Wettkampfkulturen

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From the series: Bibliotheca Germanica #72
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2 Unbehagen in den historischen Kulturwissenschaften

Unbehagen artikuliert sich besonders in historisch orientierten Forschungszusammenhängen, die Pluralisierungskonzepte der Kulturwissenschaft entschieden aufgenommen haben.1 So ist auch die Mediävistik einerseits im Gefolge des ›cultural turn‹ gewohnt, von vormodernen Kulturen zumeist im Plural zu sprechen. Erforscht wurden etwa »Kulturen des Performativen«2 oder die »Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter«,3 um nur zwei prominente Forschungsverbünde des letzten Forschungsjahrzehnts zu nennen. Auch im Rahmen von Projekten und Tagungen dient der Plural der ›Kulturen‹ dazu, neue Sachbezüge vergleichend zu organisieren.4 Andererseits ist hinlänglich bekannt – dies ist im nachfolgenden Kapitel ausführlicher nachzuzeichnen –, dass der Kulturbegriff als historisches Pluralitätskonzept erst seit dem späten 18. Jahrhundert zur Verfügung steht, um Vielfalt von Gesellschaften und ihren symbolischen Ordnungen zu vergleichen.5 Statt auf ein generalisiertes, abstraktes Reflexionssymbol wie den Kulturbegriff stützt sich die historische Kulturtheorie daher eher auf Formen der Reflexion, die eng mit konkreten Artikulationen, Praktiken und Materialitäten verbunden scheinen.6 Kulturtheorien als explizite Theorien irreduzibler Verschiedenheit, so ein weitverbreiteter Konsens, suche man in der Vormoderne vergebens. Kultursoziologische Ansätze leiten daraus die These ab, dass die reflexive Beobachtung von Vielfalt ein spezifisch modernes Kennzeichen sei.7 Erst moderne Kulturbegriffe stellten die Anerkennung von »Diversität«8 und »Kontingenz«9 menschlicher Lebensformen und Symbolsysteme programmatisch in den Mittelpunkt. Die pluralistischen Prämissen der Kulturwissenschaften verdanken sich dieser modernen Beobachtungspraxis.10

Für vormoderne Literatur ist diese pluralistische Beobachtung keineswegs vorauszusetzen. Dies unterstreichen zum einen Studien der mediävistischen Literaturwissenschaft, die der Kultursemantik kritisch gefolgt sind. Kreuzzugsepischen Erzählungen wie dem Rolandslied bescheinigt etwa Peter Strohschneider eine normative Asymmetrie von Christen und Heiden, von Eigenem und Anderem, die sich von modernen Kontingenzperspektiven als vor-kulturelle Konfliktordnung abhebe.11 Wie Marina Münkler zum anderen anhand spätmittelalterlicher Reiseberichte demonstriert hat, erweisen sich deren Wissensordnungen wiederum als flexibel genug, um ethnische, anthropologische und soziale Fremdheitserfahrungen zu artikulieren und in Zeichensystemen der Ähnlichkeit zu verorten, ohne sie gänzlich zu ignorieren.12 Der kulturfunktionale Status mittelalterlicher Textlogiken und Semantiken ist daher von Fall zu Fall zu prüfen und lässt sich keineswegs aus Einzelstimmen generalisieren. Mit Blick auf die Forschung lässt sich zumindest festhalten: Zur großräumigen Epochensignatur scheint »Pluralisierung« nach allgemeiner Einschätzung kaum vor dem 15. Jahrhundert zu taugen. Erst mit dem »Entstehen konkurrierender Teilwirklichkeiten«13 in der Frühen Neuzeit wandeln sich »Erfahrungen epistemischer Irritation«14 zum dauerhaften »Pluralismus institutioneller Gefüge«15. Emphatisch zugespitzt heißt dies, erst seit der Renaissance von vielstimmigen Repräsentationsmöglichkeiten von Wirklichkeit auszugehen.16

