Wettkampfkulturen

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From the series: Bibliotheca Germanica #72
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3.2.3 Reflexion des Wettkampferzählens

Frau Minne sucht strît. Sie bekriegt, überwindet und nötigt nicht nur Iwein dazu, seiner Todfeindin in herceminne zu verfallen (V. 1537–1543). Im Unterschied zur Vorlage Chrétiens belagert sie auch Hartmanns Erzähler als Dialogpartnerin in einem langen Streitgespräch über den Abschied zwischen Iwein und Laudine. Hätten sich beide einvernehmlich vor Artus getrennt? Frau Minne widerspricht:

»dune hâst niht wâr, Hartman.«

»frouwe, ich hân.« si sprach »nein.«

der strît was lanc under uns zwein,

unz sî mich brâhte ûf die vart

daz ich ir nâch iehnde wart.

er fuorte daz wîp und den man

und volget im doch dewederz dan,

als ich iu nû bescheide.

si wehselten beide

der herzen under in zwein,

diu frouwe und her Îwein:

im volget ir herze und sîn lîp

und beleip sîn herce und daz wîp.

(V. 2982–2994)

Gegen den konventionellen Topos vom Herztausch, demzufolge jeder des Anderen Herz im Körper trage,1 verwehrt sich der Erzähler sogleich mit ironischem Einwand: Hätte dann nicht Laudine fortan Turniere bestreiten müssen, während Iwein verzagt zurückbleiben und dâ heime daz hûs bewarn sollte (V. 2995–3006)? Auch dies weist Frau Minne scharf zurück und gebietet Schweigen:

si sprach »tuo zu den munt.

dir ist diu beste fuore unchunt.

dichn geruorte nie mîn meisterschaft:

ich bin ez minne und gibe die kraft,

daz ofte man unde wîp

habent herzelôsen lîp

und hânt ir kraft doch deste baz.«

(V. 3013–3019)

Angesichts eines solchen Wunders, dass dem herzelôsen lîp von Mann und Frau trotzdem unverminderte Kräfte innewohnten, kann der Erzähler nur verstummen:

Dô ne getorst ich frâgen furbaz,

wan swâ wîp unde man

âne herce lebn chan,

daz wunder daz gesach ich nie.

doch ergienc ez nâch ir rede hie.

(V. 3020–3024)

Schon hier beginnt das Herz zwischen metaphorischem Topos und physiologisch konkretisiertem Organ auf jene Weise zu oszillieren, wie der Innenraum auch die Wettkampflatenz zwischen Iwein und Gawein später doppelt fassen wird. Und schon Frau Minne entfaltet jene Paradoxierungslust (Verlust des Herzens verleiht desto größere Kraft), die Hartmanns zentrale Latenzmetapher charakterisiert.2 Hier, unmittelbar vor dem Wendepunkt, der Iweins ritterlichen Triumph vergessen macht, eröffnen die rabiaten Negationen des herzelôsen lîp eine gigantische Leerstelle.3 Zwar behauptet sich die Erzählinstanz überzeugt, entäußert sich faktisch jedoch von jeglichem Mehr- und Eigenwissen, das Hartmanns auktoriale Selbstreferenz suggerieren mag (V. 2974).4 Von der Personifikation des Liebessujets dementiert, kann der Erzähler im wahrsten Sinne des Wortes nur noch nachsprechen (V. 2986: daz ich ir nâch iehnde wart), was die Aventiure vorgibt: ichn weiz ir zweier wehsels niht, / wan als diu âventiure giht (V. 3025f.).

