Wolfsengel

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Wolfsengel
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Betty Zehner

Wolfsengel

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

1. Teil: Rothwald - Der Traum

2. Teil: Kapitall - Wirklichkeit und Täuschung

3. Teil: Verbotene Liebe?

4. Teil: Das Felsengebirge - Gefängnis des ewigen Lebens

5. Teil: Verwandlung - Engel fallen

6. Teil: Rückkehr oder Flucht

7. Teil: Liebe verleiht Flügel

Impressum neobooks

Widmung

Für Andreas und Anela. Ihr seid die Liebe meines Lebens.

Und für Beatrice. Meine Seelenschwester.

Von dir zu mir, von mir zu dir ist eine Brücke geschlagen. Wir beide setzen einen Fuß auf sie, wir trauen ihr, sie wird uns tragen. o So nimm denn meine Hände und führe mich, bis an mein selig Ende und ewiglich. Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt, wo du wirst gehen und stehen, da nimm mich mit.

Julie von Hausmann

1. Teil: Rothwald - Der Traum

Der Schnee knirschte unter den Stiefeln der Männer und den Hufen der Pferde. Der Atem schien in der eisig kalten Luft gefrieren zu wollen. Die Äste der dicht stehenden Bäume hingen tief herab, hinunter gedrückt von der Schwere des Schnees, die auf ihnen lastete. Sie mussten sich mühsam einen Weg durch die dunkle Winternacht bahnen. Das unwirkliche Leuchten des weißen Schnees war das einzige Licht, das sie hatten. Dunkelheit, Kälte und dazu ein Pfad, der kaum zu erkennen war, machten die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass diese überschaubare Gruppe im Schutz einer Ansiedlung ankommen würde, bevor sie den grausamen Tod in der Kälte finden würde. Doch keiner der Mitglieder wirkte verzweifelt, nervös, noch nicht einmal unruhig. Ihr Anführer, in einen dicken Mantel aus Fellen gehüllt, den Kopf unter einer großen Kapuze verborgen, leitete sie ohne Zögern durch den tief verschneiten Wald. Kein einziges Mal hielt er an, um sich nach dem richtigen Weg zu vergewissern, auch drehte er sich nie nach seinen Gefährten um. Ab und zu blähte sein Pferd die Nüstern und begann unruhig zu tänzeln, doch jedes Mal beruhigte er es, indem er ihm sanft seine Hand auf den Hals legte.

In dieser trostlosen Winterwelt spielte Zeit keinerlei Rolle. Niemand hätte sagen können, wie lange sich die Gruppe bereits durch den Wald kämpfte, noch wie lange sie sich noch weiter würden kämpfen müssen oder können. Doch endlich standen die Bäume weniger dicht und das Ende des Waldes war zu erkennen. Es wurde immer heller. In der Ferne waren bereits Lichter zu sehen. Es dauerte nun nicht mehr lange und sie hatten ihr Ziel endlich erreicht. Als sie schließlich die Unwirtlichkeit des Waldes hinter sich gelassen hatten, lagen sanfte, weiße Hügel vor ihnen. Der Schnee glitzerte wie tausende Diamanten. Hoch am Himmel schien ein Mond halbförmig vom sternenklaren Himmel. Auf dem höchsten Hügel stand ein bewehrtes Schloss. Sechs riesige Türme ragten in die tintenblaue Nacht hinauf.

Ohne Eile bahnten sich die Reiter ihren Weg über einen steilen Pfad hinab, der sie darauf über eine Brücke aus dicken, schweren Holzbalken führte. Unter ihnen war das tiefe Rauschen eines Flusses zu hören, der aus den weit entlegenen Bergen kam. Links und rechts am Ufer türmten sich große Schneemassen, so dass der Fluss eher zu hören, als zu sehen war. Nach der Brücke führte der Weg in kleinen Serpentinen nach oben. Dort war ein großes von dicken Mauern eingefasstes Tor zu erkennen. Das Pferd des Anführers strebte eiligst dorthin, doch wenige Meter davor, zog sein Reiter die Zügel an und ließ seine Gefährten vor ihm in den Schutz der Festung reiten. Ein Heulen wurde in der Ferne laut und zum ersten Mal in dieser Nacht drehte sich der Anführer um und blickte zurück zum Wald, aus dem sie gekommen waren. Zwischen den Bäumen tauchte ein Rudel Wölfe auf.

