Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«

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Die Pastiches Proust war sein Leben lang von einem unbändigen Nachahmungstrieb beseelt. Mit seinen nach allen Erinnerungen offenbar äußerst gelungenen Imitationen prominenter Mitglieder der Gesellschaft machte er sich bei Soireen nicht nur Freunde: So war Robert de Montesquiou gründlich verschnupft, als man ihm hinterbrachte, dass er selbst das Opfer von Prousts Witz geworden sei. Dieser Spaß am überkonturierten Konterfei zeigte sich schon früh in Prousts schriftstellerischer Tätigkeit: Bereits mit siebzehn Jahren reicht er bei der Schülerzeitung La Revue Lilas einen Pas­tiche des Literaturkritikers Jules Lemaître ein. Er verfertigt Zeichnungen im Stil Manets oder Dethomas’, schreibt (an Freunde) Briefe im Stil der Gräfin von Greffulhe oder auch in der Sprache der Bibel, verfasst Gedichte im Stil von Boisrobert oder Mallarmé, und in einer Artikelserie über die »Lemoine-Affäre« (dt. in Nachgeahmtes) ahmt er Autoren wie Balzac, Maeterlinck, Goncourt, Saint-Simon und sogar Ruskin nach und übt in der Stimme Sainte-Beuves Kritik an seinen eigenen Flaubert- und Chateaubriand-Pastiches. In die Suche sind etliche Miniaturen eingegangen, so eine Passage über Goethe im Stil Goethes (WG, S. 344 f.), ein Proust-Pastiche, dieser allerdings von Albertine (G, S. 170–173), und in WZ ein längerer Bericht der Goncourts von einer Soiree bei den Verdurins (S. 24–35). In einem Brief vom Mai 1922 (Corr. XXI, S. 187–189) an den Kritiker Paul Souday schließlich verfertigt Proust seinen letzten Pastiche: als Kritik in des Kritikers eigenem Stil an seiner Kritik an Proust.



Gedichte Von seinem siebzehnten Lebensjahr an vergnügte Proust sich damit, Gedichte für Freunde und Bekannte oder für den Vortrag in Salons zu verfassen. Eine kommentierte Sammlung dieser Werke gaben Claude Francis und Fernande Gontier 1982 bei Gallimard heraus (Cahiers Marcel Proust, 10). Übersetzungen erschienen auf Englisch, Italienisch und Spanisch; eine deutsche Übersetzung (Marcel Proust, Les Poèmes – Die Gedichte, frz./dt.) erschien 2018 bei Reclam.



Zeichnungen Proust bereicherte zuweilen seine Kladden (Cahiers) wie auch seine Briefe an Freunde mit Zeichnungen, meist schlichten Kritzeleien, manchmal aber auch genial hingeworfenen Skizzen wie etwa die »Studie für einen lachenden Montesquiou«. Eine leider immer noch nicht vollständige Sammlung dieser Werke – auf Auktionen erscheint doch von Zeit zu Zeit ein neuer Fund und verschwindet gleich wieder – gab Philippe Sollers 1999 bei Gallimard unter dem Titel L’Œil de Proust – Les dessins de Marcel Proust heraus (darin S. 76 das Montesquiou-Porträt).





III DIE »SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT«



»Ceci est une œuvre de force, du moins c’est son ambition«

(»Dies ist ein kraftvolles Werk, zumindest ist das sein Anspruch«; Proust über die Recherche in einem Brief an Gaston Calmette vom 12. 11. 1913, Corr. XII, S. 309).