Man kann dies, bei allem inszenierten Dissens, als Selbstbeglaubigungsstrategie des fiktionalen Erzählens lesen. Und wie viele Fälle der höfischen Epik unterstreichen, sind Selbstbegegnungen des Erzählens keineswegs ungewöhnlich. Aventiure konstituiert eine Unterscheidung, die im Unterschiedenen selbst begegnen kann: Sie bezeichnet so zum Beispiel die Einheit der Wettkampfhandlung höfischer Romane, in der die Aventiure wiederum als handlungslenkende Instanz oder Informationsquelle angesprochen werden kann. Die formale Relation des ›re-entry‹, die in solchen Fällen offenkundig wird, muss dabei keineswegs irritierend wirken. Sie kann umgekehrt sogar das Wiedererzählen stabilisieren, indem Spannungen von fremder und eigener Rede gebunden werden. Hartmanns Streitdialog mit Frau Minne hingegen macht mit dem Herzen die »Unergründbarkeit« der Erzählquelle durchaus auffällig,5 die der Erzähler weder ausfüllen noch aufdecken kann, wenn er stattdessen angefahren wird zu schweigen. Gerade dadurch aber lenkt der Dialog mit solchen Negationen die Aufmerksamkeit nur umso stärker auf alles, was sich verborgen und entzogen hält.

3.3 Verbergen

Sofern höfisches Erzählen nicht nur Probleme reflexiv zur Debatte stellt, sondern komplexe Handlungsspiele auch implizit einübt, die den höfischen Habitus ihrer Protagonisten bilden, verbirgt der Artusroman nicht selten die Komplexität seiner Übungsstruktur.1 Gleichwohl reizen besondere Erzählstellen und Figuren dazu, deren implizite Logik explizit aufzubrechen und diskursiv zu verhandeln, kontrastiv zu spiegeln oder komisierend zu überzeichnen.2 Wissensgewinne führen den Artusritter in solchen Fällen nicht etwa zur geradlinigen Lösung dank Reflexion, sondern decken verborgene Kalküle auf: »[J]e größer die Bewußtheit hinsichtlich der Komplexität einer Situation und die für sie geltenden Richtlinien, desto geringer gestaltet sich der Handlungsspielraum«.3 Dies gilt auch für Hartmanns Iwein, der nicht nur Verborgenes aufdeckt,4 sondern ebenso dazu tendiert, das Verbergen selbst zu zeigen.

3.3.1 Unsichtbarkeiten

Der Roman erzählt davon in verschiedenen Episoden mit thematischen Hinsichten. Das größte Gewicht kommt dabei sozialen Dimensionen des Verbergens zu, die sowohl Figuren miteinander verbinden (Iwein / Artusritter; Iwein / Laudine) als auch in ihrem Selbstbezug prägen (Iwein und sein Löwe). Stets dienen Wettkämpfe dazu, Figuren und Figurenbeziehungen als unsichtbare zu inszenieren. Unsichtbar sind zuallererst die Anfänge der Wettkampferzählung am Artushof. Handlungskonkurrenz um Ehre geht Erzählkonkurrenz der Artusritter voraus, die sich während der Absenz des Königspaars mit Geschichten unterhalten.1 Während Kalogreant von einer früheren Aventiure mit peinlichem Ausgang berichtet, tritt unbemerkt (daz es ir deheiner wart gewar) Königin Ginover als Zuhörerin hinzu (V. 99–104). Die Erzählsituation unter Gleichrangigen ist augenblicklich hierarchisch gestört,2 woraufhin der erzählende Ritter verstummt, reflexhaft aufspringt. Solche Zuvorkommenheit reizt Keie, der die Erzählrunde bis dahin verschlafen hatte, zum ironischen Gegenschlag: Während Kalogreant seine entehrende Erzählung vor den Ohren der Königin lieber verschweigen will (V. 217–221, nochmals unterstreichend V. 795–798), bittet Keie diese zu schweigen und will selbst schweigen, damit Kalogreant nur ungestört erzählen könne, was er erst angeschnitten hatte (V. 188, 223–229). Was Kalogreant aus Scham über seinen ritterlichen Misserfolg zehn Jahre verschwiegen hatte, muss er nun offenbaren.3 Der Roman initiiert seine erste Aventiure somit im Wettkampfmodus diskursiver Beschämung, die Spannungen »im Inneren« der Artusrunde hervorkehrt und verstärkt.4 So handelt denn auch Kalogreants Bericht ausdrücklich von der scham (V. 756, 765f.) einer Wettkampfniederlage, nach der Kalogreant in Ermangelung seines Pferdes den Harnisch und damit symbolisch den Habitus des Ritters ablegen musste (V. 779f.).5 Interessanterweise setzt der Roman also nicht mit einer Erzählsituation an, die Artusritter sozial sichtbar machte; geselliges Amüsement am Pfingstfest des Artushofs schafft allenfalls einen Motivationshintergrund, nicht aber den hinreichenden Anstoß der Entdeckung. Verschlafen und Unaufmerksamkeit (Artus verpasst die Aventiureerzählung, auf die er so erpicht war), unbemerkte Intervention (Ginover) und aggressives Schweigen (Keie) erst erzwingen eine Erzählung, die besser verschwiegen wäre (Kalogreant). Dass die monströse Begegnung und das Desaster am Quellenreich, von denen sie berichtet, den Artusritter in den Wald als Schweigeort führten,6 vervollständig diese Reihe der Latenzsituationen.