Kurz funkelten die Augen des Anführers rot, als er sich wieder umwandte und in den hell erleuchteten Hof der Burg ritt. Das Tor schloss sich ächzend hinter ihm. Seine Gefährten waren bereits abgestiegen. Sie klopften sich den Schnee von den Mänteln und übergaben ihre Tiere in die Obhut der Stallknechte. Für den anstrengenden Ritt hatten sie sich einen warmen Stall und eine Extraportion Hafer verdient. Die Männer grüßten den Anführer, als dieser durch den Hof zum nächsten Tor ritt, durch das er in einen zweiten größeren Hof gelangte. Dort warteten bereits Knechte und Pagen. Die Knechte ergriffen sofort die Zügel und brachten den Hengst zum Stehen. Doch als sie ihm beim Absteigen helfen wollten, winkte er ab. Behände sprang er aus dem Sattel. Bevor er sich die dunkelbraunen Lederhandschuhe von den langen Fingern streifte, klopfte er seinen Mantel aus. Als er dann die große Kapuze herunter streifte, enthüllte sie eine Pracht dunkelbrauner Locken.

Das Wasser spritzte links und rechts in alle Richtungen, als der weiße Hengst durch die heran tosenden Wellen galoppierte. Das weiße Schloss, das auf einer der hellen Klippen stand, die weit ins türkisblaue Meer hineinragten, schien ihnen bei diesem Tempo entgegen zu fliegen. Der Reiter lenkte nun sein Pferd in Richtung dieser Klippen, wo sich versteckt, vom Strand kaum sichtbar, ein schmaler Pfad hinauf schlängelte. Er führte zu dem wunderschönen Palast aus hellem Stein mit den hinein geschnitzten Ornamenten und gedrehten Türmen. In wahnsinnigem Tempo trieb er den Hengst den Weg hinauf, der nur aus Sand und Steinen bestand. Bei dieser Geschwindigkeit hätte dies über kurz oder lang den Sturz in den sicheren Tod bedeutet. Doch der Reiter kannte den Pfad sehr genau, schließlich ritt er seit Jahren diesen Weg mindestens einmal am Tag. So gelangte er unversehrt an die Spitze der Klippe und zu den Ausläufern eines üppigen, tropischen Parks. Um sandige Wege reihten sich große uralte Bäume, die vor der hoch am Himmel stehenden Sonne Schatten boten. Bunte Blumen und Pflanzen wuchsen überall dazwischen und bildeten dadurch ein scheinbar undurchdringliches Dickicht. Selbst auf den Stämmen der Bäume wuchsen blühende Pflanzen.

Der Reiter zügelte plötzlich sein Pferd und schaute erwartungsvoll in eine Richtung. Dort, wo er hinblickte, begannen langsam die Blüten zu tanzen und die Blätter raschelten. Es dauerte nur kurz, dann tänzelten ein paar Mädchen aus den Büschen und umringten ihn leise singend.

„Dass wir dich nie überraschen können“, schimpfte eines von ihnen und die anderen blieben lachend stehen. „Selbst wenn wir noch so still sind, hörst du uns schon auf eine Meile kommen.“

„Er ist eben anders als Ihr, Euer Majestät“, stichelte ein anderes Mädchen und die anderen stimmten in ihr glockenhelles Lachen ein.

„Aber er ist doch mein Bruder“, protestierte sie gespielt böse.

„Ach, Aleta“, er ritt neben sie, legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie hoch zu sich auf sein Pferd.

„Jeder hat doch seine speziellen Fähigkeiten, meine ist eben mein perfektes Gehör.“

Sie strahlte ihn aus jadegrünen Augen an und ihre zarte Hand berührte sanft eines seiner leicht spitz zulaufenden Ohren.

„An der Form deiner Ohren kann es nicht liegen“, sie lachte hell auf, „denn meine sind wesentlich spitzer als deine.“

Er betrachtete seine Schwester nachdenklich, dann legte er seine Stirn missbilligend in Falten. Aleta trug genau wie ihre Kameradinnen bloß ein knappes Oberteil und einen kurzen Rock. Beide bedeckten gerade so viel, dass der Fantasie noch genüge getan wurde. Sie bestanden aus vielen unterschiedlich großen, wunderschönen, bunten Schmetterlingen, die scheinbar mit jeder Bewegung der Mädchen mit flogen, um einerseits zu necken und andererseits den Mädchen keine Blöße zu geben.