Materialien



Proust pflegte seine Texte in Schulhefte zu schreiben, die sog. Cahiers ›Kladden‹, die sich heute zum großen Teil in der Bibliothèque nationale de France (BnF) befinden und im Internet unter der Adresse »gallica.bnf.fr« mit etwas gutem Willen zu finden und einzusehen sind. Die BnF verfügt über vier Notizbücher, 75 Entwurfshefte (arabisch numeriert), 20 Reinschrift-Hefte (römisch numeriert, mehrere Bände mit Typoskripten, unkorrigierten und korrigierten Fahnen, eine große Zahl loser Blätter sowie Schriften aus Prousts Jugend. Da es die Suche im Internet-Portal »gallica« der BnF erheblich erleichtert, wenn man die Bibliothekssiglen kennt, gebe ich hier einen Überblick. Die Cahiers 1–62 tragen die Bibliotheksnummern NAF (»nouvelles acquisitions françaises«) 16 641 bis NAF 16 702 (= 16 640 plus Cahier-Nummer), die erst später erworbenen Cahiers 63–75 die Nummern NAF 18 313 bis NAF 18 325 (= 18 250 plus Cahier-Nummer).



Die Reinschriften zu den letzten fünf Bänden werden unter den Nummern NAF 16 705–16 727 katalogisiert, und zwar wie folgt:



– Le Côté de Guermantes (Der Weg nach Guermantes) II: 16 705–16 707.



– Sodome et Gomorrhe: 16 708–16 714.



Die Cahiers 16 709–16 714 sind von Proust als Cahiers I–VII durchnumeriert; diese Bezeichnungen finden sich häufig in der Sekundärliteratur. Das erste Cahier (16 708) trägt keine römische Nummer.



– La Prisonnière (Die Gefangene): 16 715–16 719 = Cahiers VIII–XII.



– La Fugitive bzw. Albertine disparue (Die Entflohene): 16 720–16 722 = Cahiers XIII–XV.



– Le Temps retrouvé (Die wiedergefundene Zeit): 16 723–16 727 = Cahiers XVI–XX.



Einen vollständigen Überblick über den Bestand des Fonds Marcel Proust inkl. der Typoskripte, »Placards« (Fahnen) und »Épreuves« (Probedrucke) der BnF mit Verknüpfungen zu den jeweiligen Scans der BnF gibt die »Équipe Proust« des Institut des textes et manuscrits modernes (ITEM) unter

http://www.item.ens.fr/index.php?id=578147

.



Die Cahiers 54 (zu La Prisonnière und zu Albertine disparue), 71 (zu Albertine disparue), 26 (zu Contre Sainte-Beuve und zu Du côté de chez Swann) und 53 (zu Sodome et Gomorrhe und zu La Prisonnière) wurden 2008, 2010, 2011 bzw. 2013 bei Brepols in Turnhout als Faksimiles und in diplomatischer Transkription sowie von wechselnden Arbeitsgruppen mit Kommentaren und Indizes versehen in jeweils zwei Bänden herausgegeben. Das Cahier 46 (zu La Prisonnière) wurde 2009 von Julie André in einer Dissertation an der Université de la Sorbonne nouvelle weitgehend transkribiert und umfangreich kommentiert als pdf-Datei in der public domain zur Verfügung gestellt. Die Cahiers 51, 57 und 58 zum letzten Band gab Gallimard bereits 1982 unter dem Titel Matinée chez la Princesse de Guermantes. Cahiers du »Temps retrouvé« heraus (im endgültigen Text von Le Temps retrouvé dann »soirée«). Dieses Material, soweit es nicht in den Text Eingang gefunden hat, wurde allerdings im wesentlichen später als »Esquisses« in die Pléiade-Ausgabe von Tadié integriert.



Während Proust in den Cahiers seine Texte niederlegte, benutzte er sog. Carnets – schmale, längliche Notizbücher, die ihm Geneviève Straus geschenkt hatte –, um Augenblicksbeobachtungen und -einfälle festzuhalten. Die Einträge in diesen Carnets, die es dem neugierigen Leser ermöglichen, Proust bei der Textfindung ein wenig über die Schulter zu schauen, wurden 2002 bei Gallimard veröffentlicht.



Eine von Charles Méla transkribierte Reproduktion des kompletten korrigierten ersten Fahnensatzes zu Combray, der sich im Besitz der Fondation Bodmer Genf befindet, publizierte Gallimard 2013 in einer äußerst sorgfältig erarbeiteten und aufwendig ausgestatteten, numerierten Liebhaberausgabe zum hundertsten Jahrestag des Erscheinens von Du côté de chez Swann. Ein zweiter Band mit den Fahnen zu Un amour de Swann erschien 2016.



