Am Rande der Glückseligkeit

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Am Rande der Glückseligkeit
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Les bains à Ostende, James Ensor, 1890

Bettina Baltschev

Am Rande der Glückseligkeit

Über den Strand


»Öffnete man die Menschen, fände man Landschaften.

Öffnete man mich, fände man Strände.«

Agnès Varda

»I must down to the seas again, for the call of the running tide

Is a wild call and a clear call that may not be denied;

And all I ask is a windy day with the white clouds flying,

And the flung spray and the blown spume, and the sea-gulls crying.«

John Masefield

Prolog

1

Scheveningen

»Aber ansonsten war es ein tobendes Stürmchen«

2

Brighton

»Ein wenig Baden im Meer würde mich für immer kräftigen«

3

Ostende

»Es riecht nach Meer, und jedes Sandkorn wacht«

4

Utah Beach

»Er wurde kaltgemacht – So sah es am Strand aus, als ich ankam«

5

Hiddensee

»Gedankenschnell huscht hier das Licht über den Strand«

6

Ischia

»Zu meiner großen Enttäuschung war Nino nicht unter dem Sonnenschirm«

7

Benidorm

»Dann verwandelt sich die Stadt am Meer zu einer riesigen Werkstatt«

8

Lesbos

»Wo bin ich?«

Epilog

Ausgewählte Literatur

Prolog

»So weit das Auge reicht.« Diese Redewendung muss hier erfunden worden sein. Kein Hindernis hält meinen Blick auf, kein Haus, keine Hütte und kein Boot, kein Strandkorb, kein Schild und kein Pfahl. Dass trotz dieser Aussicht nur wenige Menschen an den Balg im äußersten Osten von Schiermonnikoog finden, liegt daran, dass er fernab des einzigen Dorfes liegt. Zwar ruckelt dreimal am Tag ein Traktor über den großen Strand der Nordseeinsel hierher, einen kantigen Kasten mit zwei Dutzend Leuten hinter sich her ziehend, aber die bleiben nur eine halbe Stunde, dann bläst der Fahrer zur Rückkehr. Ich bin zu Fuß gekommen, und je weiter ich lief, desto ruhiger wurde mein Atem, obwohl der Seewind mir ordentlich ins Gesicht blies und sich die Salzluft tief in meine Lungen setzte. Bald war außer Wind und Wellenschlag nichts mehr zu hören, es schien, als hätten selbst die Möwen aufgegeben. Ein Sanderling war mein letzter Begleiter.

Er verließ mich, lange bevor ich über den schwarz-weißen Turnschuh stolperte, der halb vergraben im Sand lag, das Leder von einem rosa schimmernden Algenfilm überzogen.

Die Soldaten müssen ihn übersehen haben. In Kompaniestärke waren sie angerückt, um den Strand aufzuräumen, der einer Müllhalde glich, nachdem ein Orkantief – vom Finnischen Meerbusen kommend – sich in einem Hoch über Großbritannien verfing. Die Nordsee hatte so gewütet, dass haushohe Wellen hartnäckig gegen den eisernen Koloss geknallt waren und er bald zu schwanken begann. Erst leicht, dann stärker, bis sich die ersten Container über die Reling des Schiffes schoben, das der Reeder drei Jahre und fünf Monate zuvor nach seiner vierjährigen Enkelin Zoe benannt hatte. (Nach der Schiffstaufe im Hamburger Hafen war sie fröhlich mit einem Plüschtier den Kai entlanggerannt.) Als die Container schließlich aufbrachen und ihre Fracht dem Meer übergaben, wurde sie im Rhythmus der Gezeiten an die Strände der friesischen Inseln gespült. Es ist nur ein Turnschuh, denke ich und bin doch irritiert, weil ich an diesem Ort nicht mit zivilisatorischen Spuren gerechnet habe und mehr noch, weil der Schuh mich daran erinnert, dass auch dieser Strand seine Unschuld längst verloren hat.

