Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«

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Oben »doute«, 966 Vorkommen; unten »amour«, 933 Vorkommen (Seitenzahl des Typoskripts meiner Übersetzung der Recherche aufgetragen über der Nummer des Vorkommens des jeweiligen Wortes).

Der Arzt Dr. Pierre Merklen hatte 1904 Prousts Asthma als nervös bedingt diagnostiziert. Proust verbrachte daraufhin von Anfang Dezember 1905 bis Mitte Januar 1906 sechs Wochen im Sanatorium des Neurologen Dr. Paul-Auguste Sollier (1861–1933) in Boulogne-sur-Seine zur Behandlung seiner »Neurasthenie«, jedoch nach seiner eigenen Einschätzung ohne nennenswerten Erfolg. Dennoch dürfte dieser Aufenthalt in anderer Hinsicht Früchte getragen haben, denn Solliers Therapie baute nicht nur auf Isolation, sondern auch auf der Auslösung »unwillentlicher Erinnerungen« auf. Proust mag hier also auf ein entscheidendes Konzept für die Umgestaltung des Jean Santeuil zur Recherche gestoßen sein: vgl. dazu etwa die Titel von Solliers Monographien Les Troubles de la Mémoire (1892) oder Le Problème de la Mémoire (1900). Auf den Zusammenhang zwischen Prousts zentralem Thema und Solliers Spezialgebiet haben wohl als erste Bogousslavsky und Walusinski3 hingewiesen. Besonderen Einfluss dürfte aber die zur Konzeption der Recherche zeitlich nahe Schrift Le doute (1909) von Sollier ausgeübt haben, denn das Konzept des Zweifels zieht sich wie ein roter Faden durch die Recherche: das Wort »doute« tritt ungefähr ebenso häufig auf wie das Wort »amour«, jedoch mit unübertroffener Regelmäßigkeit: die Liebe zwar kommt und geht, der Zweifel aber besteht.

Zu Erwähnungen Solliers durch Proust vgl. insbes. jene in den Carnets S. 51, wo er die Pfiffe der Lokomotive aus dem Auftakt zu Combray in Verbindung mit dem Aufenthalt bei Sollier bringt, sowie etliche in der Correspondance.

Aus heutiger Sicht deutet das Auftreten der Asthmaanfälle vor allem im Frühjahr und insbesondere in Parks und Gärten auf eine Pollenallergie hin, die meist mit einer Hausstauballergie einhergeht; unter diesem Aspekt war Prousts Entschluss, 1910 sein Schlafzimmer am Boulevard Haussmann zur Geräuschdämmung mit Korktapeten ausschlagen zu lassen, ohne Zweifel kontraindiziert.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte Proust vorwiegend schreibend im Bett. Kurz nach der Fertigstellung des Manuskripts zu seinem Hauptwerk À la recherche du temps perdu starb er am 18. November 1922 in seiner Wohnung in Paris an Lungenentzündung. Die geeigneten Antibiotika standen erst ab 1935 zur Verfügung.

Liebschaften

Prousts erste Jugendliebe war den Quellen zufolge Marie Bénardaky (1874–1949), zweifellos ein Vorbild für Gilberte, die in der Nähe der Champs-Élysées (Rue de Chaillot) wohnte, wo er ihr 1886 begegnete, mit der er dort Barlauf spielte und die er in einer Widmung von 1918 für Jacques de Lacretelle als »eine der beiden großen Lieben meines Lebens« bezeichnete – ohne allerdings die zweite zu benennen. Aber Marie schien nicht viel von ihm wissen zu wollen.

Vermutlich im Frühjahr 1888 schrieb Proust einen Brief an seinen Schulfreund Jacques Bizet, der darauf schließen lässt, dass Proust ihm zuvor einen Antrag gemacht hatte, der Jacques wohl nicht willkommen war (»Ich finde es traurig, die Frucht nicht zu pflücken, die wir schon bald nicht mehr werden pflücken können. Dann wäre es schon … die verbotene Frucht. Aber jedenfalls findest Du sie ja jetzt schon vergiftet«; Corr. I, S. 104). Jacques wurde später Taxiunternehmer in Monaco und vermittelte Proust den Fahrer Alfred Agostinelli, der später noch eine erhebliche Rolle in Prousts Leben spielte.