Es kam nicht selten vor, dass der Reiter sie wegen ihrer naiven Unbedarftheit schimpfte und dafür nur ihr ansteckendes Lachen erntete. Somit waren Finnroth und Aleta sich in vielerlei Hinsicht nicht so ähnlich, wie es für Zwillinge normal gewesen wäre.

Das Klirren und Krachen eiserner Schwerter hallte laut durch die ansonsten stillen Gänge. Keuchend warfen sich die beiden Ritter immer wieder gegeneinander. Schweiß tropfte ihnen von der Stirn. Die ledernen Schutzpanzer und die Kettenhemden, die sie darunter trugen, verhinderten, dass sie sich keine schwerwiegenden Verletzungen zufügten. Schließlich drängte der Größere von ihnen, dessen schwarze Haare schon von grauen Strähnen durchzogen waren, den anderen durch eine Reihe schneller, raubtierhafter Bewegungen in die Defensive. Funken flogen von den Schwertern, die immer wieder kraftvoll gegeneinander krachten. Der andere konnte kaum noch seine Deckung halten.

„Halt“, die Stimme durchschnitt unerbittlich das donnernde Geräusch der Waffen und ließ die Männer abrupt inne halten. „Du bringst ihn noch um.“

Der Angesprochene ließ sein langes Schwert sinken und wandte seinen Körper in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Mit seiner behandschuhten Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

 

„Eure Hoheit.“ Der andere ließ sich in eine tiefe Verbeugung nieder und senkte den Kopf.

„Du kannst gehen.“

Sogleich zog er sich aus der Waffenkammer zurück. Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln, als er an ihr vorbei die Treppe hinaufstieg.

Der Ritter legte sein Schwert auf ein Holzgestell, in dem eine ganze Reihe unterschiedlicher Waffen steckten, und begann seine Ausrüstung abzulegen.

„Sie sind dir auf Dauer nicht gewachsen und das weißt du eigentlich auch.“

Als hätte er sie nicht gehört, fuhr er fort seinen mittlerweile entblößten Oberkörper mit einem Tuch trocken zu reiben.

„Du musst deine Kräfte kontrollieren“, tadelte sie ihn, während sie die letzten Stufen hinunterging. Ihre dunkelbraunen Locken schimmerten silberweiß im Licht der Fackeln, ein hellgoldener Reif glitzerte dazwischen.

„Ich wusste gar nicht, dass du wieder zurück bist“, er überging ihren Tadel einfach. Wieder einmal. Als er fertig war, wandte er sie schließlich zu ihr um.

Sie trug ein grüngoldenes Kleid mit dreiviertel langen Ärmeln aus glattem Samt, das eng an ihrem schlanken, sehnigen Körper hinunterfloss und erst ab den Knien weiter wurde und in einer kurzen Schleppe endete. Ihre tiefgrünen Augen funkelten ihn herausfordernd an, als sie zu ihm trat.

„Kein Wunder, hier unten vergisst man Raum und Zeit.“ Sie griff sich mühelos eines der schweren Schwerter aus dem Holzregal und wiegte es prüfend in der Hand. Er grinste breit, wusste er doch ganz genau, was sie vorhatte. Schnell griff er nach seinem Schwert und parierte ihren plötzlich vorschnellenden Angriff.

„Du willst mir wohl eine Lektion erteilen“, spottete er lachend, als er sich blitzschnell wegdrehte und ihre nächste Attacke so ins Leere laufen ließ. Sie drehte sich geschmeidig um und stieß ihre Waffe in einer fließenden Bewegung erst nach vorne und dann zur Seite. Scheppernd fiel sein Schwert zu Boden.

„Überlegenheit bedeutet nicht ungebremste Gewalt, sondern kontrollierter Einsatz der Kräfte.“

Ruhig hob der Ritter seine Waffe auf und legte sie an ihren Platz zurück. Er war geschlagen, das würde er allerdings niemals zu geben. Denn Eron stand in ständiger Konkurrenz mit seiner Schwester.