Nun hocke ich im nassen Sand, ganz nah am Wasser, dessen milchiges Blau in der Ferne zu Himmel wird, und wünschte, ich könnte dem Weltenlauf Einhalt gebieten, alle Havarien, die der MSC Zoe genauso wie meine eigenen, für einen Moment vergessen. Dazu kommt man doch an den Strand, nicht wahr? Um uit te waaien, wie die Niederländer das nennen, sich vom Seewind durchpusten zu lassen, den Kater vom Vorabend im Meer zu versenken und alle schweren Gedanken und schlechten Stimmungen gleich mit. Und wenn man Glück hat, weht einem derselbe Wind frische Ideen zu, Zuversicht und Gottvertrauen. Mir gelingt es an diesem Ort immerhin, die Strände meines Lebens zu sortieren. In blassen Farben zeichnen sie sich am Horizont meiner Erinnerungen ab. Binz, Zandvoort, Varengeville-sur-Mer, Cadiz, Sperlonga, Heraklion … Mein Europa besteht nicht zuletzt aus Stränden.

Wobei ich bald bemerke, dass die Erinnerung mir ein Schnippchen schlägt und keinen Unterschied macht zwischen realen und fiktiven Gestaden. Mehr noch, manche der erfundenen sind sogar gegenwärtiger, vielleicht weil ich sie besuchen kann, ohne aufbrechen zu müssen, ein Griff ins Bücherregal genügt. Schon blitzen Szenen von zwei Stränden auf, die gegensätzlicher nicht sein können. Einer liegt an der Côte d’Azur, wo die siebzehnjährige Cécile mit ihrem Vater und dessen junger Geliebten Elsa den Sommer verbringt und dabei keinen einzigen Gedanken an den Ernst des Lebens verschwendet. Herrlich! Als ich Bonjour Tristesse von Françoise Sagan zum ersten Mal las, war ich fast genauso alt wie Cécile, das Mittelmeer für mich unerreichbar und würde es auch bleiben, wenn ich nicht plante, das Land für immer zu verlassen. Aber dafür war ich noch zu jung, in den 1980er Jahren in der DDR. Umso sehnsüchtiger träumte ich mich nach Südfrankreich, inhalierte jede Zeile dieses kleinen frivolen Romans, während es im Erfurter Neubauviertel nicht weniger sommerlich heiß war als an der Côte d’Azur. Auch der Himmel war nicht weniger blau über der Moskauer Straße, aber es fehlte das Meer, der Wind, der Sand, der Duft der Pinien, es fehlte an so vielem, was den süßen Sommer Céciles ausmacht: »Ich war vom frühen Morgen an im Wasser; es war frisch und durchsichtig, und ich grub mich hinein und tobte mich aus. Ich wollte mich von allen Schatten und allem Schmutz der Stadt reinigen. Dann streckte ich mich im Sand aus, ergriff eine Handvoll und ließ ihn in einem weichen, gelblichen Strahl durch meine Finger rinnen. Er verrinnt wie die Zeit, sagte ich mir – was für ein einfacher Gedanke, und wie angenehm es war, einfache Gedanken zu haben! Es war Sommer.« Und Sommer ist es auch am Strand von Travemünde, der mir seinerzeit zwar geografisch näher, aber gleichfalls so unerreichbar war, dass mir nur blieb, mit Thomas Manns Buddenbrooks zu reisen und gemeinsam mit Morten Schwarzkopf, Sohn des Lotsenkommandeurs, und Tony, Tochter des Konsuls, selige Stunden am Ostseestrand zu verbringen. Wie Cécile ist auch Tony an diesem Ort im Glück. »Es ist merkwürdig, daß man sich an der See nicht langweilen kann, Morten. Liegen Sie einmal an einem anderen Orte drei oder vier Stunden lang auf dem Rücken, ohne etwas zu tun, ohne auch nur einem Gedanken nachzuhängen …« Dass Morten, ihre erste und vermutlich einzige wahre Liebe, aus Standesgründen nicht ihr Ehemann werden darf und sie stattdessen zwei windige Kaufmänner heiraten wird, die arme Tony ahnt es in diesem Moment noch nicht.