Im Oktober 1888 reichte Proust bei der von ihm mitgegründeten Schülerzeitschrift La Revue lilas ein kräftig homoerotisch getöntes Prosagedicht Glaukos ein (Übers. in: Nachgelassenes), das als zu skandalös abgewiesen wurde und Daniel Halévy gemeint haben dürfte: Man muss nicht nur die Bravour bewundern, mit der der damals siebzehnjährige Schüler die übliche Verstellung verweigerte, sondern auch die Gelassenheit, mit der die Adressaten die offenbar unerwünschten Anträge auf sich beruhen ließen.

Eine Freundschaft, mit der Proust offenbar große Hoffnungen verband, war die zu Willie Heath, einem jungen Engländer, den Proust im Frühjahr 1893 im Bois de Boulogne kennenlernte und der bereits ein halbes Jahr später, am 3. Oktober 1893, an Ruhr starb. In der Widmung »Meinem Freund Willie Heath« von Les Plaisirs et les Jours schreibt Proust: »Wir träumten davon, wir hatten uns geradezu fest vorgenommen, immer inniger in einem Kreis großherziger, auserlesener Frauen und Männer zusammenzuleben, von Dummheit, Laster und Bosheit weit genug entfernt, um uns vor den Pfeilen ihrer Vulgarität sicher zu fühlen.«

Im Herbst 1901 lernte Proust den Comte Bertrand de Salignac-Fénelon (1878–1914) durch den gemeinsamen Bekannten Antoine Bibesco kennen. Offenbar entwickelt sich zwischen den beiden schnell ein enges Freundschaftsgefühl: Die Szene aus Guermantes, in der Saint-Loup über die Bänke im Restaurant steigt, um Marcel einen Mantel zu besorgen, hat ihr Vorbild im Restaurant Larue, wo Bertrand sich entsprechend verhielt. 1902 jedoch kam das Erwachen: Die beiden unternahmen eine gemeinsame Reise durch Holland, die Proust sich wohl recht sentimental vorgestellt hatte, von der er jedoch äußerst deprimiert an seine Mutter berichtete. Fénelon ging kurz darauf als Attaché nach Konstantinopel, meldete sich dann als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg und fand 1914 den Tod. Proust betrauerte ihn zutiefst.

Alfred Agostinelli (1888–1914) schließlich, der letzte in diesem Reigen tragischer Liebesaffären, war Proust von seinem Kollegen Odilon Albaret, dem Gatten von Prousts Haushälterin Céleste Albaret und Chauffeur bei Jacques Bizets monegassischem Taxi- und Mietwagen-Unternehmen, als Fahrer vermittelt worden. 1907 und 1908 machten Proust und Agostinelli zahlreiche Ausflüge vor allem in die Normandie und die Bretagne, die in Prousts Figaro-Artikel »Reiseeindrücke im Automobil«4 ihren Niederschlag gefunden haben. Im Sommer 1913 stellte Proust Agostinelli abermals ein, diesmal als Sekretär, der seine Manuskripte abtippen sollte; Agostinelli wohnte in dieser Zeit zusammen mit seiner (übrigens als hässlich verschrienen) angeblichen Frau Anna Square in der Wohnung Prousts, der zudem Anna eine Beschäftigung am Théâtre des Variétés beschaffen sollte. Im Dezember jedoch kehrten die beiden Knall auf Fall Proust und Paris den Rücken, und Alfred meldete sich als »Marcel Swann« bei einer Pilotenschule in Antibes an. Proust setzte alle Hebel in Bewegung, um ihn zur Rückkehr zu bewegen, aber vergebens. Nachdem Agostinelli mit 26 Jahren seinen Pilotenschein erworben hatte, versprach Proust, ihm ein Flugzeug zu kaufen, in das Verse aus Baudelaires Le Cygne eingraviert werden sollten. Bevor es dazu kommen konnte, stürzte er jedoch schon bei seinem zweiten selbständigen Flug ab. Seine von den Fischen übel zugerichtete Leiche wurde erst eine Woche später gefunden. Proust war von Alfreds Tod so sehr erschüttert, dass er sich mit Selbstmordgedanken trug. An André Gide schrieb er: das »Maß ist übervoll geworden durch den Tod eines jungen Freundes, den ich wohl mehr geliebt haben mag als alle anderen« (Corr. XIII, S. 245).