Der Wind pfiff eisig um die spitzen Türme der Festung und blies hart gefrorene Eiskristalle durch die Luft. In dieser unwirtlichen Gegend mit extremer Kälte und Frost und den steilen kantigen Bergen konnte nicht viel Leben existieren. Doch hoch oben auf einem einzeln in den Himmel ragenden Felsen stand eine Burg, die mit dem Gestein zu verschmelzen schien und den Eindruck erweckte, als wäre sie nicht von Menschenhand gefertigt, sondern aus dem tiefschwarzen Stein herausgewachsen. Die glatten, spitzen Felsen boten keinerlei Möglichkeit, die Feste zu erreichen. Doch das schien auch nicht nötig, denn es gab sowieso kein Tor, das einen Eingang innerhalb der Mauern geboten hätte. Rund um die Felsen stürzten Wassermassen aus viele Meter hohen Fällen im Norden der Festung ins Tal hinab. Gesäumt von hohen Bergen schien es kein Hinein- oder Hinauskommen zu geben. Doch oben auf dem höchsten der vielen Türme stand ein Mann, sein dunkler Mantel wehte heftig im starken Wind. Er zerrte an seiner Kleidung und blies seine Haare wild durcheinander. Aufrecht und ohne jegliche Regung stand der Mann starr wie eine Statue und blickte hinunter ins Tal. Obwohl es für ein menschliches Auge nichts zu sehen gab, schien es, als betrachte er etwas weit entferntes eindringlich. Plötzlich, so blitzartig, dass es kaum wahrnehmbar war, sprang er hinab. Im Bruchteil einer Sekunde landete er im weit unter ihm liegenden Innenhof.

Ein Augenpaar richtete sich aus der dunkelsten Ecke des Hofes auf ihn und eine große, schlanke Frau trat aus dem Schatten der Mauer. Sie trug einen dunklen eng anliegenden Anzug aus Leder, der jede ihrer katzenhaften Bewegungen deutlich zeigte. Das fest geschnürte Mieder entblößte ihre prallen, weißen Brüste. Die hohen Stiefel ließen ihre Beine noch länger wirken.

„Du solltest nicht so trübsinnig sein“, sprach sie ihn mit einer Stimme an, die so verführerisch war, dass sie jeden in ihren Bann zu ziehen vermochte.

„Ich werde erst Ruhe finden, wenn sie mein ist“, entgegnete er mit einem tiefen Grollen. Besänftigend legte sie ihre Hand an seine Brust, ein wohliges Seufzen entfuhr ihr, als sie seine starken Muskeln unter dem fast durchsichtigen weißen Hemd spürte.

„Sie warten bereits auf dich“, teilte sie ihm mit, während sie ihn verführerisch umrundete und ihm den Weg zu einer sich geräuschlos öffnenden Tür wies. Gemeinsam traten sie hindurch auf eine Galerie, an deren Brüstung in kurzen Abständen mit Totenköpfen und Rosen verzierte Leuchten angebracht worden waren. In diesen steckten Kerzen, die den mehrere Meter hohen Saal und seine Kuppel erhellten. Sie umrundeten auf der Galerie den Raum zur Hälfte und als sie auf die Treppe nach unten traten, erhoben sich begeisterte Rufe von mehreren Dutzend Männern und Frauen, die einen Kreis um einen Altar gebildet hatten. Sie waren alle dunkel gekleidet, manche von ihnen trugen schwarze Umhänge und alle hatten sie bleiche, fast weiße Haut. Auf dem Altar lag mit dicken Stricken gebunden ein nacktes Mädchen, dessen blondes Haar sich in sanften Wellen üppig links und rechts über den steinernen Tisch ergoss.

Die vielen tausend Kerzen an den Wänden und auf dem Boden flackerten fast unmerklich auf, als er sich von der Treppe blitzschnell zu dem Mädchen bewegte.

Seine erhobene Hand hielt kurz inne, bevor er sie über ihre Wange bis hinunter zu ihren Brüsten wandern ließ. War es zügellose Gier, die in diesem Moment in seinen Augen aufblitzte? Das Mädchen schien keine Angst zu haben. Wie in Trance blickte sie ihn regungslos an, ihre Brust hob und senkte sich regelmäßig im Rhythmus ihres Atems. Als er sich schließlich in einer plötzlichen Bewegung über sie beugte und ihr Körper wie elektrisiert hoch zuckte, brachen die Versammelten erneut in begeisterten Jubel aus.

Der große Thronsaal, der komplett aus weißem Marmor bestand und mit goldenen Ornamenten geschmückt war, war nach allen Seiten hin offen. Große Flügeltüren ließen den Wind hereinströmen, der den von der Sonne erhitzten Saal, angenehm kühlte.