Eine unerschöpfliche und unersetzliche Fundgrube für denjenigen, der Proust und seine Arbeitsweise genauer kennenlernen möchte, bildet die Correspondance, die von Philip Kolb 1970–93 her­ausgegeben und annotiert wurde; dazu s. unten, Korrespondenz.



In Deutschland hat sich seit 2011 die Bibliotheca Reiner Speck in Köln zur zentralen Anlaufstelle für Proust-Forscher entwickelt, die als Sammlungsteil die Bibliotheca Proustiana Reiner Speck mit einer Fülle von Korrespondenz, Erstausgaben und Proust-bezogenen Sammlerstücken enthält.



1975 Les Cahiers Marcel Proust conservés à la Bibliothèque nationale. Inventaire matériel et descriptif. Bulletin d’informations proustiennes 1 (1975) S. 13–17.



1982 Marcel Proust: Matinée chez la Princesse de Guermantes. Cahiers du »Temps retrouvé«. Hrsg. von Henri Bonnet in Zsarb. mit Bernard Brun. Paris: Gallimard, 1982.



1991 Marcel Proust: Écrits de jeunesse 1887–1895. Hrsg. von Anne Borrel. Illiers-Combray: Institut Marcel Proust International, 1991.



2004 Anthony R. Pugh: The Growth of »À la recherche perdu«. A Chrono­logical Examination of Proust’s Manuscripts from 1909 to 1914. 2 Bde. Toronto: University of Toronto Press, 2004.



2008 Marcel Proust: Cahiers 1 à 75 de la Bibliothèque nationale de France. Cahier 54. Transcription diplomatique, notes et index par Francine Goujon, Nathalie Mauriac Dyer et Chizu Nakano. Introduction, diagramme et analyse par Nathalie Mauriac Dyer. 2 Bde. Turnhout: Brepols, 2008.



2009 Julie André: Le Cahier 46 de Marcel Proust. Transcription et interprétation. Paris: Université de la Sorbonne nouvelle, 2009. [

https://tel.archives-ouvertes.fr/tel-00713945/document

]



2009 Marcel Proust: Cahiers 1 à 75 de la Bibliothèque nationale de France. Cahier 71. Transcription diplomatique par Shuji Kurokawa et Pierre-Edmond Robert. Introduction, notes et index par Francine Goujon et Na­thalie Mauriac Dyer. Diagramme et analyse par Nathalie Mauriac Dyer. 2 Bde. Turnhout: Brepols, 2009.



2009 Akio Wada: Index général des cahiers de brouillon de Marcel Proust. Osaka: Matsumotokobo, 2009.



2010 Marcel Proust: Cahiers 1 à 75 de la Bibliothèque nationale de France. Cahier 26. Transcription diplomatique par Hidehiko Yuzawa. Introduction par Françoise Leriche et Hidehiko Yuzawa. Notes par Françoise Leriche, Akio Wada et Hidehiko Yuzawa. Diagramme, analyse et index par Na­thalie Mauriac Dyer, Akio Wada et Hidehiko Yuzawa. 2 Bde. Turnhout: Brepols, 2010.



2012 Marcel Proust: Cahiers 1 à 75 de la Bibliothèque nationale de France. Cahier 53. Transcription diplomatique, notes et index par Nathalie Mauriac Dyer, Pyra Wise et Kazuyoshi Yoshikawa. Introduction par Nathalie Mauriac Dyer et Kazuyoshi Yoshikawa. Diagramme et analyse par Na­thalie Mauriac Dyer. 2 Bde. Turnhout: Brepols, 2012.



2013 Marcel Proust: Du côté de chez Swann. Combray. Premières épreuves corrigées (1913). Fac-similé. Introduction et transcription de Charles Méla. Réalisé sous la direction de Jean-Yves Tadié. Paris: Gallimard, 2013.