 

Ich gebe zu, was die amourösen Verwicklungen angeht, so war ich mir im Alter von Cécile und Tony noch längst nicht im Klaren darüber, welche Variante – die tragisch-ernsthafte oder die heiter-verspielte – ich bevorzugen würde. Unbedingt aber wollte ich wie die beiden ans Meer, wollte einfachen oder gar keinen Gedanken nachhängen und – natürlich – der Liebe begegnen. Wie prosaisch wirken dagegen die Erinnerungen an meine ersten realen Strände, keine Liebe weit und breit, stattdessen Wind und Doppelstockbett. In den Familienferien auf Usedom wehte uns in einem großen Haus mit weißen Bodenfliesen der Strand ins Zimmer und in die Kleider. Der Gang hinunter ans Meer wurde vom Sturm verleidet. Im Ferienlager auf Rügen war der Ausflug an den Strand ein Großmanöver, das mit dem hoffnungslosen Versuch begann, hunderte Kinder in Reih und Glied aufzustellen. Dennoch erreichten wir früher oder später das Meer und schlugen uns in abgezählten Gruppen hinein, während die Betreuer beteten, dass wir vollzählig und lebendig zurückkehren würden. Doch dauerte es nach diesem Sommer nicht mehr lang und mir standen Céciles und Tonys Strände offen, die ich seltsamerweise nie besuchen sollte, vielleicht um der Enttäuschung zu entgehen, dass die Wirklichkeit der Fiktion nicht selten unterliegt. Stattdessen zog ich in das Land, das sich am Strand erfunden haben muss, so viel Land haben die Niederländer dem Meer abgerungen. Ich wanderte über die Strände zwischen Domburg und Texel und wurde süchtig nach der großen blassen Weite, die mir – nur so kann ich es mir erklären – in den ersten Jahren meines Lebens offensichtlich gefehlt hatte. Warum sonst kehre ich bis heute immer wieder zurück, zu jeder Jahreszeit, bei Wind und Wetter, mehr noch seit ich am Strand von Bergen aan Zee tatsächlich der Liebe begegnet bin (heiter-verspielt)?

Diesmal also der Strand von Schiermonnikoog, einer der größten auf dem Kontinent, der zudem noch immer wächst, weil die vor der Insel liegenden Sandbänke sich langsam, aber stetig an Land schieben. Ich bin mittlerweile nicht mehr allein auf dem Balg, der Traktor aus dem Dorf ist gekommen, dem kantigen Kasten entsteigen Leute in bunten Jacken und schweren Schuhen. In alle Richtungen schwärmen sie aus, fotografieren die Landschaft und sich darin, während der Fahrer eine Zigarette raucht. Man sieht ihm an, dass er sich fragt, was es hier schon zu sehen gibt außer Wasser, Sand und einem großen Nichts. Und er hat ja recht, so ein Strand macht für sich selbst genommen herzlich wenig her. Nichts ist öder als eine endlose Fläche grauen, weißen oder gelben Sediments, auf das farblose Wellen schlagen, unaufhörlich und immerzu. Aber nichts ist eben auch verführerischer, nichts lässt mehr Raum für Visionen und Sehnsüchte als gerade dieser Ort, dieses fluide Grenzgebiet zwischen den Elementen, in dem wir sehen, was wir sehen wollen. Ein Strand ist für uns ein Gefüge aus Erinnerungen, Erfahrungen und Erwartungen. Wir sehen, um mit Michel Foucault zu sprechen, einen »anderen Raum«, eine realisierte Utopie, und unser Staunen über den großen leeren Balg ist auch deshalb so groß, weil wir eine Art Urstrand erleben. Hier fehlt es an allem, was anderswo zur Norm geworden ist, an Zeichen kultureller Aneignung, an Überresten von Geschichte, die sich unübersehbar über die Strände geschoben und sie zu Schauplätzen moderner Zivilisation gemacht haben.

Der Traktorist hat aufgeraucht und ruft seine Leute zusammen, einige wollen bleiben und später zu Fuß zurück ins Dorf. Ob sie es sich gut überlegt haben, fragt er, aber das haben sie. Auch ich mache mich auf den Rückweg, bin uitgewaaid genug, um einen Plan zu fassen. Von Schiermonnikoog, dieser »Insel der grauen Mönche«, werde ich an Strände reisen, die mehr als andere zu Geschichtsorten geworden sind. Ich will verstehen, wie es der Mensch vermochte, sich die öden Landschaften an den Rändern Europas zu erobern, Spuren im Sand zu hinterlassen, die auch das stärkste Orkantief nicht verweht.