Doch schon Texte des Hochmittelalters kreisen um alternative Ordnungen und führen vor, dass sich auch anders handeln, anders glauben und anders wahrnehmen lässt. Zunehmende Mobilität von Personen, Kreuzzüge, Reformbewegungen und Fernhandel vervielfältigen die Spannungen und Differenzen ökonomischer, religiöser, wissenschaftlicher oder juristischer Ordnungen ab dem 12. Jahrhundert rasant.17 Auch die mittelalterliche Gesellschaft Europas geht also aus geschichtswissenschaftlicher Sicht faktisch mit Vielfalt um, ihre gelebten Ordnungen sind keineswegs kohärent, einheitlich oder reduktiv.18 Und schon die Geschichtsschreibung des Mittelalters zeichnet solche Differenzen in Gestalt von »unendlich vielen Geschichten im Plural« auf, die kein Kollektivsingular ›der Geschichte‹ eint.19 Zu Recht unterstreichen daher auch literaturwissenschaftliche Studien: »›Die‹ mittelalterliche Kultur ist ein Konstrukt, das es in dieser Homogenität und Ganzheit niemals gibt und nie geben konnte«.20 Wo literarische Texte wie das Nibelungenlied zugleich kulturelle Selbstbeschreibungen liefern, erzählen sie nie von Alternativlosigkeit, sondern immer auch von der Optionalisierung sozialer Ordnung.21 Und selbst kreuzzugsepische Texte wie der Willehalm Wolframs von Eschenbach experimentieren mit symmetrischen Darstellungsformen,22 entfalten »komplexe Überlagerungen« und Hybridisierungsmöglichkeiten, wo die Konfrontation von Christen und Heiden einseitige Ausgrenzungen erwarten ließe.23

Dennoch symbolisiert die mittelalterliche Gesellschaft diese Vielfalt nicht im positiven Sinne als Diversität. Zwar verfügen mittelalterliche Theologen und Philosophen, Geschichtsschreiber und Juristen durchaus über differenzierte Begriffe, mit denen sie Vielfalt (lat. diversitas, varietas, pluralitas, multitudo und multiformitas, wörtl. auch multiplicitas), Verschiedenheit (z.B. variatio, disparitas) oder Vorgänge der Vervielfältigung (z.B. plurificatio) bezeichnen.24 Anknüpfend an die Differenztheorien platonischer und aristotelischer Tradition systematisierten diese Begriffe nicht nur metaphysische Wesensverschiedenheit und zahlenlogische Vielheit (diversitas numeralis), sondern ebenso die Vielfalt geschaffener Dinge (diversitas rerum), sie galten der Meinungsvielfalt (diversitas opinionum) bis hin zu geistigen Operationen des Unterscheidens (distinctio oder diversitas rationis). In der Regel blieben solche Begriffe von Vielfalt jedoch auf komplementäre Konzepte von Einheit oder Einfachheit zurückbezogen, die keineswegs ein wertneutrales Begriffspaar bildeten. Während Einheitskonzepten in logischer und ontologischer Hinsicht zumeist höhere Dignität zukam, galt Vielfalt als davon abgeleitet und abhängig. Von Boethius und Isidor von Sevilla über Thierry von Chartres und Thomas von Aquin bis zu Nicolaus Cusanus bestand weitgehender Konsens: Vielzahl geht aus Einheit hervor oder mündet in Einheit,25 die Vielfalt der Dinge verweist auf einheitliche Ordnung als Absicht ihres Schöpfers,26 Varietäten sind in der Einheit ihrer Gattung verbunden. Wenn die Einheit der Welt in Vielfalt erfahrbar ist (unitas in pluralitate), so betrachtet Nicolaus Cusanus dies nicht als Reichtum sondern als schrittweise Einschränkung.27 Im gesamten Mittelalter klingt in philosophischen und theologischen Argumentationen ein »Ressentiment« an, das diversitas geradezu topisch mit Falschheit, Verworrenheit und Zwietracht in Verbindung brachte, wie Stephan Meier-Oeser bilanziert: »Während die Assoziation der Einheit mit positiv verstandenen Korrelativbegriffen sich bis in die jüngere Vergangenheit weitgehend konstant durchhält, erscheint die Bewertung der [Vielheit] seit jeher als ambivalent.«28 Diesen Eindruck einer ambivalenten Begriffsgeschichte teilt auch die mediävistische Geschichtswissenschaft bis in jüngste Zeit:

Im Mittelalter selbst war der Begriff des Einen und der Einheit gegenüber der Vielheit deutlich positiver besetzt. Mit ihm wurde der Geist und die Seele assoziiert, die Wahrheit und die Güte, die Ordnung und das Ganze, Liebe und Frieden, die Ähnlichkeit und das Universum. Pluralitas und multitudo belasteten indessen vorwiegend ungünstige Konnotationen, durch die sie, und zwar schon seit der Antike, zur ›Einheit‹ in deutlichen Kontrast gerieten. Die negativen Entsprechungen der Vielheit lauteten auf Verworrenheit und Zwietracht, Falschheit, Andersheit, Teilbarkeit, Bewegung, Materie und so weiter. […] Trotz der unbestreitbaren Höherschätzung des Einen und der Einheit wussten die Philosophen und Theologen des Mittelalters, dass Vielheit natürlich gegeben und unvermeidlich ist. […] Die Verschiedenheit (diversitas) des Besonderen konnte durch ihre Differenz aber durchaus zur positiv bewerten ›Vielfalt‹ (varietas) führen, die mit Schönheit, ja Vollkommenheit verbunden wurde.29

Festzuhalten ist damit zweierlei. Zum einen fehlte es also keineswegs an systematischen Diskursivierungen von Vielfalt im Mittelalter, im Gegenteil: Selbst schwankende Bewertungen, die das asymmetrische Begriffspaar provozierte, bezeugen intensiv geführte Auseinandersetzungen um Vielfalt und Einheit. Der springende Punkt scheint mir jedoch zu sein, dass derartige Konzepte von diversitas kaum positiven Raum für Unbestimmtheit eröffneten – für »unaufgelöste Vielheit«,30 die nicht zugleich von Gesichtspunkten der Einheit bestimmt ist.31

Trotz reicher Debatten und systematischer Diskursivierungen plädieren Texte des Mittelalters selten für Relativismus oder Pluralismus der Ordnungen. Sie bleiben stattdessen weitgehend auf integrative Semantiken eingeschworen, die Erwartungen an logische, metaphysische oder funktionale Einheit mit sich führen.32 Die ältere geistesgeschichtliche Forschung hatte aus diesem Grund die mittelalterliche Gesellschaft vom »Princip der Einheit« her beschrieben,33 das zwar Übertragung, nicht aber Teilung und Vervielfältigung von Herrschaft zulasse.34 Für die jüngere Sozialgeschichte erwuchs daraus das Problem, offenkundige Diskrepanzen zwischen der »realen Vielfalt« mittelalterlicher Lebenswirklichkeiten und den »noch starrer geprägt[en]« Modellen typischer Lebensformen zu beschreiben.35 Beamte und Gelehrte, Handwerker und Kaufleute – sie und andere mehr bilden neue soziale Gruppen in Bewegung, ohne dass deshalb Ständeordnungen des Hoch- und Spätmittelalters vom traditionellen Grundmodell der dreigeteilten Gesellschaft abrücken.36 Wenn Zeitgenossen reflektieren, »daß es Lebensformen in der Mehrzahl geben müsse«,37 manifestiert sich die »Pluralisierung der Lebensformen« selten in mimetischer Abbildung veränderter Lebenswirklichkeiten; was öfter greifbar wird, sind »Widersprüche« ihrer textuellen Artikulation.38

 

Diese Widersprüche haben ihren Grund nicht zuletzt darin, dass Selbstbeschreibungen der mittelalterlichen Gesellschaft nicht gleichermaßen aus sämtlichen Sphären bzw. Schichten überliefert sind. Vorrangig werden sie von einer Schriftpraxis getragen, die religiösen Institutionen verpflichtet ist, wie Jan-Dirk Müller unterstrichen hat:

Man hat gelernt, die Pluralität und die Antagonismen der mittelalterlichen Kultur zu lesen. An der Dominanz der christlichen Religion, der geistigen Führungsmacht der Kirche und der Prägung der literarischen Kultur durch die schriftkundigen clerici besteht aber kein Zweifel.39

Noch die jüngste Forschung beschäftigen somit Widersprüche, Verwerfungen und Lücken zwischen hegemonialen Selbstbeschreibungen und den historischen Realitäten sozialer Vielfalt, die seit dem Hochmittelalter beschleunigt wachsen. Zwar lässt sich keineswegs mehr vertreten, »die abendländische Christenheit« wäre »regelrecht besessen von der Vorstellung einer notwendigen reductio ad unum in allen Bereichen und auf allen Ebenen«, womit »Vielfalt in die Nähe des Bösen« gerückt wird.40 Ebenso verkürzend wäre es, lediglich von einer Vielzahl »vormoderne[r] kleine[r] Gemeinschaften« auszugehen, »die für die meisten ihrer Mitglieder die Universen waren, in die das Ganze ihrer Lebenswelt eingeschrieben war«.41 Unübersehbar sind vielmehr die Diskrepanzen: Zwischen programmatisch artikulierten Einheitsansprüchen und realer Vielfalt klafft ein ›semantic gap‹.42

Diese Kluft ist nicht allein auf Überlieferungslücken zurückzuführen, sondern betrifft ein positives Darstellungsproblem von Vielfalt. Es prägt und belastet besonders solche Texte, die diese Kluft ausdrücklich zu überbrücken versuchen, wie ein berühmter Sangspruch Frauenlobs andeuten mag. Er wird oft als Stimme literarischer Gesellschaftsreflexion zitiert, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf die wachsende Vielfalt von Lebensordnungen antwortet:43

In driu geteilet waren

von erst die liute, als ich las:

buman, ritter und pfaffen.

ieslich [] nach siner maze <was>

gelich an adel und an art

dem andern ie. <war> stet der pfaffen sin?

Sie leren wol gebaren,

kunst, wisheit, aller tugent craft,

fride, scham und darzu forchte

die ritterlichen ritterschaft.

der buman hat sich des bewart,

daz er den zwein nar schüfe mit gewinn.

Nu pfaffe, werder pfaffe,

laz ander orden under wegen.

du stolzer ritter, schaffe,

daz ritterschaft dir lache,

nicht nim an dich ein ander leben.

du buman solt <nicht> hoher streben,

daz lere ich dich, durch fremdes prises sache.

Aufschlussreich ist Frauenlobs Spruch weniger dadurch, dass er konservativ für ein dreigliedriges ordo-Modell von buman, ritter und pfaffen plädiert. Ebenso wenig mag überraschen, dass hinter der Behauptung von geburtsständischer Gleichrangigkeit (ieslich nach siner maze […] / gelich an adel und an art) durchaus ungleichgewichtige Funktionszuweisungen der Berufsstände zum Vorschein kommen. Signifikanter ist der Spruch für das angesprochene Darstellungsproblem von Vielfalt, da er unaugesprochene Möglichkeiten voraussetzt: Angesprochen werden horizontale Konkurrenz (ander orden), Optionalität von Lebensformen (ein ander leben als wählbare Alternative) und vertikale Mobilität (hoher streben). Frauenlobs Spruch zeigt somit Spuren komplexerer sozialer Ordnung, als sie die propagierte Ständelehre auffangen kann.44 Doch bleiben sie allenfalls Implikaturen des Textes; statt als positive Differenzierungen erscheinen sie nur im Zerrspiegel von Negationen. Paradoxerweise gibt der Ständespruch also umso weniger von jener sozialer Pluralisierung preis, der er seinen mahnenden Impetus verdankt.