Hartmanns Iwein entfaltet seine latente Wettkampferzählung somit im Zeichen von Scham. Diese konditioniert das Verhältnis von Sprechen und Schweigen dadurch gegenläufig; statt Beschämendes zu verschweigen, nötigt beschämendes Schweigen, verborgene Ausgangspunkte zu enthüllen. Erst diese Ausgangslage lockt auch beim Zuhörer Iwein den Wunsch hervor, die Sache selbst zu versuchen. Aktiviert wird damit ein allgemeines Muster der Aventiure, das Aktion und Narration im höfischen Roman oft zyklisch verbindet: Indem Handeln erzählt, die Erzählung wiederum zum Handlungsanstoß wird, verschlingen sich Interaktion und Kommunikation des Wettkampfs mehrfach ineinander, übersetzen und reproduzieren sich gegenseitig.7 Aber auch der spezielle Wettkampfmodus der Scham übersetzt sich in diesem Fall auf Iwein und Gawein, reproduziert sich im verschwiegenen, weil nur mit dem Rezipienten geteilten Selbstgespräch über ein geheimes Konkurrenzkalkül, das Sieg und Niederlage unter Ausschluss der Artusöffentlichkeit erstreiten und kommunikativ beherrschen will.8 Und so wie Iwein die Konkurrenz mit Gawein im Verborgenen verfolgt,9 verbirgt sich auch Gawein. In fremder Rüstung öffentlich unkenntlich (V. 6884–6894: wol verholn)10 werden die verwandten Artusritter doppelt unsichtbar, füreinander wie für andere Augen.

 

Auch Iweins Weg dorthin verläuft über Stationen der Unsichtbarkeit. Heimlich bricht der Held auf, ohne jemanden etwas von seinem Aventiureversuch wissen zu lassen. Entgleitet der Artusritter somit zum einen der Sichtbarkeit des Artushofs, so kann er am Hof Laudines ebenfalls nur unsichtbar erscheinen: Dank Lunetes Ring wird Iwein »gewissermaßen ein magisch Nicht-zu-Findender«.11 Auch die rettende Unsichtbarkeit verdankt sich einem Anfang, der in sozialer Unsichtbarkeit gründet: Mit Ausnahme Iweins sprach niemand mit Lunete, als diese im Auftrag Laudines an den Artushof kam. Was die Dienerin mangelnder Bekanntheit am fremden Hof (ihrer unhofscheit, V. 1189) zuschreibt, war ein sozialer Ausschluss, der die Anwesende wie abwesend behandelte.

Auch nachfolgende Etappen, die Iweins Beziehungen vervielfältigen bzw. wieder reduzieren, bringen Aspekte sozialer Unsichtbarkeit zur Geltung. Unsichtbar verborgen (V. 1691) wächst Iweins Begehren, während er magisch und räumlich separiert Laudine beobachtet. So kompliziert Iweins eingeklemmte Lage im Burgtor ist, so kompliziert sind die Relationen arrangiert, welche die Beteiligten aufeinander verweisen (V. 1305–1690): Obwohl die Burgbewohner mit gezückten Schwertern jeden Winkel des Torinnenraums durchstöbern, vermögen sie sam die blinden (V. 1293) den Schuldigen nicht aufzudecken (V. 1274–1277: wer hât uns benomen / diu ougen und die sinne?); Lunete erteilt Iwein Anweisungen und Zauberring, die der Bedrängte nur zu bereitwillig übernimmt; Laudine spürt und schließt auf den unsihtech geist (V. 1391), den die Leiche Askalons indiziert etc. Gemeinsamer Zug dieser Beobachtungsverhältnisse ist zum einen, dass sie höchst einseitig ausgerichtet sind, aber unsicher bleiben. Auffällig unterstreicht zum anderen das Wortfeld des Sehens in der Szene, wie Hartmann diese Verhältnisse als Beziehungen der Unsichtbarkeit akzentuiert.12