1
Scheveningen
»Aber ansonsten war es ein tobendes Stürmchen«

Ein Junge sitzt in leuchtend blauer Badehose am Strand. Selbstvergessen greift er in den Sand und lässt ihn auf den spitz zulaufenden Hügel vor sich rieseln. Es ist eine unscheinbare Geste, die man bei Menschen am Strand immer wieder sieht, ein Ausdruck wohliger Trägheit, wenn Hände nichts anderes zu tun haben, als sich zu Sanduhren zu formen. Der Sand in Scheveningen eignet sich dafür besonders gut, er ist fein und ganz hell, im trockenen Zustand bildet er eine weißgraue, sanft hügelige Fläche, die in der Sonne glitzert und in der man tief versinkt. Wird sie nass, von Flut oder Regen, ist der Sand braun, schwer und vorn am Wasser von ungleich langen und tiefen Gräben durchzogen, in die das Meer rhythmisch einfährt, mit jeder Welle aufs Neue. Dort, wo der kleine Junge sitzt, ist der Sand trocken, er schaut nicht auf seine Hände, sondern guckt mal aufs Meer, mal um sich her und ist ganz still, ganz bei sich. Niemand stört ihn, niemand ruft ihn. Irgendwo zwischen dem bunten Badevolk, das etwas entfernt von ihm unter Sonnenschirmen hockt, werden wohl seine Eltern sein, nur ab und zu den Blick hebend, ob der Junge noch da ist. Aber keine Sorge, das ist er.

Wie überall an der holländischen Küste lehnt sich der Strand von Scheveningen breit und flach gegen die Promenade, auch bei Flut lässt er genug Raum für Besucher aller Art, denen, die am Meeressaum entlangwandern, genauso wie denen, die kommen, weil sie gerade nicht mehr wandern wollen. Junge Leute sitzen auf Handtüchern, ältere auf mitgebrachten Klappstühlen, in Familie, einzeln oder zu zweit, immer der Nordsee zugewandt, die in graugrünen Wogen friedlich ans Ufer schwappt. Ganz vorn gräbt eine Kindergartengruppe sehr konzentriert einen halbrunden Kanal, alle tragen leuchtende Westen und Mützen, damit kein Kind abhandenkommt. Die meisten Leute haben sich unweit vom Kurhaus und von De Pier niedergelassen, der zweistöckigen Seebrücke, die sich als Food Court präsentiert und an deren Ende sich ein Riesenrad dreht. Auch die Strandlokale sind hier nicht weit, die um den Titel des angesagtesten Beachclubs wetteifern, mit exotischen Namen, viel Holz, Metall und weichen Polstern, in deren Ritzen sich der Sand sammelt. Die bunten Drinks, die hier serviert werden, funkeln in der Sonne, es riecht nach Gras, Barbecue und patat, holländischen Pommes. Den kleinen Jungen aber scheint das alles nicht zu interessieren, sein Sandhügel wächst stetig, und ich wüsste zu gern, was er gerade denkt. Ganz sicher stellt er sich keine großen Fragen, die ihn aus seiner Selbstvergessenheit herausholen könnten. Werde ich mich später an diesen Tag am Meer erinnern? Warum sitze ich so sorglos am Strand? Was ist eigentlich ein Strand?

Schon die Antwort auf diese letzte Frage ist einfach und kompliziert zugleich. Einfach, wenn man sie einem Geologen stellt, der nüchtern erläutern wird, dass ein Strand nicht mehr ist als ein flaches Gelände zwischen Festland und Meer (und kurz darauf zu einem detaillierteren Vortrag anhebt, der eigene Bände füllt). Komplizierter wird es, legt man die Frage einem Anthropologen vor, denn wie überall ist auch am Strand der Mensch das Problem. Weil er ihn eben nicht nur körperlich durchwandert oder sich mit Handtuch und Sonnenschirm im Sand postiert, sondern weil er seine psychische und emotionale Verfasstheit mitbringt, seine komplexen und egozentrischen Ideen über die Welt. Mit ihnen wird der Strand, wie der französische Kultursoziologe Jean-Didier Urbain schreibt, zu einem privilegierten Ort, »wo sich die Gesellschaft zur Schau stellt, mit ihren Riten und Symbolen, ihren festlichen Bräuchen und Konventionen, ihren Sehnsüchten und Normen, ihren Regeln und deren Überschreitungen, ihren Strategien der Koexistenz und den Codes des Sich-Niederlassens, ihrer Organisationslogik und schließlich ihres Gefühlsspektrums«.