 





Vorveröffentlichungen



»Der einzige Name, den zu kriegen lohnt, ist Proust; nach dem angle ich gerade.«

(T. S. Eliot am 9. Juli 1922 an Ezra Pound hinsichtlich eines Vorabdrucks für seine literarische Zeitschrift Criterion.)



Gaston Calmette, der Herausgeber der bedeutenden Tageszeitung Le Figaro, hatte Proust tatkräftig zwischen März 1912 und März 1913 mit vier Vorveröffentlichungen aus WS unterstützt, zu einer Zeit, als Proust noch auf der Suche nach einem Verleger war: die Widmung des ersten Bandes war zweifellos der Dank dafür. Nachdem sich die Nouvelle Revue Française darauf besonnen hatte, dass sie sich mit WS ein Meisterwerk hatte entgehen lassen, geizte sie nicht mehr mit Raum für Prousts Texte und publizierte regelmäßig längere Auszüge aus den zu erwartenden Bänden; einige wenige Auszüge erschienen auch in anderen Zeitschriften. Eine vollständige Übersicht gibt Tadié: Recherche IV, S. 1500 f.; sechzehn der dort gelisteten vierundzwanzig kürzeren Auszüge finden sich in deutscher Übersetzung in Hanno Helblings Sammelband Marcel Proust, Der gewendete Tag

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. T. S. Eliots Literaturzeitschrift Criterion gelang es 1924 endlich, die Genehmigung Gallimards für einen Vorabdruck (in englischer Sprache) eines Auszugs aus Albertine disparue zu erlangen (»The death of Albertine«, in: Criterion, July 1924,2, S. 376–394).



Zu Gallimards nicht geringem Verdruss hat Proust auch der beliebten Reihe Les Œuvres libres zwei lange Auszüge, Jalousie und Précaution inutile, aus Sodom II bzw. der Gefangenen überlassen, die November 1921 bzw. Februar 1923 erschienen; die wohlfeile, aber dennoch gut zahlende Monatszeitschrift war auf die Publikation »unveröffentlichter vollständiger Werke« spezialisiert. Beide Texte sind in deutscher Übersetzung unter dem Titel Eifersucht (ca. 130 Seiten) bzw. Unnötige Vorsorge (ca. 100 Seiten) in Hanno Helblings Sammelband Marcel Proust, Albertine,

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 enthalten.



Der letzte Band, Le Temps retrouvé, wurde von der Nouvelle Revue Française in neun Heften von Januar bis September 1927 veröffentlicht, bevor die Buchausgabe im November 1927 erschien.










Die Titelseite der Grasset-Ausgabe von 1913 mit dem Etikett der Nouvelle Revue Française



Die Erstausgabe



»Die Recherche hat etwas von ›Es war Milady‹ an sich«

(Gérard Genette, Figures III, Paris: Seuil, 1972, S. 97).