Iweins Schamreaktion auf seine Anklage am Artushof setzt diese Perspektive fort. Er wünscht aus dem Sozialraum zu verschwinden:

nâch einem dinge iâmert in,

daz er wære ettewâ

daz man noch wîp enweste wâ

und niemer gehôrte mære

war er bechomen wære.

(V. 3216–3220)

Noch in ihren Negationen gibt eine solche Ausstiegsphantasie allerdings zu erkennen, dass Iwein sich nicht einfach annulliert, sondern sich verschwunden wünscht, d.h. in seiner Abwesenheit anwesend sein will. Seine ritterliche Existenz wird so nicht spurlos getilgt, aber Nachfragen (die sich sogleich erheben: V. 3242) und Hörensagen sollen ins Leere laufen.

Solche ›gezeigte Unsichtbarkeit‹ entspringt nicht etwa poststrukturalistischer Paradoxierungslust, sondern unmittelbar Hartmanns Text. Denn rasch nach Iweins unbemerktem Verschwinden beginnt man eben von diesem Verschwinden zu erzählen:

nû iach ein iegelîch man

wie er verlorn wære:

daz was ein gengez mære

in allem dem lande

(V. 3372–3375)

Landauf, landab läuft die Geschichte von Iweins Verschwinden, so dass es der Dame von Narison nicht schwerfällt, dem verwilderten Artusritter nachzuspüren. Natürlich beeilt sich Hartmann, die Unwahrscheinlichkeit solcher Entdeckung durch das klassische Gnorisma einer Narbe zu plausibilisieren (V. 3378–3382).13 Gleichwohl setzt das mære von Iweins Verschwinden einen allgemeinen Erwartungshorizont, in dem das Körperzeichen der Narbe nur noch den Ausschlag zu geben braucht. Narratologisch gewendet schafft Unsichtbarkeit somit paradigmatische Kohärenz der Figur:14 Man findet Iwein umso leichter, als man sich von dessen Verschwinden erzählt. Die Geburt des Löwenritters leitet somit ostentative Unsichtbarkeit ein; und noch der Heilungsprozess selbst vollzieht sich unter dieser Bedingung.15

Unsichtbar ausgeblendet wird schließlich auch die metonymische Partnerschaft zwischen Iwein und seinem tierischen Begleiter, die zur sozialen Identitäts- und Erkennungsmarke des Löwenritters wird. Der Iwein-Roman enthält zwei Aussagereihen, die das Ende dieser Konfiguration unscharf werden lassen. Einerseits betont der Erzähler schon bei der Befreiung des Löwen, dass dieser seinen Wohltäter beharrlich begleite, was die Heidelberger Iwein-Handschrift A (cpg 397) durch Zusatzverse bis zum Tod ausweitet:

er antwuorte sich in sîne pflege,

wander in sît alle wege

mit sînem dienst êrte

und volget im swar er chêrte.

und gestunt im ze aller sîner nôt,

unze sie beide sciet der dôt.

(V. 3877–3882)

Unmissverständlich formuliert der Iwein A also: Iwein und sein Löwe bleiben permanent sichtbar. Dies entspricht wörtlich der Romanvorlage Chrétiens, der an späterer Stelle gleichfalls festhält:

Mes avuec lui son lion ot

Qui onques an tote sa vie

Ne vost leissier sa conpaignie.