Ich lasse mich Richtung Süden wehen, zum Fischerdorf, das Scheveningen lange war. In Gedanken schiebe ich das Wort hin und her, Strand, Strand, Strand, Strand. Man muss es nur oft genug aussprechen, dann bekommt es einen seltsam fremden Klang und man beginnt sich zu fragen, was das eigentlich für ein Wort ist, bei dem man schon am Anfang über drei Konsonanten stolpert und das, wenn wir ehrlich sind, nicht zu den schönsten deutschen Wörtern gehört. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass es in fast allen germanischen Sprachen gleich geschrieben, aber überall ein bisschen anders ausgesprochen wird. Denn während wir Deutschen Sch-trand sagen, sprechen es beispielsweise die Niederländer und Schweden so aus, wie es dasteht: s-trand (in Island geht man übrigens an den s-trönd). Und einmal gedanklich im hohen Norden angekommen, liegt man, was die Herkunft des Wortes betrifft, schon vollkommen richtig, denn Matrosen bringen es im 13. Jahrhundert von ihren Reisen nach Skandinavien mit. Hierzulande spricht man seinerzeit eher von Gestade oder Ufer, doch macht der Strand die Runde und taucht kurze Zeit später auch schriftlich auf. In der preußischen Landeschronik des Nikolaus von Jeroschin heißt es Anfang des 14. Jahrhunderts im schönsten Ostmitteldeutsch: »bi einem wazzirvlize na / daz ist genant di Treidera, / uf des meris strande« (an einem Fluss namens Treidera, am Meeresstrand). Die romanischen und slawischen Sprachen leiten ihre Bezeichnungen für den Strand dagegen von plaga ab, dem lateinischen Wort für Raum oder Gegend, das im Französischen zu plage, im Spanischen zu playa, im Italienischen zu spiaggia und im Russischen zu pljasch wird. Und schließlich ist da noch das englische beach, das sich längst in allen Sprachen der Welt eingenistet hat. Beach verweist ursprünglich weniger auf das feste Ufer als auf das nasse Davor, denn es lässt sich auf das altenglische bece zurückführen, das einen Strom bezeichnet und mit dem deutschen Bach oder dem niederländischen beek verwandt ist. Im Englischen gibt es zwar auch das Wort strand, doch nur in Irland wird es für den sandigen Streifen am Meer verwendet. Engländer denken bei Strand vermutlich zuerst an eine Straße in London, die im Mittelalter die City of London mit der City of Westminster verbindet und am Ufer der noch nicht in Kaimauern gezwängten Themse liegt. Und auch dieser Strand hat sich in die Literaturgeschichte eingeschrieben, weil hier im 19. Jahrhundert Dutzende Buchhändler und Verlage zu finden sind, die die literarische Prominenz anziehen. Unter ihnen George Eliot, die hier wohnt, und Virginia Woolf, die hier flaniert. Und als Benjamin Bass, ein litauischer Immigrant, 1927 im New Yorker East Village eine Buchhandlung eröffnet, nennt er sie nach eben jener legendären Straße in London: Strand Bookstore. Ein Laden, der mit den längsten Bücherregalen der Stadt mittlerweile selbst zur Legende geworden ist.

