Schwester hatte eine… äh… Affäre mit dem Pfarrer der Petrikirche?“

„Das ging schon viele Jahre, was sie sich da eingebildet hat, werde ich nie begreifen. Der ist doch ein Mann Gottes, und jünger noch dazu. Sie hat ihn ja regelrecht „gestalkt“ oder wie man das nennt.“

„Papa, wie redest du denn?“ Mit verquollenen Augen und brüchiger Stimme stellte sich Eva vor.

„Kannst Du nicht wenigstens jetzt, wo sie tot ist, einmal aufhören, schlecht über Tante Herta zu sprechen? Immer dieser Streit, und jetzt ist sie tot. Tot!“

Wieder brach sie in Tränen aus.

 

„Wie eng war denn Ihr Kontakt zu Herta Schneider, schließlich leben Sie ja nicht in Soest, wie ich höre, da haben Sie sich sicher nicht sehr nahe gestanden?“ fragte der Kommissar Eva Schneider.

„Ich bin damals zum Studium nach Berlin gezogen und lebe seither dort, aber ich telefoniere, ich meine telefonierte jede Woche mit Tante Herta, immer Sonntags. Erst mit Mama, dann mit Tante Herta.“

„Gut. Herr Schneider, Sie sagen, Herta Schneider war depressiv? Glauben Sie denn, sie hatte Selbstmord-Absichten?“

„Ach Gott, was weiß ich schon, was in ihr vorging, aber sie war schon als Kind kränklich und aufsässig und das hat sich ihr Leben hindurch nur verschlimmert. Immer wenn ich sie sprach, war sie übellaunig, hat ihren Weltschmerz ausgewalzt.“

„Was heißt denn hier Weltschmerz? Sie konnte eben nie verwinden, dass Opa so ungerecht zu ihr war und dich immer bevorzugt hat. Aber sie war doch nicht depressiv.“ schrie Eva dazwischen, den Tränen nah.

„Kind, jetzt reg dich doch nicht auf.“ Marlies versuchte ihre Tochter zu umarmen, die ungläubig zwischen Meik Schulte und ihrem Vater hin und her blickte.

„Sie hat sich doch nicht vom Turm gestürzt. Jemand muss sie gestoßen haben. Wer war denn außer den Kindern noch oben? Haben Sie die Bläser befragt?“

„Wir haben natürlich von allen die Personalien aufgenommen.“ entgegnete Schulte ungeduldig.

„War denn die Balustrade beschädigt? Die ist ja uralt und vielleicht nicht mehr sicher? Und was ist mit Fingerabdrücken?“ fragte Eva.

„Das prüfen wir natürlich alles. Aber wissen Sie, auf dem verwitterten Grünsandstein wird das schwierig. Außerdem ist über die Feiertage das Labor schlecht besetzt, das wird dauern. Aber wir haben ja jede Menge Zeugen, da ist das kein Problem. Machen Sie sich mal keine Sorgen.“

„Siehst Du, Kind, lass den Herrn Kommissar nur seine Arbeit machen. Möchten Sie vielleicht etwas Gänsebraten essen? Es gibt auch Rotkohl und Klöße.“ warf Marlies etwas unpassend ein.

„Oh, vielen Dank, zu freundlich, aber meine Frau wartet zu Hause. Ich glaube, ich habe Sie lange genug aufgehalten.“

„Haben Sie eigentlich schon Hertas Wohnung überprüft? Ich habe einen Schlüssel für Notfälle, den gebe ich Ihnen gerne.“

„Das ist ja ausgezeichnet, besten Dank!“ erwiderte Schulte. Vielleicht würde er ja doch um eine langwierige Mordermittlung herumkommen. Freudig erregt ob der Aussicht auf einen schmackhaften Weihnachtsbraten fuhr er heimwärts.