Als Lebensgefährte Prousts wird häufig Reynaldo Hahn (s. unten) genannt, und sicherlich war diese lebenslange Freundschaft von zärtlicher Zuneigung geprägt, wie die etwas infantile Turtel-Sprache der Briefe Prousts an Hahn ausweist. Die frühen Briefe geben allerdings Anlass zu der Vermutung, dass die Beziehung zumindest in ihrer Anfangsphase auch sexuelle Aspekte aufwies. So schreibt Proust am 16. Oktober 1894 in wohl eindeutig zweideutiger Absicht an Hahn: »Ihre kleine Gans, die dabei ist, im Stall zu spielen, trägt mir ihre ehrerbietigsten Grüße an den kleinen Meister auf, als dessen respektvolle Diener wir uns zu bezeichnen wagen.« Über die körperlichen Aspekte von Prousts Liebesleben gehen allerhand Gerüchte um, denen Céleste Albaret in ihren Erinnerungen allerdings energisch entgegentritt. Unbestritten sind aber wohl zahlreiche Ausflüge in das Männerbordell, das Albert de Cuziat in der Rue de l’Arcade seit 1916 betrieb. Die dort gesammelten Erfahrungen haben sich – eventuell nur zum Teil – in dem Hotel Jupiens niedergeschlagen, in dem Marcel in Le Temps retrouvé vorgeblich unwissentlich landet. Proust war bereits seit 1911 mit de Cuziat gut bekannt, dessen umfangreiche Kenntnisse aristokratischer Genealogien er schätzte.

Etwas unklar ist in dieser Hinsicht Prousts Verhältnis zu der Schauspielerin Louisa de Mornand, der Geliebten seines Freundes Louis d’Albufera. Louis hatte Proust offenbar in Verdacht, mit Loui­sa angebändelt zu haben, was dieser aber im Juni 1903 in einem Gedicht an Albufera (in: Cahiers Marcel Proust 10, S. 141–143) weit von sich weist. Ein Gedicht an Louisa selbst vom April 1904 beweist allerdings eine verdächtige Vertrautheit Prousts mit ihrem Boudoir (siehe Cahiers Marcel Proust 10, S. 127 f.) – ein Verdacht, den sie 1928 in einem Interview mit der Zeitschrift Candide allem Anschein nach bestätigt –, wogegen dann allerdings wieder Prousts Brief an Louisa vom 9. Juli 1903 zu sprechen scheint: »glauben Sie nicht, dass dies eine indiskrete, anmaßende und fehlgeleitete Art sei, Ihnen den Hof zu machen. Nicht nur, dass das sinnlos wäre, denn Sie würden mich schnellstens davonjagen, ich würde auch lieber eher sterben, als die Augen zu der bewunderten Frau eines Freundes zu erheben …« (Corr. III, S. 366); aber danach mag ja noch viel passiert sein!

 

Bekanntschaften

Nicht ganz ohne Grund hatte André Gide Proust als einen »mondain amateur« eingeschätzt (Brief vom 11. 1. 1914, s. auch unten): Schulfreunde führten ihn in die Salons ihrer Mütter ein, wo er offenbar mühelos neue Freundschaften schloss, die ihn in weitere Salons einführten, und so weiter. Der Kreis der Freunde und Bekannten wuchs damit ins Uferlose, so dass hier nur die wichtigsten Persönlichkeiten hervorgehoben werden können; einen deutlich umfangreicheren Überblick, der aber trotz der 188 Einträge noch immer eine Auswahl darstellt, gibt Michel-Thiriets Marcel Proust Lexikon. Für das volle Spektrum muss auf Tadiés Biographie verwiesen werden.

Ein entscheidender Schritt in Prousts Leben war sicherlich der in den exklusiven Salon der Madame Madeleine Lemaire (1845–1928) in der Rue de Monceau, denn dort schloss er 1893 engere Bekanntschaft mit Robert de Montesquiou und 1894 mit Reynaldo Hahn, den beiden zentralen Personen in seinem geistigen Leben (Montesquiou hatte bereits bei Prousts Eltern gesellschaftlich verkehrt). Madame Lemaire hatte Proust vermutlich im Salon der ­Madame Straus kennengelernt, der Mutter seines Schulfreundes ­Jacques Bizet. Madame Lemaire war Malerin und deshalb mit der Kunstszene wohlvertraut, und zudem eine Freundin der Princesse Mathilde, die ihr den Zugang zu höchsten Adelskreisen eröffnete.