Auf der anderen Seite des Atlantik, knapp sechstausend Kilometer nordöstlich von New York, werden, je südlicher ich komme, die Häuser am Boulevard von Scheveningen nach und nach kleiner, kantige Betonbauten werden von Seevillen der Gründerzeit abgelöst und irgendwann taucht das alte Scheveningen auf. Unterwegs erinnern auf der Promenade, die hier schlicht Strandweg heißt, alle paar hundert Meter große Tafeln mit historischen Bildern daran, wie sich das Fischerdorf zum Seebad ausgewachsen hat. Feest aan Zee. 200 jaar badplaats Scheveningen Den Haag heißt es da, doch die Tafeln sind nicht mehr ganz neu. Gezählt werden die Jahre nach 1818, als hier das erste Badehaus eröffnet wurde, genau an der Stelle, wo heute das Kurhaus steht, ein rot-weißer Palast, letzter Zeuge einer mondänen Vergangenheit. Man feiert die Geschichte des Seebades, doch die Geschichte des Strandes, will sagen die, in der der Mensch sich in der Landschaft zeigt, ist wie überall viel älter. Da sind zuerst die Fischer aus dem Dorf, für die der sandige Streifen am Meer ihr täglicher Arbeitsplatz ist. Wie ihre Vorväter auch holen sie aus der Nordsee, was sich verspeisen lässt, und weil es keinen Hafen gibt, sind es hier zumeist boomschuiten, für diese Gegend typische Segelschiffe mit besonders flachem Boden, die die Fischer, wenn sie vom Meer zurückgekehrt sind, an den Strand ziehen, um gleich vor Ort ihren Fang zu verkaufen. Doch es kommen auch Abenteurer an diesen Strand, die ihn weniger der Nähe zum Meer als der weiten leeren Fläche und des Windes wegen schätzen. So erlebt Scheveningen bereits über zweihundert Jahre vor Errichtung des ersten Badehauses eine Art Vorspiel auf dem Strande und wird zur Kulisse eines Aufsehen erregenden Spektakels, das den anwesenden Zuschauern eine Ahnung von der Zukunft gibt.

 

Auf einem Segelwagen lassen sich im Jahr 1602 drei Dutzend Männer mit der für das beginnende 17. Jahrhundert höllisch anmutenden Geschwindigkeit von vierzig Stundenkilometern über den Strand blasen, um zwei Stunden später Petten zu erreichen, ein Dorf rund neunzig Kilometer nördlich von Scheveningen. Gebaut hat diesen Segelwagen der Flame Simon Stevin, Naturwissenschaftler, Ingenieur und Erfinder in einer Person. Dass er sein avantgardistisches Fahrzeug gerade in Scheveningen ausprobieren darf, verdankt er seinem Freund, dem Statthalter Fürst Moritz von Oranien, in den Niederlanden besser bekannt als Maurits van Oranje. Dessen Vertrauen in Simon Stevin ist groß genug, um bei der Jungfernfahrt den Segelwagen selbst zu besteigen, begleitet von einigen unerschrockenen europäischen Diplomaten und dem Philosophen und Völkerrechtler Hugo Grotius. Der ist zu diesem Zeitpunkt zwar erst neunzehn Jahre alt, hat sich aber schon einen Ruf als Wunderkind erworben, das mit elf an der Universität von Leiden studiert und nur wenig später elegante lateinische Verse dichtet. Man stelle sich also vor, wie ein bis dahin nie gesehenes Gefährt voller nobler Herren an Netze knüpfenden Fischern und ihren Kunden am holländischen Strand entlangrast. Es werden wohl einige Kreuze geschlagen und Stoßgebete ausgerufen worden sein. God zij met ons! Doch wider Erwarten kommen die Segler tatsächlich heil in Petten an. Der Segeltörn zu Lande wird zum Triumph, die Nachricht davon verbreitet sich weit über die Landesgrenzen hinaus und hält sich, vielleicht auch, weil es einmal eine gute Nachricht ist, lange im kollektiven Gedächtnis. Noch 1760 lässt Laurence Sterne in seinem Tristram Shandy Onkel Toby die Sprache auf Simon Stevin bringen und darüber diskutieren, ob es nicht praktisch wäre, auch in England solche Wagen zu bauen, »denn es würde nicht nur bei Eilvisiten, wie sie beim weiblichen Geschlecht nun eben in der Regel einmal anfallen, ungemein förderlich sein, – vorausgesetzt, der Wind zeigte sich gefällig, – sondern es wäre auch von famoser Wirtschaftlichkeit, lieber die Winde einzuspannen, welche nichts kosten und nichts fressen, als Pferde, welche (hol sie der Teufel) ein Erkleckliches kosten und fressen.« Weit kommt Onkel Toby mit seinem Vorschlag jedoch nicht, Tristrams Vater widerspricht seinem Bruder vehement, schließlich würden doch gerade die »Konsumption« und die »Manufaktur« den Handel ankurbeln. Der Plan, Pferde durch Segelwagen abzulösen, so das abschließende Urteil, tauge rein gar nichts. In Holland dagegen ist man stolz auf die Erfindung. Willem Isaacsz. van Swanenburg hält sie in einem prächtigen Kupferstich fest, den er mit einem langen Gedicht des jungen Hugo Grotius umrahmt: aen den doorluchtichste Vorst Maurits van Nassauwen (an den durchlauchtigsten Fürst Moritz von Nassau). Und Hugo Grotius belässt es nicht bei einem Gedicht, sondern greift das Thema immer wieder auf, in unzähligen Reimen, deren Quintessenz sich in vier Zeilen findet, in denen er sich wünscht, auf solch einem Wagen einmal um den Erdball getragen zu werden.