Swann Ende Oktober legte Proust nach einer Empfehlung seines Förderers, dem Herausgeber des Figaro, Gaston Calmette, der bereits 1912 Auszüge aus Swann vorabgedruckt hatte, sein damals noch zweibändig konzipiertes Romanmanuskript (Le Temps perdu und Le Temps retrouvé) mit dem Arbeitstitel Les Intermittances du cœur dem bekannten Literaturverleger Eugène Fasquelle (1863–1952) vor, bei dem auch zahlreiche Autoren aus Prousts Freundeskreis publizierten. Im Dezember desselben Jahres lehnte Fasquelle jedoch ab, vermutlich aufgrund eines umfangreichen internen Lektoratsberichts des Dichters Jacques Normand (1848–1931; Pseud­onym »Jacques Madeleine«), der unter anderem schrieb: »Am Ende von siebenhundertzwölf Seiten dieses Manuskripts (siebenhundertzwölf mindestens, denn viele Seiten sind mit a, b, c, d versehen) – nach unendlicher Verzweiflung darüber, in unauslotbaren Verwicklungen zu ertrinken und nervenzerrüttender Ungeduld darüber, niemals an die Oberfläche aufsteigen zu können – hat man keine, aber auch nicht die leiseste Ahnung, worum es eigentlich geht. Wozu das Ganze? Was soll es bedeuten? Wohin soll es führen? – Unmöglich, das zu ergründen. Unmöglich, dazu etwas zu sagen. Aber insgesamt und auch hinsichtlich der Bestandteile kommt man nicht umhin, hier ein höchst ungewöhnliches intellektuelles Phänomen zu konstatieren.« (Übers. nach Compagnon, Swann, S. 446–450; der Brief wurde erstmals 1966 publiziert.) Ein kleines Juwel aus dieser Rezension möchte ich dem Leser nicht vorenthalten: Madeleine zitiert eine Passage aus WZ, S. 355 f.: »›In der Armee … hatte ich einen Freund, an den mich dieser Herr ein wenig erinnerte. Ganz egal über was, was soll ich sagen, über dies Glas hier zum Beispiel, da kann er sich stundenlang die Lippen fusselig reden, na ja, vielleicht nicht über dies Glas hier, das war dumm von mir; aber etwa über die Schlacht von Waterloo, über was immer Sie wollen, lässt er so ganz nebenher Sachen vom Stapel, auf die Sie niemals gekommen wären‹« und kommentiert: »Fürchtet der Autor nicht, dass wir das auf ihn anwenden könnten?«



Parallel zu Fasquelle hatte Proust sein Manuskript auch an Gaston Gallimard (1881–1975) geschickt, den Proust 1908 in der Normandie kennengelernt hatte; Gallimard war Leiter des 1911 von André Gide und seinem Freundeskreis gegründeten avantgardistischen Verlags Les Éditions de la Nouvelle Revue Française, der den von Proust bevorzugten Rahmen für sein Werk geliefert hätte. Doch die NRF lehnte ebenfalls Ende Dezember ab, auf Anraten Gides, der sich aber 1914 eines Besseren besann und Proust am 11. Januar einen Entschuldigungsbrief schickte, der in der Proust-Gemeinde einige Verwirrung stiftete, denn 1928 wurde noch nicht jener Brief publiziert, den Proust erhalten hatte, sondern Gides Kladden-Entwurf. Darin schreibt er: »Die Ablehnung dieses Buches wird der größte Fehler bleiben, den die NRF je begangen hat – und (da ich die zweifelhafte Ehre habe, dafür weitgehend verantwortlich zu sein) für mich ein Gram, der quälendste Gewissensbiss meines Lebens. Ich hatte Sie für einen von der ›Côté de chez Verdurin‹ gehalten, einen Snob, einen Salonhelden – etwas, was man in unserer Revue nicht ausstehen kann.« Diese Passage findet sich auch in dem Brief, den Proust tatsächlich erhielt, der aber erst 1963 publiziert wurde (s. Corr. XIII, S. 51 ff.). Der folgende Passus aus der Kladden-Veröffentlichung von 1928, der den Anstoß gegeben haben dürfte für den ›Vertèbres-Wirbel‹ (s. dazu MPE, »Wirbel« I und II), fehlt aber in dem eigentlichen Brief: »Das Unglück wollte es, dass meine Aufmerksamkeit sogleich in die Tasse Kamomillen-Tee auf S. 62 fiel, und dann S. 64 über den Satz stolperte (der einzige des Buches, den ich mir nicht recht erklären kann – bislang, denn ich wollte nicht warten, bis ich es zu Ende gelesen habe, um Ihnen zu schreiben), in dem von einer Stirn die Rede ist, durch die die Wirbel hindurchscheinen.« (Corr. XIII, S. 50 f.). Womöglich hat Gide ihn ja zwischen Entwurf und Reinschrift begriffen.