(V. 6530–6532)

»[…] doch hatte er seinen Löwen bei sich, der sein ganzes Leben lang nicht von ihm lassen wollte.« (Übers. Ilse Nolting-Hauff)16

Andererseits erzählt der Roman mehrmals vom Verschwinden des Löwen. Zum Gerichtskampf erscheinen Iwein und die Schwarzdorntochter ausdrücklich allein:

der leu fuor niht mit in zwein.

den heter underwegn lân;

ern wolde in niht zem kampfe hân.

(V. 6902–6904)

Kaum scheint der Gerichtskampf beigelegt, da bricht der Löwe hervor:

[N]û was der leu ûz chomen,

als ir ê habt vernomen,

dâ er in geslozzen wart,

und iagte ûf sîns herren vart,

dô sî in zuo in sâhen

dort uber velt gâhen.

[…]

dô verstuonden si alrêrst sich

daz ez der degn mære

mit dem leun wære,

von dem sî wunder hôrten sagen

und der den risen het erslagen.

(V. 7727–7744)

Angesichts der früheren Behauptung unausgesetzten Beistands (A) kann dieser Ausbruch überraschen: Ebenso auffällig, wie der Löwe zuvor weggeschlossen wurde, bricht er aus diesem ominösen Einschluss hervor, als der Zweikampf latente Paradoxien der Konkurrenz entfesselt und in jenem offenen Rangstreit eskalieren lässt, den König Artus mit seinem Urteilsspruch allenfalls sistieren kann. In symbolischer Verdichtung verkörpert der Löwe somit jene Manifestation von Latenz, welche der Zweikampf diskursiv und metaphorisch komplexer entfaltet. Wenn man Iwein fortan als Artus- und als Löwenritter zugleich betrachten kann (V. 7740–7744, 7762), verdankt sich dies nicht bloß seinem permanenten Begleiter, sondern einem Tier, das präsent und verborgen auftritt.

Ähnlich irritierend verläuft wenige Verse später das Ende des Löwen im Text. Er begleitet Iwein bis zur Quelle (V. 7947–7950), wo auch Laudine den rîter mit dem leun erwartet (V. 8015) – darauf basiert Lunetes List, die Doppelidentität des Ankömmlings erst bei der Begegnung ›face to face‹ zu enthüllen. Dennoch wird der Löwe fortan mit keinem Vers erwähnt. Im Gegenteil: Auch die Personalreferenz gilt, ungeachtet Lunetes doppeltem Spiel, ausschließlich Iwein. Ähnlich hatte sich Hartmann schon zuvor in der Harpin-Episode entschieden, den Löwen auszublenden, obwohl er handlungslogisch präsent bleibt.17 Vor dem Hintergrund der Treuebehauptung wird Iweins Löwe somit zu einem Symbol der Permanenz, das mehrmals signifikant verschwindet.

Sieht man von der Schlusslist ab, wird dies für keine Figur zur Überraschung: Iwein und der Löwenritter sind integriert, ohne dass dies nennenswert diskutiert würde. Welche Bedeutung kommt dann aber der Spannung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu, die in den Überlieferungsvarianten der Iwein-Fassungen A und B zum Tragen kommt? Sie gibt eine spezifische Spannung von linearer und non-linearer Organisation zu erkennen, die bislang noch nicht aufgearbeitet ist, weil sie nicht als offenes Problem verhandelt wird, wie etwa Lunete die Versäumnisse Iweins ankreidet. Der älteren Forschung galt Iweins Löwe vornehmlich als Symbol karitativer oder rechtlicher triuwe, in deren Zeichen der Löwenritter, von seinem Egoismus geheilt, nun Hilfsaventiuren zugunsten Dritter auf sich nehme.18 In jüngerer Zeit verschob sich die Aufmerksamkeit von ethischen Perspektiven auf das Selbstreflexionspotential höfischer Kultur, das Iweins wilder und gleichzeitig vorbildlicher Begleiter bündelt. Breite Einigkeit besteht in dieser Hinsicht, dass Iweins Löwe als Prozesssymbol höfischer Identitätsbildung zu lesen sei, die Gewalt und Animalität nicht ausschließe, sondern inkorporiere. Iwein und sein Löwe bilden in diesem Sinne eine höfische Isotopie:

Iweins Wildheit, im faktischen wie im symbolischen über das Löwenattribut vermittelten Sinn, ist unhintergehbare Voraussetzung für die Reintegration in die höfische Kultur, für den Prozess seiner Akkulturation.19

Der Ritter und sein Tier wurden dabei nicht einfach als redundante Verdoppelung von Tugenden, sondern als liminale Figuration betrachtet, die Leitdifferenzen von Natur und Kultur, Exzess und Disziplinierung als symbolische Einheit unlöslich koppelt.20 Der Löwe wird damit erstens als Reflexionsmedium einer kulturellen Differenzpraxis lesbar, die ihre Ausschlüsse experimentell in sich hineinnimmt, um nochmals Quast zu zitieren:

Höfische Kultur definiert sich aber nicht zuletzt von ihren Rändern her, durch Grenzziehungen zum Nicht-Höfischen. […] Doch das starre Schema von Innen und Außen, Eigenem und Anderem wird hier [in Hartmanns Iwein] zugunsten eines oszillierenden Ineinander preisgegeben.21

Der Artusroman setzt somit gezielt jene Grenzziehungen aufs Spiel, denen sich das höfische Disziplinierungsprogramm zuallererst verdankt – und destabilisiert dessen konstitutive Unterscheidung von Innen und Außen.22 Dies heißt für Iweins Löwe: Sofern der tierische Begleiter ein Drittes gegenüber der einfachen Opposition von Exteriorität und Interiorität verkörpert,23 den ritterlichen Habitus seines Herrn wesensmäßig teilt und diesem doch nur äußerlich zugehört, kann auch die Grenze zwischen beiden verwischen und scheinbar verschwinden. Wie Wildheit im höfischen Habitus aufgehoben bleibt, auch wenn sie scheinbar überwunden wird, so kann auch Iweins Löwe von der Bildfläche verschwinden und trotzdem »aufgehoben« bleiben24 – er wird latent.

Latenz aber ist Teil eines Funktionszusammenhangs, dessen reversible Operationen des Aufdeckens bzw. Verdeckens sich nicht auf eine lineare Prozessrichtung festlegen lassen, sondern diese vielmehr verunsichern, kontingent werden lassen.25 Auch wenn dies nicht dramatisch hervorgekehrt wird, beginnen Figuren oder Dinge damit zu kippen. Nicht nur Iweins Löwe, sondern auch andere Objekte der Latenz wie Lunetes Zauberring zeigen sich in diesem Sinne grenzunscharf, wenn man ihnen nachspürt, womit sie den Erzählhintergrund mit nicht fokussierten Möglichkeiten anreichern und den linearen Handlungszug aufweichen.26

Richtungsannahmen von Entwicklungsprozessen, die das Modell des ›sozialen Dramas‹ ebenso voraussetzte wie das ältere Strukturkonzept des Doppelwegs, läuft dies tendenziell entgegen. Auf der einen Seite schien das Ende des Löwen mit dem Abschluss einer liminalen Übergangsphase erklärbar, in der Höfisches und Wildes zwischenzeitlich koexistieren. Mit der Bewältigung von Krise und liminalem Zustand werde das Übergangssymbol obsolet: »Daß der Löwe bei Iweins Wiederbegegnung mit Laudine seine Funktion eingebüßt hat, ist als Hinweis auf das Ende der liminalen Phase zu werten.«27 Gegen dieses vermeintliche Ende aber wendet sich Hartmanns früherer Hinweis, der Löwe stehe Iwein beharrlich zur Seite.

Auf der anderen Seite beschäftigt den Roman die grundsätzliche Arbeit an der Kulturform der Selbstdifferenz, wie Quast zu bedenken gibt: »wie läßt sich das konstitutiv Andere der eigenen Kultur denken?«28 Diese Arbeit verfestigt sich bis zum Romanschluss zu keiner einfachen Form, sondern behält eine Unruhe, die sich – wie Iweins Löwe – durch Einschluss nicht bändigen oder löschen, sondern nur halten und speichern lässt. Will man Iweins Geschichte als Entwicklungsweg oder als »Prozess der Akkulturation« beschreiben, so konfrontiert noch der Erzählschluss mit Figurenbeziehungen, die allenfalls partiell reintegriert sind.