Door de winden voortgedragen

langs de golven, op den grond,

Geef my enkel zulk een wagen,

En ik vaer den aerdbol rond.

Die imposante Ausfahrt des Stevin’schen Segelwagens ist so erfolgreich, dass er in den folgenden zwei Jahrhunderten immer wieder eingesetzt wird. Beim Betrachten des Bildes auf den Archivseiten des Amsterdamer Rijksmuseums frage ich mich, wie weit die Fantasie des Simon Stevin wohl gereicht haben mag. Ob er sich seinerzeit vorstellen kann, wie vierhundert Jahre nach seinem Abenteuer tausende Strandsegler über den holländischen Sand jagen, mit Geschwindigkeiten, bei denen selbst dem furchtlosen Ingenieur schwindlig werden würde?

Stevins jüngster Passagier lässt sich derweil nicht nur von technischen Wundern inspirieren, sondern auch von den Wundern der Natur. So erwähnt Hugo Grotius in einem seiner Segelwagen-Gedichte einen walvis, einen Wal, der eines Tages am Strand von Katwijk angespült wird und »so groß wie der ganze Strand« gewesen sein soll. Bereits zuvor, im Jahr 1598, hatte Grotius die Strandung eines Pottwals erlebt und dabei bemerkt, dass dies dem gewöhnlichen Volk wohl ein Zeichen für Unheil sein müsse. Inwieweit das seine eigene Interpretation ist, mit der er sich von seinen Zeitgenossen nur abzusetzen sucht, sei dahingestellt, doch natürlich verfehlt der Anblick solch eines riesigen Tieres seine Wirkung nicht. Auf einem Kupferstich von Jacob Matham scheint allerdings die Neugier der Menschen weit größer zu sein als die Ehrfurcht. Männer mit Hut und Maßband besteigen den Wal, einer untersucht die riesigen Zähne, rundherum drängeln sich Zuschauer, darunter viele Frauen und Kinder, es herrscht eine wahre Volksfeststimmung. Schließlich kann ein Wal dem Gläubigen nur gefährlich werden, wenn er lebendig und in der Lage ist, den Menschen zu verschlingen, gerade so wie Jonas, der seine Untreue gegenüber Gott mit drei angstvollen Tagen im Bauch eines »großen Fisches« bezahlen muss.

Was Hugo Grotius betrifft, so ist es eine traurige Volte des Schicksals, dass ausgerechnet der Mann, der sich auf Simon Stevins Segelwagen wagt, Wale bedichtet und sich in seinen weit bedeutenderen Schriften zum Völkerrecht unter anderem Gedanken darüber macht, wem nach einem Schiffbruch an den Strand gespülte Fracht gehört, an den Folgen just solch eines Unglücks stirbt. Auf dem Weg von Schweden nach Frankreich gerät sein Schiff im August 1645 auf der Ostsee in einen schweren Sturm und strandet vor der Küste Pommerns. Obwohl Besatzung und Passagiere gerettet werden können, fährt der Schock dem bereits von Krankheit gezeichneten Grotius so sehr in die Glieder, dass er zwar seine Reise fortsetzt, aber am 28. August 1645 in Rostock an Herzversagen stirbt. So bleibt ihm auch die Gelegenheit verwehrt, den von ihm befahrenen und bewanderten Strand auf den Leinwänden seiner Landsleute zu betrachten.