Nach diesen Misserfolgen ließ ein Freund Prousts, der Schriftsteller Louis de Robert (1871–1937), dem Leiter Alfred Humblot (1865?–1920) des Verlages von Paul Ollendorff (1851–1920) das Manuskript zukommen; um den 10. Februar 1913 schreibt Humblot an Robert: »Lieber Freund, ich mag ja total vernagelt sein, aber mir will nicht in den Kopf, wie ein anständiger Mensch dreißig Seiten darauf verwenden kann zu beschreiben, wie er sich in seinem Bett dreht und wälzt, bevor er Schlaf findet. Da kann ich nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen .« (Übers. nach Robert, Comment débuta Marcel Proust, 1925, S. 13.)



Im Rückblick waren diese ganzen Ablehnungen womöglich ein Glücksfall für Proust und die Leser der Suche, denn die etablierten Verlage hätten wohl kaum die endlosen Änderungen und vor allem Erweiterungen in den Fahnen widerspruchslos hingenommen, die Proust dann schließlich bei Grasset vornahm – allerdings auf eigene Kosten, wie den ganzen Druck des ersten Bandes: Im Februar 1913 hatte Proust seinen Bekannten René Blum (1878–1942), der mit Bernard Grasset (1881–1955) befreundet war, gebeten, diesem das Manuskript des ersten Bandes anzubieten – das ganze Projekt, dessen Gesamttitel jetzt die bekannte Form angenommen hatte, war inzwischen auf drei Bände angeschwollen. Grasset willigte am 11. 3. 1913 ein, Swann auf Kosten des Autors zu verlegen. Nach dem großen Erfolg dieses ersten Bandes nach seinem Erscheinen am 14. November

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 1913 hätte Grasset natürlich gern seinen Autor an sich gebunden, aber der Ausbruch des Ersten Weltkrieges machte ihm einen Strich durch die Rechnung: Grasset wurde eingezogen, und sein recht kleines Verlagshaus lag damit brach. Zudem war die Beziehung zwischen Proust und Grasset ohnehin nicht von Zuneigung geprägt. Dies gab der NRF Gelegenheit, nachdem sie ihren Irrtum eingesehen hatte, Proust zu umwerben und schließlich Grasset abspenstig zu machen, der, von Typhus geschwächt und nach langem Hin und Her, 1916 mit Bitternis einem Auflösungsvertrag zustimmte. Die NRF kaufte die Fahnen für den zweiten Band auf, soweit sie schon hergestellt waren, sowie die Restauflage von 206 Stück des ersten Bandes, die sie anschließend mit einem Aufkleber über dem Grasset-Druckvermerk und in ihrem eigenen Umschlag ab 1917 vertrieb.



Mädchenblüte Die Papierknappheit der Kriegsjahre wie auch Prousts ständige Änderungswünsche führten dazu, dass der zweite Band auch bei dem neuen Verleger erst am 30. November 1918 gedruckt vorlag – und noch ein weiteres halbes Jahr warten musste, bis er erscheinen konnte. Über die Gründe für diese Verzögerung lässt sich nur spekulieren: da der öffentliche Diskurs Ende 1918 so sehr vom Ende des Ersten Weltkrieges am 11. November 1918 in Anspruch genommen war, dürfte Gallimard gefürchtet haben, dass seine Neuerscheinung nicht die gewünschte Aufmerksamkeit finden könnte. Einen weiteren Hinweis liefert Prousts Brief an Berthe Lemaire aus dem Dezember 1918, in dem er die winzige Schrift beklagt (»Fliegenfüße«, »kann und wird keiner lesen«) und schreibt: »auch meine finanziellen Schwierigkeiten werden mich vor einem nicht zurückschrecken lassen: einem ›Nachdruck‹ auf meine Kosten« (s. Briefwechsel Proust–Gallimard, 1989, S. 147).



 Nach dem Erscheinen – in unveränderter Form – am 20. Juni 1919 schließlich wurde das Buch jedoch praktisch umgehend mit dem Prix Goncourt honoriert: es lag wohl doch an Prousts Augen (»selbst die, die gute Augen haben, werden es nicht lesen – all die Arbeit für so ein Ergebnis!«, ebd.).