Comte Robert de Montesquiou-Fezensac (1855–1921) war ein unvergleichlicher Repräsentant dieser Salon-Szene; er entstammte einem alten, vermögenden Adelsgeschlecht und kehrte dieses auch gern heraus; ein Dandy und Snob, aber gut aussehend und intelligent, stellte er eine Art Leitfigur für die Jugend des Adels und des gehobenen Bürgertums dar. Proust bewunderte vor allem sein sicheres künstlerisches Urteil und apostrophierte ihn in einer Rezension als einen »Lehrer des Schönen«; seine symbolistischen Gedichte kursierten in den mondänen Kreisen, fanden darüber hinaus aber kaum Verbreitung und wurden nach seinem Tod weitgehend vergessen. Seine Autobiographie Les Pas effacés (1923) bildet jedoch eine wichtige Informationsquelle über seine Zeit. Als 1919 der zweite Band der Recherche erschien, erkannte Montesquiou sich in dem Baron de Charlus wieder und war nicht amüsiert (siehe Corr. XVIII, S. 468 ff.) – die Beziehung litt entsprechend, trotz Prousts Beteuerung, dass er vielmehr den Baron Doäzan im Auge gehabt habe (siehe Corr. XX, S. 194 f.). Dennoch kann man wohl mit François Mauriac und Jacques-Émile Blanche sagen, dass die Recherche ohne den Einfluss und das Vorbild Montesquious nicht geworden wäre, was sie ist.

Durch Robert de Montesquiou lernte Proust zahlreiche Mitglieder des französischen Adels kennen, die dann auch die eine oder andere Spur in der Recherche hinterlassen haben: nach dem Erscheinen des jeweils nächsten Bandes war es ein beliebtes Pariser Ratespiel, zu ermitteln, wer wohl wer sei. Die wichtigsten von Robert vermittelten Bekanntschaften waren die mit Boni de Castellane, Élisabeth de Clermont-Tonnerre und mit Maurice Barrès.

Der Marquis Boniface (»Boni«) de Castellane (1867–1932) war eine kaum weniger schillernde Figur als Montesquiou, warf allerdings noch ungehemmter mit Geld um sich als dieser. Dank seiner Ehe mit der Amerikanerin Anna Gould, der Erbin eines Eisenbahnmagnaten, schienen die Mittel unerschöpflich: am 2. Juli 1896 etwa gaben die Castellanes im Bois de Boulogne ein Fest für 3000 Gäste.5 Nach dem Bau eines Palastes aus rosa Marmor an der Avenue du Bois sahen die Dinge allerdings anders aus. Anna ließ sich 1906 von ihm scheiden, und Boni musste sich dazu bequemen, seine teuer erworbene Expertise mit erlesenen Sammlerstücken als Antiquitätenhändler für den Broterwerb zu nutzen.

Die Kochbuch-Autorin Duchesse Élisabeth de Clermont-Tonnerre (1875–1954) lernte Proust 1903 kennen; sie wurde bald zu einer seiner engsten Vertrauten. Élisabeth stand dem Dichterinnenkreis um Nathalie Barney nahe, der seinerseits Sappho nahegestanden haben soll und zu dem insbes. Lucie Delarue-Mardrus gehörte, die Frau des 1001 Nacht-Übersetzers Joseph-Charles Mardrus.

Den Politiker und Schriftsteller Maurice Barrès (1862–1923) schließlich lernte Proust 1891 vermutlich durch Montesquiou kennen; mit seinen nationalistischen Überzeugungen, die er in Wort und Schrift zum Ausdruck brachte, konnte Proust wohl nicht viel anfangen; dafür bewunderte er aber seinen leicht fließenden, durchrhythmisierten Stil. Barrès ist sicherlich neben Alphonse Daudet und Anatole France ein Leihgeber für den »style Bergotte«.