Für literaturwissenschaftliche Zugänge zur Vielfalt der Vormoderne heißt dies zweierlei. Erstens führt auch auf dem Feld der historischen Kulturtheorie kein direkter Weg von der Sozialgeschichte zur Literaturgeschichte. Zweitens zwingt dies zu Umwegen in der Wahl relevanter Texte: Wer nach literarischen Spuren historischer Pluralisierungsprozesse fragt, wird expliziten Gesellschaftsbeschreibungen – ob in Gestalt von Ständelehren,45 Religionsdialogen oder sozialkritischen Kurzerzählungen46 – kaum bevorzugte Aussagekraft zubilligen können als Texten zu anderweitigen Themen. Im Gegenteil: Explizite Gesellschaftsbeschreibungen wie Frauenlobs Spruch liefern Fälle kultureller Selbstbeschreibung, die »ein Übermaß an Vielfalt innerhalb der Semiosphäre zu vermeiden« suchen, indem sie traditionelle Integrationsmodelle beschwören.47 Je ausdrücklicher von Vielfalt die Rede ist, sei es begrifflich oder thematisch, desto weniger lassen sich diese Texte als positive Quellen beim Wort nehmen.

Literatur- wie Geschichtswissenschaft stellt dies vor die methodische Schwierigkeit, Vervielfältigung zu beschreiben, die gleichwohl auf Einheit bezogen bleibt. Sie führt zu schwierigen Befunden: »Europas Vielfalt wurde entdeckt, aber die je besonderen Kulturen und Lebenswelten fielen dabei nicht ganz auseinander«, konstatiert etwa Michael Borgolte.48 Ungelöst ist damit eine methodische Spannungslage: Unter pluralistischen Prämissen untersuchen historische Kulturwissenschaften die Artefakte und Selbstbeschreibungen vormoderner Gesellschaften, die Pluralismus zurückzuweisen scheinen, obwohl sie gleichwohl aus Prozessen und Bedingungen sozialer Vervielfältigung hervorgehen oder diese sogar vorantreiben. Und nach gegenwärtigem Stand stehen der Mediävistik keine Meistererzählungen zur Verfügung, um diese Spannung auf einfache Weise einzufangen.

Dies erzeugt Unbehagen. Wo es zur Sprache kommt, führt es nicht nur zu paradoxen Einschätzungen: »Die Entdeckung der Vielfalt stiftete Distanzbewusstsein und Nähe gleichermaßen«.49 Kontrovers scheint darüber hinaus, ob und welches Konzept von ›Kultur‹ die Darstellung klären könnte. Einerseits wird kritisch betont, »dass Europa in seiner Geschichte niemals eine Einheitskultur gewesen ist«.50 Dennoch reißen die Versuche nicht ab, nach der »gemeinsamen Identität […] einer gemeinsamen kulturellen Tradition« Europas im Mittelalter zu fragen.51 Zum Teil beruht diese Diskrepanz auf unterschiedlichen Forschungsparadigmen:

Die ältere, auf das christlich-lateinische Abendland beschränkte Sicht und die plurikulturale Perspektive auf Europas Mittelalter stehen weitgehend unverbunden nebeneinander, eine Debatte hat nicht stattgefunden und die Zukunft unseres Geschichtsbildes ist ungewiss.52

Doch beschränkt sich diese Diskrepanz nicht auf Forschungsperspektiven, sondern betrifft zugleich das Verhältnis zur Ebene ihrer Gegenstände. Zwischen den »gedachte[n] Einheiten«, die jede Forschung einführt, und der »Vielfalt europäischer Kulturen des Mittelalters«, die sich auf Objektebene finden, wachsen methodische Spannungen, die sich nicht restlos auflösen lassen.53