Aleta tänzelte leichtfüßig über den mit bunten Bildern verzierten Boden. Dieses Mal trug sie ein hauchdünnes zart rosa Kleid, das leicht ihren Körper umspielte. Schmetterlinge hatten sich dazu, wie als Schmuckelement, auf dem linken Träger ihres Gewandes versammelt und zeigten durch langsames Schlagen ihrer Flügel, dass es sich um Lebewesen handelte. Versonnen hielt sie schließlich in ihrem Tanz inne und betrachtete nachdenklich ein Gemälde, das eine Karte der anderen Länder darstellte. Im Süden lag Thaliyand, ihre Heimat, daran angrenzend im nördlicheren Westen das Land der Wolfsherzen, in der Mitte das unabhängige Kapitall, im nördlicheren Osten das Land der Freibeuter mit dem großen Schwarzsee, der fast die Fläche eines Meeres einnahm und schließlich ganz im Norden jenseits der nördlichen nordischen Wälder, welche die natürliche Grenze zum Land der Wolfsherzen darstellte, das Felsengebirge.

„Ich möchte das alles einmal sehen und die Menschen, die dort leben kennen lernen“, sagte sie und wandte sich ihrer Mutter und deren Gefährten zu, die gemeinsam auf den großen pinken und grünen Kissen aus Seide lagen, die anstelle eines Throns auf einer Erhöhung im südlichen Teil des Saales angeordnet waren.

Erschreckt setzte sich Königin Lilijana auf.

„Nein“, ihr bestimmender Ton ließ keinen Widerspruch zu, „es gibt keinen Grund, dass du das alles erfahren sollst. Hier ist der Ort, an dem du hingehörst, der dir alles bietet, was du brauchst und der dir Glück und Zufriedenheit beschert.“

Leichtfüßig eilte sie zu ihrer Mutter und ließ sich zu deren Füßen auf eine Treppenstufe sinken. Die Schmetterlinge waren durch ihre Eile in Bewegung geraten, so dass sie sich jetzt erst einmal wieder auf ihrem Kleid ordnen mussten.

„Aber findet Ihr es denn nicht traurig, dass wir so wenig Kontakt zu den anderen haben? Wir könnten sicher viel voneinander lernen.“

Lilijana wechselte einen viel sagenden Blick mit Fayn, ihrem Gefährten.

„Es hat gute Gründe, dass wir uns von den anderen absondern. Es reicht vollkommen aus, dass König Karlus beim Sommersonnwendfest zum jährlichen Austausch zu uns kommt. Außerdem ...“

Sie wurde unterbrochen von Finnroth, der in voller Rüstung, seinen Helm unterm Arm, den Thronsaal betrat.

„Ich werde mit Faramin und Sandro die Grenzen abreiten. Wir sind zum Abendrot wieder zurück.“

Er verneigte sich kurz und verschwand so schnell, wie er gekommen war.

„Wieso darf er zumindest einen Blick in die mir so fremden und interessanten Länder werfen und ich muss hier im Palast bleiben?“ Trotz ihrer siebzehn Jahre wirkte die Prinzessin in diesem Moment wie ein trotziges Kind.

Lilijana strich ihrer Tochter versöhnlich über die hellbraunen Locken, die in der Sonne golden schimmerten.

„Weil dein Bruder durch seine besonderen Fähigkeiten Eindringlinge entdecken kann, bevor er selbst entdeckt werden würde. Dazu ist er einer der besten Ritter, die wir haben und wir können froh sein, dass er immer für unsere Sicherheit sorgen wird.“

Die Königin küsste Aleta die Stirn. „Wir haben hier doch alles, was wir uns nur wünschen könnten. Ein schönes Zuhause, den Strand, das Meer. Wir haben das ganze Jahr Sonnenschein und Früchte im Überfluss. Glaube mir, mein Kind, der Rest der Welt ist nicht erstrebenswert erkundet zu werden.“

Tausende von Kerzen in den Kronleuchtern an der Decke und in den kunstvoll geschmiedeten Lüstern an den Wänden tauchten den großen Saal in warmes goldenes Licht. Die schweren Damastvorhänge vor den bis zum Boden reichenden großen Sprossen-Fenstern sperrten die eiskalte Winternacht hinaus und machten die Menschen drinnen vergessen, dass die Kälte draußen alles totengleich erstarren ließ.

Die besten Musikanten aus dem ganzen Land waren gekommen und hatten ihre wertvollen Instrumente an einem der kurzen Seiten des rechteckigen Saales aufgebaut. Ihre Klänge brachten die Gäste, die bereits eingetroffen waren, in eine heitere Stimmung.