Reynaldo Hahn (1874–1947),6 ein empfindsamer, feinfühliger Sänger, Pianist und Komponist, der Proust bis an dessen Lebensende in einer zärtlichen Freundschaft verbunden blieb, war in gewisser Weise die Gegenfigur zu dem exaltierten, exzentrischen und extrovertierten Montesquiou. Hahn wurde in Caracas als Sohn einer baskischen Venezolanerin und eines jüdischen Kaufmanns aus Hamburg geboren, verließ aber bereits 1878 zusammen mit seiner Familie Venezuela in Richtung Paris. Dennoch sprach er fließend Spanisch »mit einem ausgesprochen heimatlichen Akzent« (so der kubanische Schriftsteller Alejo Carpentier, der Hahn in den Dreißigern besuchte, am 16. August 1951 in der venezolanischen Tageszeitung El Nacional). Im Salon Lemaire spielte Hahn Lieder von Schubert, Schumann, Gounod sowie eigene Vertonungen von Gedichten Verlaines am Klavier; sein umfangreiches Œuvre wird noch heute zumindest in Frankreich hoch geschätzt. Hahn machte Proust mit der Musik von Saint-Saëns bekannt, dessen Sonate in d-Moll für Geige und Klavier mit Hahn am Piano im Salon Lemaire in Prousts Gegenwart aufgeführt wurde; die »kleine Phrase« daraus wurde zu einem Leitmotiv ihrer Freundschaft. In Ruskins Todesjahr und vermutlich anlässlich dieses Todes am 20. Januar 1900 unternahmen Proust und seine Mutter im Mai eine Reise nach Venedig, wo sie sich mit Reynaldo Hahn und dessen Cousine Marie Nordlinger trafen, mit der Proust seine Begeisterung für Ruskin teilte und die ihm später bei seinen Ruskin-Übersetzungen assistierte. Hahn komponierte 1902 ein Stück Les Muses pleurant la mort de Ruskin (BnF VM7-17879) und widmete es Proust. Diese Venedigreise hat sicherlich in der Venedigreise Marcels in der Entflohenen ihre kunsthistorischen Spuren hinterlassen (im Herbst desselben Jahres unternahm Proust eine weitere Reise nach Venedig, diesmal allein). 1895 lernte Proust durch Reynaldo Hahn Sarah Bernhardt kennen, mit der dieser befreundet war und deren Biographie er 1930 verfasste (La Grande Sarah). Ebenfalls durch Reynaldo Hahn wurde Proust 1910 mit Jean Cocteau bekannt gemacht, der zusammen mit Federico (»Coco«) de Madrazo y Ochoa das Li­bretto zu Hahns Ballett Le Diable bleu verfasste, aber auch an den Szenarien für die Ballets Russes beteiligt war, was es Proust ermöglichte, auch Diaghilev und Nijinsky zu treffen. Durch Hahns Schwester Marie de Madrazo ließ Proust Erkundigungen zu Stoffmotiven bei ihrem Neffen einholen, dem Damenschneider und Stoffdesigner Mariano Fortuny (1871–1949). Zur Verwandtschaft Hahns mit der weitverzweigten, auch im Prado gut vertretenen spanischen Maler-Dynastie de Madrazo, die Proust zum Teil kennenlernte – insbes. auch Coco (= Frédéric = Federico) de Madrazo y Ochoa, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband – s. den Stammbaum in Kap. VIII.7

Die folgenreichste Bekanntschaft, die Proust durch Hahn 1894 vermittelt wurde, war aber zweifellos die mit Alphonse Daudet, dessen Werke Proust schon von Jugend an bewundert hatte; Bergotte dürfte einige seiner literarischen Charakteristika von Daudet geerbt haben. 1919 war Daudets Sohn Léon maßgeblich daran beteiligt, dass Proust den Prix Goncourt (s. unten) erhielt. Mit beiden Söhnen, Léon und Lucien, verband Proust eine lebenslange Freundschaft, trotz des aktiven Antisemitismus des Journalisten Léon. Die Freundschaft mit ihm führte 1900 zu der Bekanntschaft mit Gaston Calmette, dem Herausgeber des Figaro, der Proust nachdrücklich förderte und dem der erste Band der Recherche gewidmet ist. Die Freundschaft mit dem sieben Jahre jüngeren Maler und Schriftsteller Lucien nahm recht bald deutlich amouröse Züge an, was den Kritiker Jean Lorrain vom Journal dazu veranlasste, von einer »besonderen Freundschaft« zu sprechen; Proust forderte ihn daraufhin zum Duell mit Pistolen: »Niemand wurde verletzt, und die Sekundanten erklärten den Streit für beigelegt« (Le Figaro, 2. 2. 1897). Nach dem Erscheinen von Swann schrieb Lucien eine hingerissene Rezension für den Figaro.

Im Salon von Madame Straus hatte Proust neben Madame Lemaire 1891 auch Jacques-Émile Blanche (1861–1942) kennengelernt, einen erfolgreichen Gesellschaftsmaler, der 1892 das allgemein bekannte Porträt von Proust anfertigte. Die Familie Blanche lebte in Auteuil, was Proust Gelegenheit zu häufigen Besuchen gab; Émiles Vater, der berühmte Neurologe Antoine, betrieb in Auteuil eine Nervenheilanstalt, in der er neben anderen Künstlern und Schriftstellern auch Maupassant in dessen letzten Lebenstagen behandelte. Die Freundschaft zwischen Proust und Jacques-Émile Blanche hatte eher sporadischen Charakter; so ruhte von 1893 bis 1914, immerhin 21 Jahre lang, jeglicher Kontakt zwischen den beiden. 1918 verfasste Proust ein Vorwort zu Émiles De David à Degas, das zu heftigen Meinungsverschiedenheiten führte, auf die Émile dann in der Widmung des Folgebandes Dates einging. In seinem Buch Mes Modèles (1928) erinnert sich Émile ausführlich an Proust und seine Beziehung zu ihm.