Neben der regulären Ausgabe erschien 1920 noch eine Luxus-Ausgabe zu 300 statt drei Francs, der »als Lockmittel« jeweils zwei der sogenannten »Placards« beigelegt waren, Collagen aus den Grasset-Fahnen, die Gallimard übernommen hatte, und Ausschnitten aus Prousts Kladden (»Cahiers«). Diese Placards, die von der Sekretärin Mademoiselle Rallet der Nouvelle Revue Française angefertigt worden waren, hatten dem Verlag als Manuskript-Vorlage für den zweiten Band gedient. Für die Sonderausgabe war eine Auflage von einundfünfzig Exemplaren ins Auge gefasst worden; von den demnach einhundertundzwei verteilten Placards sind bislang allerdings erst wenige wieder aufgetaucht, darunter mehrere, die sich jetzt in der Sammlung Speck befinden.



Guermantes, Sodom 1920, 1921 und 1922 erschienen die Folgebände Le Côté de Guermantes I, Le Côté de Guermantes II suivi de So­dome et Gomorrhe I sowie Sodome et Gomorrhe II. Proust hatte gehofft, dass die beiden Guermantes-Bände gleichzeitig mit den »beiden Bände von Sodom I« (das spätere Sodom I plus Sodom II) erscheinen könnten (s. Briefwechsel Proust–Gallimard, S. 242 und auch S. 232 f.), doch durch diese Rechnung machte nach Meinung Prousts der Verleger einen Strich, nach Meinung des Verlegers das Druckhaus: »Die Setzer machen Schwierigkeiten mit Texten, die schwierig zu lesen sind. Die Arbeiter sind auch nicht mehr das, was sie mal waren« (Gallimard am 24. Januar 1921 an Proust). Gallimard war deshalb auf Verlangen des Druckhauses dazu übergegangen, Prousts Manuskripte abtippen zu lassen und ihm diese »Dactylographien« zur Korrektur zu schicken; die Korrektur der Fahnen sollte dann im Verlagshaus nach diesen korrigierten Typoskripten vorgenommen und diese Fahnen Proust nur noch zu einer letzten Durchsicht geschickt werden. Natürlich expandierte Proust wie gewohnt, so dass Gallimard nun diese Ergänzungen abtippen und wiederum an Proust zur Durchsicht schicken musste – die Korrespondenz zwischen Gallimard und Proust in den Jahren 1920/21 vermittelt einen Eindruck von dem entstandenen Chaos. Die Erstausgabe war dementsprechend von Fehlern durchsetzt: »Bei Guermantes I ist es so katastrophal, dass ich schon überlegt habe, Sie zu bitten, den Band erst im Februar zusammen mit Guermantes II her­auszubringen, damit es nicht so auffällt. Monsieur Breton glaubt, es gelesen zu haben, Jacques Rivière glaubt, es gelesen zu haben. Und beide haben nicht gemerkt, dass man jedesmal, wenn ich von Bergottes Romanen spreche, ›Bergsons Romane‹ gedruckt hat.« Die Fehlerliste, die Proust für den Verlag zusammenstellte, umfasste 23 Seiten (Corr. XIX, S. 438 f.). Der Ton in der Korrespondenz mit Gallimard blieb trotz aller Ärgernisse freundlich und höflich, doch in der Gefangenen machte Proust seiner Frustration Luft: » log nicht auf die gleiche Art wie Albertine, und auch nicht auf die gleiche Art wie Andrée, aber ihre jeweiligen Lügen waren, trotz ihrer großen Vielfalt, derart ineinander verschachtelt, dass die kleine Bande die undurchdringliche Solidität gewisser Handelshäuser wie beispielsweise Buch- oder Zeitungsverlage aufwies, bei denen der unglückliche Autor « – zur Fortsetzung siehe Die Gefangene, S. 239.