Weine, weiß und rosé, aus den besten Anbaugebieten rund um Kapitall sollten ihr Übriges tun, ein rauschendes Fest zu veranstalten. Die ganze Woche waren Vorkehrungen getroffen worden. Sämtliche Gänge, Flure und Winkel im gesamten Schloss waren auf Hochglanz gebracht worden, auch jene Ecken, in die sich sicherlich keiner der Gäste jemals verirren würde. Feinste Stoffe, edle Gefäße und teure Teppiche waren angeliefert und an den rechten Platz gerückt worden. Doch der Höhepunkt war die mehrere Meter hohe tiefgrüne Benedictus-Fichte, die in der Mitte des Saales stand und mit Sternen, Kristallen und Figuren aus Glas und Zinn sowie mit Kerzen geschmückt war. Diese Tradition ging auf König Benedictus zurück, einem der ersten Könige Rothwalds. Eines harten Winters, als die Welt herum erstarrt zu sein schien und viele Menschen und Tiere starben, weil sie erfroren oder verhungerten, sollte es für die Wolfsherzen noch schlimmer kommen. Plünderer suchten Rothwald heim. Keiner wusste woher sie kamen, doch sie verwüsteten die Dörfer und nahmen den Menschen das Wenige, was sie zum Überleben noch hatten. Der harte Winter hatte auch vielen Soldaten das Leben gekostet und so war das militärische Aufgebot des Königs den Plünderern zahlenmäßig unterlegen. Da geschah es, dass die Wölfe aus den Wäldern den Wolfsherzen zu Hilfe kamen. Mensch und Tier gemeinsam vertrieben die Plünderer aus Rothwald. Und seitdem waren nie mehr Fremde ins Land eingefallen. Zum Dank für die Hilfe erließ Benedictus ein Gesetz, das die Wölfe schützte. Nicht vor den eigenen Leuten. Das war nicht notwendig, denn die Menschen und die Tiere von Rothwald verband jeher eine unergründliche Verbundenheit. Das Gesetz, das in der unabhängigen Stadt Kapitall für jeden als geltend festgeschrieben wurde, besagte, dass ein Wolf in Rothwald weder gejagt, noch gefangen, noch getötet werden dürfte. Zur Ehre der Wölfe und des Waldes und zur Erinnerung an die Rettung wurde jedes Jahr im Winter ein Fest gefeiert, an dem diese Fichte aufgestellt und geschmückt wurde. Doch auch die Tiere demonstrierten ihre Verbundenheit mit den Wolfsherzen, indem die Leitwölfin eines ihrer Jungen dem König zur Aufzucht und Obhut überbrachte. Dies taten auch sie einmal im Jahr. Mit der Zeit jedoch war diese Geschichte immer mehr zu einem Mythos geworden. Niemand konnte mehr sagen, ob es sich tatsächlich so zugetragen hatte, wie man sich erzählte. Das Gesetz gab es, das war aber auch der einzige richtige Beweis für die Wahrheit des Mythos. Schon länger war kein Wolfswelpe mehr im Schloss aufgezogen worden. Trotzdem wurde das Fest auch nach Generationen immer noch gern gefeiert und auch das Gesetz wurde beachtet, auch wenn es deswegen wie zuletzt zu schwerwiegenden Konsequenzen kommen konnte.

 

Die Wolfsherzen liebten das Fest und die Krönung war für sie jedes Mal, wenn die Königin an die Spitze der Fichte den aus Rauchquarz geschliffenen Faustgroßen Wolfskopf hängte. König Karlus hatte in den vergangen Jahren eingeführt, dass nicht mehr nur das eigene Volk am Fest teilnehmen sollte, sondern auch hochrangige Vertreter der benachbarten Länder. Und auch für sie war das Fest der Benedictusfichte ein besonderes Ereignis.

Die Küche hatte in den letzten Tagen keine ruhige Minute gehabt und Unmengen an Pasteten, Terrinen, Braten, Suppen, Salaten und süßen Köstlichkeiten gezaubert. Die Vorfreude hatte alle Bewohner des Schlosses erfasst und ein jeder war in Hochstimmung.