Dem gleichen Salon verdankte Proust die Bekanntschaft mit der Urenkelin Laure-Marie (1859–1936) des Marquis de Sade, die 1879 den Comte Adhéaume de Chevigné heiratete und der der junge Proust im Frühjahr 1892 bei ihren Spaziergängen aufzulauern pflegte. Als sie sich bei der Lektüre von Guermantes in dieser Szene und in dem Vogelprofil (»das zähe Huhn, das ich einst für einen Paradiesvogel hielt«, Corr. XX, S. 349) der Herzogin von Guermantes wiedererkannte, brach sie die Beziehung zu Proust ab: »Als ich zwanzig war, wollte sie mich nicht lieben; muss sie sich jetzt, wo ich vierzig bin und aus ihr das Beste der Herzogin von Guermantes gemacht habe, weigern, mich zu lesen?«8

Einen weiteren Ausgangspunkt für interessante Bekanntschaften bildete die aus Rumänien stammende Chopin-Interpretin Princesse Rachel Bassaraba de Brancovan (1847–1923), die Proust während seines Urlaubs in Évian 1893 kennenlernte. Ihre eine Tochter, Hélène (1878–1929), der Proust eine tiefe Zuneigung entgegenbrachte und der er 1906 das Vorwort zu Sésame et les Lys widmete, heiratete 1898 den Prince Alexandre de Caraman-Chimay, die andere, Anna (1876–1933), den Comte de Noailles. Anna wiederum machte Proust mit ihren Cousins bekannt, den Princes Antoine und Emmanuel Bibesco, zu denen sich eine enge Freundschaft entwickelte, die gelegentlich auch als »intim« beschrieben wird. Vierter im Bunde war Prousts stets angehimmelter Schulfreund Bertrand de Fénelon, den die Bibesco-Brüder aber schon vorher kannten. Die Mutter der beiden Brüder, die ebenfalls aus Rumänien stammende Hélène Bibesco (1855–1902), unterhielt einen Salon, in dem die künstlerische Elite verkehrte, nicht zuletzt der von Proust geschätzte Autor Pierre Loti (1850–1923). Die Sprachschnitzer des Hoteldirektors in Balbec, der aus Rumänien stammt, mag Proust zum Teil auch Rachel de Brancovan oder Hélène Bibesco abgelauscht haben.

Enger noch als Prousts Verhältnis zu Hélène, deren Charme ihn bezauberte, war das zu Anna de Noailles, deren Dichtungen er bewunderte und deren Gedichtband Les Éblouissements er 1907 in der Literaturbeilage des Figaro in den höchsten Tönen lobend besprach. Umgekehrt bezeugt ein umfangreicher Briefwechsel das lebhafte Interesse, das Anna an Prousts Arbeit schon während der Entstehung von Contre Saint-Beuve und später an der Recherche nahm. Über Anna de Noailles lernte Proust 1902 den halbjüdischen Duc Armand de Guiche (1879–1962) kennen, mit dem er sich häufig in Restaurants traf und der später als Physiker reüssierte, sowie den Duc Louis d’Albufera (1877–1953), genannt »Albu«, der sich vor allem für Autos, Reisen und Frauen interessierte, aber dennoch an Proust hing, bis er nach dem Erscheinen von Sodome et Gomorrhe 1922 sich und seine Geliebte Louisa de Mornand in Saint-Loup und Rachel wiederzuerkennen meinte. Prousts Versöhnungsversuchen war kein Erfolg beschieden.

1889, während seines Militärdienstes, wurde Proust in den berühmten Salon der Bankierstochter Léontine Arman de Caillavet (1844–1910) eingeführt – von wem, ist nicht bekannt –, in dem »Tout Paris« verkehrte (Maler, Politiker, Schauspieler, Schriftsteller, jedoch keine Musiker), freundete sich mit dem Sohn Gaston (1869–1915) an, der Redakteur des Figaro war und im Ersten Weltkrieg fiel, und lernte endlich einen seit früher Jugend glühend verehrten Autor kennen, Anatole France (1844–1924), den Geliebten von Madame Arman, dem Proust im ersten Teil des zweiten Bandes in der Person Bergottes ein liebevoll-ironisches Denkmal errichtete. Anatole France schrieb 1896 zwar das Vorwort zu Prousts Les Plaisirs et le Jours, schien aber kein tiefergehendes Interesse an dieser Bekanntschaft zu haben.