 

In symbolischer Verdichtung führt Iweins Löwe diese beiden Perspektiven der linearen Entwicklung und der non-linearen Oszillationsbewegung spannungsvoll zusammen.29 Ohne Frage verknüpft der Roman die »Identitätsproblematik« des Helden mit Reflexionen höfischer Kultur,30 doch bereitet es der Forschung erhebliche Schwierigkeiten, dass sich weder beides im Rahmen eines Prozessmodells vereinen lässt, noch von einem solchen vollständig absehen lässt.31 Diese Spannung, so meine ich, lässt sich überzeugender einholen, wenn man beide Richtungen berücksichtigt, die sich daraus entspinnen. Iweins Löwe ließe sich demnach nicht nur als Symbol einer Funktion der Latenz lesen, die zwischen An- und Abwesenheit wechselt. Er verweist darüber hinaus auf die Leistung einer solchen Erzählfunktion der Latenz, die Komplexität einerseits in nichtlinearer Form von Einschlüssen aufdeckt, die wieder ausgelagert werden, die andererseits solche Komplexität aber auch verschwinden lassen kann, ohne sie dauerhaft auszuschalten. Sowohl der Eindruck einer ›Figurenentwicklung‹ als auch die einfach zu erzählende ›Geschichte versäumter und gelernter Fürsorge‹ gehen aus diesem Wechselspiel hervor, obwohl der Erzählzusammenhang als ganzer weder Entwicklungs- noch Lernweg ist. Iweins Löwe verkörpert diese zweiseitige Erzählfunktion, indem er Kurzschlüsse zwischen Figurenebene und der formalen Reflexion von Einschlüssen herstellt: Gerade dann wird das Tier eingeschlossen, als der Gerichtskampf zwischen Gawein und Iwein latente Einschlüsse explizit zum Thema macht; und er bricht gerade dann hervor, als König Artus die Schleifen von unterlaufenem Gerichtskampf und latenter Konkurrenz notdürftig vereinfacht hatte.

Zwischen Vereinfachung und Pluralisierung höfischer Identität entwickelt der Roman somit eine Erzählform, die beides changierend vermittelt und zum zentralen Bezugsmodus erhebt. Ihre polaren Möglichkeiten prägen nicht zuletzt auch Iweins Begegnungen mit Laudine, die sämtlich im Zeichen merkwürdiger Unsichtbarkeiten stehen. Wenn Iwein und Laudine sich erstmals wiederbegegnen, erkennt diese jenen nicht (V. 5456–5458); ausdrücklich wundert sich Laudine, wie es sein könne, dass sie ihn noch nie gesehen, nicht schon längst von ihm gehört habe (5507–5520).32 Unbemerkt reiten Iwein und Lunete schließlich in die Burg Laudines, die merkwürdig ausgestorben wirkt (V. 8020: wunderlîch geschiht). In sämtlichen Etappen der linearen Krisen- und Rehabilitierungsgeschichte des Helden bilden wiederholte Unsichtbarkeiten die Voraussetzung, um zu befreien, zu enthüllen und neu zu binden. Komplexe Einlagerungen verwandelt die Erzählstrategie der Latenz so immer wieder zur linearen Geschichte.

Wie Gert Hübner analysiert hat, ist dies nicht nur eine Frage der dargestellten Welt und ihrer ›histoire‹, sondern ebenso der narrativen Informationsvergabe des ›discours‹. Auch dies gehört zur Erzählform der Latenz: Obwohl Hartmanns Iwein verschiedene Wissens- und Werthorizonte von Figuren nebeneinander führt, macht die Erzählung allein die Innenwelt Iweins zugänglich, für die anderes Figurenbewusstsein opak bleibt.33 Erzählte Alternativhorizonte bleiben auf Ebene des Erzählens somit latent.

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