Alessandra stand an der Brüstung der großen Treppe, die nach unten in die Empfangshalle führte, von der aus die riesigen mit zahllosen Schnitzereien verzierten Flügeltüren den Weg in den Festsaal öffneten. Ruhig ohne jegliche Gefühlsregung beobachtete sie, wie Gast um Gast vom Zeremonienmeister förmlich begrüßt wurde. Lakaien nahmen dicke Fellmäntel entgegen und brachten sie in einen separaten Raum, der heute nur zur Aufbewahren dieser wärmenden Bekleidung vorgesehen war. Wie am Ende des Festes jeder Gast den richtigen Mantel bekam, war allein das Geheimnis der Lakaien.

Der Prinzessin fielen sie sofort auf, als sie die Empfangshalle betraten. Sie hatte sie schon öfter gesehen, dennoch war es jedes Mal ein bezauberndes Erlebnis, das sie in seinen Bann zog. Man merkte ihnen gleich an, dass sie es als ungewohnt und vor allem lästig empfanden, in dicke Mäntel und Mützen gehüllt sein zu müssen. Sie kamen ja auch aus einem Land, in dem es das ganze Jahr warm war und die Sonne schien. Sogar der Regen war warm, hatte man ihr erzählt. Besonders die augenscheinlich Jüngste von ihnen schien es anzustrengen, die Schwere dieser Garderobe aushalten zu müssen. Sie strahlte eine Aura von wärmendem Licht aus und ihr sonniges Gemüt verbreitete einen Charme, der jeden in ihrer Umgebung sogleich in gute Laune versetzen musste.

Alessandra erkannte natürlich auch die Königin der Spitzohren, Lilijana, und ihren Gefährten Fayn. Die Königin hatte lange, glatte, dunkelblonde Haare, die wie flüssiges Gold ihren nackten Rücken hinabflossen. Sie trug ein fließendes Kleid aus pinken und türkisen Stoffen.

Über die beiden wurde nicht nur geredet, wenn sie zu einem der wenigen Feste im Reich erschienen, sondern auch einfach, wenn wieder einmal irgendjemand eine neue Theorie aufgeschnappt hatte. Lilijana und Fayn waren nämlich nicht nur Gesprächsstoff aufgrund ihrer unkonventionellen Partnerschaft, sondern vor allem wegen der immer noch unbekannten Herkunft Fayns. Er war offensichtlich keiner aus dem Volk der Königin, denn seine Ohren wiesen nicht die typische nach oben spitz zulaufende Form auf. Auch ansonsten unterschied er sich in seinem Verhalten und seinem Charakter deutlich von den anderen Spitzohren. Lilijana und er lebten schon unzählige Jahre zusammen, ohne dass sie öffentlich den Bund fürs Leben geschlossen hatten. Darüber hinaus wiesen sie die Gerüchte, die Kinder der Königin, Aleta und Finnroth, seien von ihm, rigoros von sich. Das machte die ganze Sache umso skandalöser, da es eine Sache war, unvermählt zu sein, eine ganz anderer war es allerdings, als Königin Nachfolger zu haben, deren Vater als unbekannt galt. Lilijana war eine mysteriöse Frau und sie liebte die Spekulationen, die sich um ihre Person rankten. Es gefiel ihr, dass keiner genau über sie Bescheid wusste. Daher hielten sich die Behauptungen. Ein weiterer Grund war, dass der Prinz der Spitzohren von seinem ganzen Wesen, der Sohn seines angeblichen Vaters durchaus zu sein schien. Seine Statur und sein Gesicht ähnelten weit mehr dem Fayns als dem seiner Mutter. So war Finnroth seiner Zwillingsschwester auch auffällig unähnlich.

Alessandra betrachtete in solche Gedanken versunken weiter die ankommenden Gäste, als ihr Blick schließlich auf diesen Prinzen fiel. Erschrocken bemerkte sie, dass auch er sie unverwandt ansah. In diesem Moment trat ihre Zofe zu ihr und die Prinzessin drehte sich hastig beim Klang ihrer Stimme um.