 

André Gide (1869–1951) lernte Proust 1891 durch seinen Studienkollegen Gabriel Trarieux kennen. Gide arbeitete ab 1893 bei der avantgardistischen Literaturzeitschrift La Revue blanche und leitete ab 1911 mit anderen die Nouvelle Revue Française, eine Funktion, in der er noch eine besondere Rolle für die Recherche spielen sollte; dazu s. weiter unten den Abschnitt zur Erstausgabe (S. 71). Die Beziehung zwischen dem heimlichen Homosexuellen Proust und dem bekennenden Homosexuellen Gide beschränkte sich bis 1921 auf das Geschäftliche, bis die Publikation von Sodome et ­Gomorrhe I das gemeinsame Interessengebiet offenbarte. Von da an besuchte Gide Proust öfter, um seine Darstellung des Themas mit ihm zu diskutieren. Gide seinerseits hatte eine Verteidigungsschrift der Homosexualität verfasst, betitelt Corydon, die er 1920 privat drucken ließ (publiziert 1924).

Eine wichtige Bekanntschaft schließlich, die einmal nicht über Dritte vermittelt wurde, ist die mit den Kunstmäzenen Violet (1874–1962) und Sydney Schiff (1868–1944). Violet, geb. Beddington, war eine englische Übersetzerin französischer Literatur, die der englische Romanautor Sydney Schiff 1911 in zweiter Ehe heiratete. 1919 schrieb Sydney an Proust, um ihm seine Bewunderung für Swann auszudrücken, widmete ihm seinen Roman Richard Kurt und bat ihn, in seiner Literaturzeitschrift Art and Letters einen Auszug aus dem zweiten Band vorabdrucken zu dürfen, was Proust aber so kurz vor dessen Erscheinen ablehnte. Die Korrespondenz zwischen quasi Unbekannten, die sich – soweit erhalten – wie ein Briefwechsel zwischen uralten Freunden liest, riss bis zu Prousts Tod nicht ab. In der Spargelzeit 1919 begegneten sie sich schließlich persönlich in Paris und diskutierten eine Nacht hindurch in Prousts Wohnung. Erstaunlicherweise klärte sich dennoch nicht der Irrtum Prousts auf, dass »Stephen Hudson«, der Name, unter dem Richard Kurt erschienen war, das Pseudonym von Violet und nicht von Sydney Schiff sei, was Prousts Briefen an die Schiffs gelegentlich eine unfreiwillige Komik verleiht. Im Mai 1920 und im Mai 1922 kamen sie noch einmal in Paris zusammen, wenn auch nur kurz. Das Treffen 1920 erfolgte anlässlich eines Diners, das die Schiffs zu Ehren Strawinskys nach der Uraufführung von dessen Oper Le Renard gaben; bei dieser Gelegenheit war auch das legendäre Schweigen zwischen Proust (im Pelz) und Joyce (im Vollrausch) zu hören, als die beiden Großmeister der Sprache einander nichts zu sagen wussten.9

Curriculum vitae

In der folgenden Übersicht über die wichtigsten Lebens- und Publikationsdaten sind am Ende jedes Jahres-Absatzes die Veröffentlichungen aus dem jeweiligen Jahr aufgelistet.

1871 10. Juli: Geburt von Valentin Louis Georges Eugène Marcel Proust.

1873 24. Mai: Geburt von Marcel Prousts einzigem Geschwister Robert.

1878 Osterferien in Illiers.

1881 Proust hat seinen ersten Asthmaanfall. Im Herbst der erste Theaterbesuch.

1882 Oktober: Eintritt in die Quinta des Lycée Condorcet.

1886 Proust beantwortet das erste Mal einen der berühmten Fragebögen (s. unten, S. 52–56) und liest Augustin Thierrys Aux temps mérovingiens. Im September Aufenthalt in Illiers. Oktober: Er muss die Sekunda wiederholen, weil er im Vorjahr zu lange gefehlt hat.

1887 Proust spielt mit Marie de Bérnadaky in den Champs-Élysées. Im Oktober Versetzung in die Unterprima, wo er einen Aufsatz über Racine verfasst: »Racine leidenschaftlich zu lieben wäre ganz einfach die tiefste, zärtlichste, schmerzlichste, die aufrichtigste Empfindung …« Zusammen mit Daniel Halévy gründet er die monatliche, hektographierte Schülerzeitschrift Le Lundi. Revue artistique et litteraire, von der dreizehn Nummern erscheinen.