Denn nur wenige Jahre nach Grotius’ Tod entdecken die holländischen Maler des Goldenen Zeitalters den Strand als lohnendes Motiv. Sie stellen ihre Staffeleien schon zwischen den Dünen auf, als diese Landschaft jenseits der Fischerei kaum von menschlichem, geschweige denn von künstlerischem Interesse ist. So idyllisch uns heute die Gemälde von Jan van Goyen, Adriaen van de Velde oder Jacob van Ruisdael erscheinen, so revolutionär müssen sie ihren zeitgenössischen Betrachtern vorgekommen sein. Waren denen doch bisher vor allem Seestücke präsentiert worden, stürmische Wogen, Schiffbrüche, das Pathos der Elemente. Nun also große ruhige Landschaften, Flüsse und Bäume, Sand und sanfte Meereswellen, reinste Kontemplation.

Jan van Goyen malt den Strand von Scheveningen gleich mehrfach, von Den Haag aus, wo er lebt, hat er den kürzesten Weg. Seine Strandansichten sind auffallend lebendig, es wimmelt von Fischern und Händlern, Pferden und Hunden, Wagen und Booten. Ob es Morgen oder Abend ist, lässt sich am Licht erkennen, das die Landschaft mal grau, mal golden färbt. Adriaen van de Velde kommt 1658 aus Amsterdam nach Scheveningen und hält eine sommerliche Strandlandschaft unter lichten Wolkenfeldern fest, Frauen und Kinder stehen barfuß bei Fischern, boomschuiten liegen im Sand, ein Reiter galoppiert von links ins Bild, rechts steht ein einzelner Herr und blickt übers Meer. Es ist eine behagliche Szenerie, die sich aber erst wirklich erschließt, denkt man die politischen Zeitläufte mit. Hatte doch nur zehn Jahre vor der Entstehung dieses Gemäldes der Westfälische Frieden auch den Achtzigjährigen Krieg und mit ihm die spanische Fremdherrschaft der Niederlande beendet. Nach Jahrzehnten kriegerischer Auseinandersetzungen und ständiger Gefahr eines Angriffs über See kann die Republiek der Zeven Verenigde Nederlanden, die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen, aufatmen und sich auf ihre nationalen Eigenheiten besinnen. Die flache holländische Strandlandschaft, der weite Blick übers Land und übers Meer gehören unbedingt dazu und weisen im übertragenen Sinne auf das Selbstbild einer toleranten Gesellschaft, in denen alle Stände gleich viel wert sind. »Strand, Himmel, Sonne und prächtige Wolkenbilder rücken in den Fokus der Malerei. Das Strandbild übernimmt die Aufgabe, das niederländische Ideal einer miteinander in Freiheit, Gleichheit und Harmonie lebenden Gesellschaft darzustellen und zugleich die Schönheit des Landes zu feiern«, schreibt die Kunsthistorikerin Susan Müller-Wusterwitz. Die holländischen Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts widmen sich so detailliert dem weiten Himmel und seinen Wolkenformationen, dass Potsdamer Geoforscher vierhundert Jahre später meinen, darin die Wetterkapriolen der Kleinen Eiszeit erkennen zu können. Vor allem Jacob van Ruisdael gilt ihnen als Virtuose der wirklichkeitsgetreuen Darstellung meteorologischer Erscheinungen. In der Tat ist das graublaue Wolkengebirge auf van Ruisdaels Gemälde Strand bij Scheveningen besonders imposant. Vielleicht ist es ein Herbsttag, die See ist bewegt, die Menschen am Strand tragen warme Kleider. Sie stehen beieinander, schauen aufs Meer, wo ein Segelboot schaukelt. Eine ruhige schöne Szene, die abseits politischer und meteorologischer Deutungen auch eine voller Gottvertrauen ist, das seinerzeit auf diesem immer noch recht unberechenbaren Sandstreifen durchaus nicht selbstverständlich ist, verläuft hier eben nicht nur eine geografische und geologische Grenze, sondern auch eine theologische, denn ein Leben ohne Gott ist im Goldenen Zeitalter nicht vorgesehen.