Einer solchen Diskussion kulturwissenschaftlicher Pluralisierungsannahmen haben sich die historisch orientierten Literaturwissenschaften bislang erst in Ansätzen gestellt.54 Wo etwa die höfische Literatur des Mittelalters als Praxis ›höfischer Kultur‹ an Einzeltexten untersucht wird, steht die Kulturalität mittelalterlicher Literatur selten zur Debatte.55 Darstellungen, die Bewusstsein »für die Pluralität historischer Lebenswelten« schärfen, lassen meist offen, was daraus für den Umgang mit Kulturen abzuleiten wäre, die ein diskrepantes, ambivalentes oder unbegriffliches Verhältnis zu Pluralität charakterisiert.56 Umso bemerkenswerter erscheint diese reflexive Lücke, wenn Forschungsdebatten durchaus das Problembewusstsein für zahlreiche Schieflagen und Inkongruenzen zwischen universalistischen und pluralistischen Diskursen geschärft haben – im Bereich der Altgermanistik betrifft das vor allem das schwierige Verhältnis von ›Geistlichem‹ und ›Weltlichem‹, von ›religiöser‹ und ›säkularer‹ Kommunikation im Mittelalter.57 Auch in dieser Debatte zeichnet sich ab, dass vormoderne Grenzverläufe des Religiösen nicht zuletzt auch die Pluralisierungsvorstellungen der Kulturwissenschaften selbst in diese Beobachtungsschwierigkeiten verwickeln. Immer drängender wird damit für die kulturwissenschaftliche Mediävistik das »Problem«, dass »trotz wachsender Einsicht in die Vielfältigkeit und Heterogenität mittelalterlicher Lebensverhältnisse, Wissensordnungen, Mentalitäten usw. […] deren gemeinsame Basis in der christlichen Religion nie bezweifelt [wurde]«.58

Die vorliegende Untersuchung möchte literaturwissenschaftliche Anregungen liefern, um eine solche Debatte offener als bisher zu führen. Ihre Fragestellung ist nicht nur mit Blick auf das europäische Mittelalter brisant: Wie gehen Gesellschaften, die sich nicht als Kulturen im modernen Sinne beschreiben, d.h. keine ›diversity‹-Konzepte generalisieren, in ihren Praktiken und Kommunikationsformen dennoch mit Vielfalt um? Wenn die folgenden Studien diese Frage exemplarisch an Erzähltexte des Mittelalters stellen, so schwingt darin also das grundlegende Problem der Beobachtbarkeit fremder Ordnung mit. Es mag sich im Falle historisch fremder Gesellschaften verschärfen, stellt jedoch auch eine prinzipielle Herausforderung gegenwärtiger Gesellschaftsbeschreibung dar. Erkenntnisgewinne wären dann weniger darin zu suchen, die historischen Einsatzstellen für Pluralisierungsprozesse einfach zurückzuverschieben (von der frühen Neuzeit ins Spätmittelalter, von der berüchtigten Hochphase höfischer Literatur um 1200 zurück zu frühen Texten?). Der springende Punkt scheint mir vielmehr bei den impliziten Erwartungen der Pluralisierungsdebatte selbst zu liegen. Warum ist es so schwierig, moderne Konzepte der Diversifizierung in die Vormoderne zurückzuverfolgen? Theorietraditionen der Anthropologie und Ethnologie haben dieses Reflexionsproblem mit Kulturbegriffen eher verdeckt als offengelegt.59 Für die nachfolgenden Studien folgt daraus methodische Vorsicht. Nichts zwingt zunächst einmal dazu, Einfachheit und Vielfalt als Alternativen oder gar als Dichotomie aufzubauen. Entsprechend wäre eher nach den Bedingungen zu fragen, unter denen Kulturwissenschaften alternative Ordnungen beschreiben. Will man den Wandel von Pluralitätsformen selbst beschreiben, verlangt dies, formale Beschreibungen zu entwickeln, die nicht schon den Prämissen einer spezifischen Pluralität unterstellt, nicht einem spezifischen Kulturbegriff verpflichtet sind. Wettkämpfe bieten ein besonderes Feld, auf dem sich dieser Wandel von Pluralitätsformen im vorbegrifflichen Feld studieren lässt. Und ein formales Interesse kann helfen, um deren Unterschiedlichkeit möglichst aufmerksam zu registrieren.