„Eure Majestät“, Katharine verneigte sich ehrerbietig, „man erwartet Euch unten zur Begrüßung der Gäste. Sie sind nun vollzählig.“

„Ja, ich werde sofort kommen.“

Mit einer weiteren Verbeugung entfernte sie sich und Alessandra wandte sich wieder ihrer Beobachtung zu. Doch der Prinz war im Getümmel des Saales verschwunden. Erneut wurde sie von weiteren eintreffenden Gästen in deren Bann gezogen. Allerdings versetzte ihr Anblick sie nicht in neugierige Bewunderung, sondern ließ sie trotz der Wärme im Schloss erschauern. Sie kamen aus dem Norden, aus dem Felsengebirge, von einer Burg, die angeblich auf keinerlei Wegen zu erreichen war. Viele Geschichten, Märchen und Wahrheiten, wobei keiner vermochte dies zu unterscheiden, rankten sich um ihre Existenz. Die Ankömmlinge, zwei Männer und fünf Frauen, waren fast komplett in Schwarz gekleidet. Schwarze lederne Hosen, schwarze oder weiße Hemden und Blusen. Alles sehr eng und figurbetont. Sie wollten auffallen, obwohl sie das nicht nötig hatten. Vor ihren kreideweißen Gesichtern trugen sie Masken aus Federn, die ihr Antlitz zur Hälfte verbargen. Trotzdem konnte man erkennen, dass ihre Gesichter beinahe makellos und wunderschön waren. Einer der Männer wandte seinen Kopf plötzlich nach oben und begegnete ihrem Blick. Seine dunklen Augen leuchteten im gleichen Moment mit einem Ausdruck auf, der begehrliches Verlangen ausdrückte. Ihr Herz schien augenblicklich das Schlagen aufzuhören und die Prinzessin überkam ein heftiger Schwindel. Schnell drehte sie sich weg. Ihre Hand an der Brust und mit dem Rücken an der Brüstung ließ sie sich zu Boden sinken. Mühsam versuchte sie ruhig zu atmen. Doch so schnell wie der Schwindel gekommen war, verschwand er auch wieder.

Runde um Runde drehten sich die Tanzenden in der Mitte des Saales zu den heiteren Klängen der Musik. Keiner wollte an diesem fröhlichen Abend nur als Beobachter am Rand stehen. Selbst die Älteren, zu denen auch König Karlus und Königin Nicoletta, Alessandras Eltern, gehörten, reihten sich wieder und wieder unter die Tanzenden.

„Keine Lust zu tanzen? Würdest jetzt wohl lieber unten in der Waffenkammer dein Schwert schwingen“, neckte ihr Bruder Eron.

Die Prinzessin stand als eine von wenigen am Rand und nippte nur selten an ihrem Glas mit Weißwein, das sie wie eine lästige Bürde in der Hand hielt. Sie trug ein petrolfarbenes Kleid mit einem herzförmigen Ausschnitt, das ausladend ihre Beine umspielte. Es war an Taille und Hüften in kleine Falten gelegt und ließ so den Stoff an diesen Stellen besonders schön glänzen. Das Kleid hatte eine lange Schleppe, auf der das Wappen der Wolfsherzen, der Wolfskopf, gestickt war. Es war so groß und so dezent mit einem Faden gestickt, der nur eine Nuance dunkler war als die Farbe des Stoffes, dass man ganz genau hinschauen musste, um ihn zu erkennen. Im ersten Moment wirkte es eher wie ein beliebiges, ornamentales Muster. Um die Verwirrung perfekt zu machen, zog sich ein eben solches über den gesamten restlichen Stoff. Ihre dunklen Haare fielen in kleinen Locken um ihr Gesicht und waren am Hinterkopf mit kleinen Spangen in Form von Blättern festgesteckt. Über ihrer Stirn lag ein schmales Diadem aus funkelnden, rauchfarbenen Quarzen. Um ihren linken Arm schlang sich bis zum Ellenbogen ein filigraner Reif aus geschwärztem Stahl. Auch er bildete ein beliebiges ornamentales Muster. Es stand zu vermuten, dass sich auch darin das Wappentier verbarg.

„Du scheinst dich nicht gerade zu amüsieren“, bemerkte Eron ein wenig besorgt.

„Du weißt doch, dass ich mir wenig aus solchem Trubel mache“, entgegnete sie im Versuch ihn zu beruhigen mit einem müden Lächeln. Eron stellte sich neben sie und nahm einen großen Schluck aus seinem Bierkrug. Er musterte seine Schwester von der Seite. Früher war das nicht so gewesen. Da hatte sich Alessandra das ganze Jahr auf dieses Fest gefreut, hatte es kaum erwarten können. Sie hatte getanzt, sich amüsiert und mit den Gästen geplaudert. Als sie noch jünger waren, war sie es immer gewesen, die die Eltern angebettelt hatte, länger aufbleiben zu dürfen. Doch in diesem Jahr war es anders. Sie war still, introvertiert und wirkte irgendwie unglücklich.