 



Wann und warum der Entschluss gefasst wurde, das erste Kapitel des ursprünglichen Sodom I als Sodom I an Guermantes II anzubinden und das restliche Sodom I in Sodom II umzubenennen (damit dann auch das ursprüngliche Sodom II in Sodom III), lässt sich nicht mehr rekonstruieren; in einem Brief Prousts an Gallimard von Ende Juni 1920 findet sich die Bemerkung: »Die Côté de Guermantes II will ich in einem Band mit Sodome et Gomorrhe I erscheinen lassen. Das ist eine bessere Aufteilung. Es ist im übrigen auch das, was vereinbart wurde«, während Ende Februar noch von »den zwei Bänden Sodome et Gomorrhe I« die Rede war, also offenbar der alten Einteilung (Briefwechsel Proust–Gallimard, S. 250 bzw. 242).



Die Gefangene, Die Entflohene, Die wiedergefundene Zeit Im Januar 1922 beschloss Proust, den ursprünglich geplanten Band Sodom III in zwei Teilbände Sodom III und Sodom IV aufzuspalten, auch auf die Gefahr hin, dass die Einzelbände recht dünn werden könnten: »man sollte in meinem Fall nicht die Behauptung ­herausfordern : ›Er lässt arg nach‹« (Briefwechsel Proust – Gallimard, S. 573; 22. Juni 1922). Im Juli 1922 schlug Proust für diese beiden Teile die Untertitel La Prisonnière und La Fugitive vor (a. a. O., S. 551 f.), wobei sich aber das Problem ergab, dass bei der Nouvelle Revue Française gerade die Übersetzung eines Romans von Rabindranath Tagore unter ebendiesem Titel erschienen war, und »ohne Fugitive keine Prisonnière« (ebd.). Ende September fragte Gallimard deshalb bei Proust an, ob er denn wirklich den vorgesehenen Titel beibehalten wolle, und Proust antwortete (Briefwechsel Proust–Gallimard, S. 621): »seit der Titel La Fugitive im Verschwinden begriffen ist, ist die Symmetrie dahin«. In der ersten Maschinenabschrift des Manuskripts zum ursprünglichen (ungeteilten) Sodom III findet sich dann die handschriftlich eingetragene Überschrift: »Albertine disparue / Chapitre I«, und in der zweiten Maschinenabschrift, die den Titel La Fugitive trägt, ähnlich der Vermerk: »Hier beginnt Albertine disparue« (NAF 16748; s. auch Tadié, Recherche IV, S. 1043, zu page 3, der die Handschrift offenbar Marcel Proust zuschreibt).



Nach Prousts Tod nahmen sich Prousts Bruder Robert und der NRF-Redakteur Jacques Rivière der nachgelassenen Manuskripte an und bereiteten sie zur Publikation vor; das Manuskript zur Gefangenen lag Gallimard bereits fertig vor, soweit man bei Prousts Manuskripten von ›fertig‹ reden konnte (»keiner der beiden Teile ist ›fertig‹ im eigentlichen Sinn von ›fertig‹«, Briefwechsel Proust–Gallimard, S. 551), zu den letzten beiden Bänden jedoch existierten nur Prousts sogenannte Reinschriften (»Papyrollen«) und zahllose lose Zettel. Bei der Zusammenstellung der Texte wurden deshalb zahlreiche Irrtümer begangen und auch Auslassungen vorgenommen, weshalb Gallimard, der inzwischen die Nouvelle Revue Française übernommen hatte, 1954 eine dreibändige kritische Neuedition unter der Herausgeberschaft von Pierre Clarac und André Ferré in der Reihe Bibliothèque de la Pléiade unternahm. Infolge des so neugeweckten Interesses und auch nach dem Tod von Prousts Nichte Adrienne »Suzy« Mante-Proust tauchte jedoch eine solche Menge neuen Materials auf, dass abermals eine Überarbeitung vor allem der letzten Bände erforderlich wurde. Diese Aufgabe übernahm Jean-Yves Tadié mit der vierbändigen, umfangreich kommentierten Ausgabe bei Gallimard 1987–89, die unserer Übersetzung im wesentlichen zugrunde liegt.



»Albertine disparue« Zu der Hinterlassenschaft von Suzy Mante-Proust gehörte auch eine stark gekürzte und im übrigen wenig veränderte Fassung des sechsten Bandes, das sog. Mauriac-Typoskript,