1888 Im Oktober Versetzung in die Philosophieklasse (Oberprima). Proust liest Barrès, Renan, Leconte de Lisle, Loti und belegt den Philosophie-Kurs von Alphonse Darlu, mit dem er auch später noch in Verbindung blieb, und schreibt im Unterricht Liebesbriefe an seine Klassenkameraden Jacques ­Bizet und Daniel Halévy.

1889 Ernest Renan widmet ihm sein Buch La vie de Jésus. Seine Großmutter väterlicherseits stirbt. Im Juli Gymnasial-Abschluss (»bachelier ès lettres«). Ab November Wehrdienst in Orléans – den Proust »freiwillig« leistete, um den unfreiwilligen zu vermeiden.

1890 Im Januar stirbt seine Großmutter mütterlicherseits an Ur­ämie. Im November Beendigung des Wehrdienstes. Proust schreibt sich in die Faculté de droit de Paris und in die École libre des sciences politiques ein. Er lernt Maupassant kennen.

1891 Urlaube in Cabourg und in Trouville. Er lernt Oscar Wilde, André Gide und Maurice Barrès kennen und schreibt Betrachtungen und Novellen für Le Mensuel.

1892 Proust und seine Schulfreunde Fernand Gregh, Robert Dreyfus, Daniel Halévy und Horace Finaly gründen die literarische Zeitschrift Le Banquet, in der er im wesentlichen die Texte aus der späteren Sammlung Les Plaisirs et les Jours (1896) publiziert. Er beantwortet den zweiten Fragebogen (s. unten, S. 52–56); im Juli fertigt Jacques-Émile Blanche sein berühmtes Porträt an.

1893 Veröffentlichungen in Le Banquet, das allerdings im gleichen Jahr eingestellt wird. Proust lernt Robert de Montesquiou kennen und beginnt seine Mitarbeit bei der Revue blanche. L’Indifférent, ein entfernter Vorläufer zu Un amour de Swann, entsteht in dieser Zeit, wird aber erst 1896 veröffentlicht. Urlaube in Sankt Moritz, Évian und Trouville. Er schließt sein Jura-Studium erfolgreich ab (»licence en droit«).

– Violante ou la mondanité, in Le Banquet.

– La Conférence parlementaire de la rue Serpente, in Le Banquet.

– Mondanité de Bouvard et Pécuchet, in La Revue blanche.

– Mélancholique villégiature de Mme de Breyves, in La Revue blanche.

– Avant la nuit, in La Revue blanche.

– Souvenir, in La Revue blanche.

1894 Beginn der Dreyfus-Affäre. Proust lernt Reynaldo Hahn und Lucien Daudet kennen.

– Mensonges, Gedicht mit Musik von Léon Delafosse, bei Heugel.

– Une fête littéraire à Versailles, in Le Gaulois.

– Bouvard et Pécuchet II: Mélomanie (publ. 1919 in Les Plaisirs et les Jours).

1895 Proust schließt sein Philosophie-Studium erfolgreich ab (»licence ès lettres«) und nimmt eine Stellung bei der Bibliothèque Mazarine an. Urlaub im Sommer in Bad Kreuznach mit seiner Mutter, im August in Dieppe mit Reynaldo Hahn, wo er Saint-Saëns kennenlernt. Im September Aufenthalte, ebenfalls mit Reynaldo Hahn, auf der Belle-Île-en-mer und in Beg-Meil. Er beginnt die Arbeit an Jean Santeuil.

– Portraits de peintres, in Le Gaulois.

– La Mort de Baldassare Silvande, in La Revue hebdomadaire.

– Figures parisiennes: Camille Saint-Saëns, in Le Gaulois.

1896 Prousts Onkel Louis Weil stirbt an Lungenentzündung, wie später Proust selbst, der die Symptome wiedererkennt. Beginn der Freundschaft mit Lucien Daudet. Mit Contre l’obscurité erteilt Proust dem Symbolismus und Mallarmé eine Absage. Urlaube in Mont-Dore (Auvergne) und in Fontainebleau. Proust liest Dumas, Balzac, Sainte-Beuve, Rousseau, Shakespeare, Goethe, Eliot und lernt Marie Nordlinger kennen.

– Les Plaisirs et les Jours, bei Calmann-Lévy.

– Contre l’obscurité, in La Revue blanche.

1897 Duell mit Jacques Lorrain. Ein zweiter Urlaub in Bad Kreuznach mit der Mutter gilt heute als zweifelhaft.