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ibidem Verlag, Stuttgart

Abstract

ADHS ist die in Deutschland am häufigsten diagnostizierte kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankung. Nachdem lange Zeit eine Behandlung mit Methylphenidat - Ritalin - den Mittelpunkt der Behandlung ausgemacht hat, rücken nach zunehmender Kritik am Ritalinkonsum nun auch alternative Behandlungsmethoden mehr in den Fokus der Diskussion. Diese alternativen Behandlungsmethoden basieren auf psycho- und familientherapeutischen Ansätzen, haben ihre Grundlage in der Neurowissenschaft oder den systemischen Ansätzen. Eine dieser Behandlungsmethoden stellt auch die Erlebnispädagogik (EP) dar, die mit ihren handlungs- und erlebnisorientierten Lernmethoden Kindern und Jugendlichen mit ADHS die Möglichkeit gibt, etwas zu lernen, ohne dass die motorischen Impulse, die im Unterricht unterdrückt werden müssen, zu einem Hindernis werden.

Das Ziel dieser Forschung ist es, herauszufinden, wie die im erlebnispädagogischen Schullandheim (SLH) erlernten Verhaltensweisen in den Alltag der Klienten übernommen werden können. Dazu wurde die folgende Forschungsfrage gestellt: Wie kann ein dauerhafter Transfer von neu erlernten Verhaltensmustern aus erlebnispädagogischen Programmen in den schulischen und privaten Alltag von Kindern und Jugendlichen mit ADHS ermöglicht werden?

Neue Verhaltensmuster meint hier einen kontrollierten Umgang mit der Hyperaktivität, Impulsivität und der Aufmerksamkeit, da diese im Klassenzimmer in Schwierigkeiten für Lehrer*innen und Schüler*innen resultieren.

Um diese Forschungsfrage zu beantworten, wurde eine Fokusgruppendiskussion mit einigen Erlebnispädagogen und Erlebnispädagoginnen mit langjähriger Berufserfahrung durchgeführt. Die Resultate der Diskussion zeigen auf, dass eine langfristige Sicherung von neu erlernten Verhaltensmustern nur durch ein nachträgliches Engagement auf Seiten der Schulen ermöglicht werden kann. Die Schulsozialarbeit spielt dabei eine tragende Rolle, um die Lehrer*innen zu entlasten und den Schülern und Schülerinnen einen anderen Ansprechpartner zu bieten. Für eine effektive Schulsozialarbeit und eine Umsetzung von erlebnistherapeutischen und erlebnispädagogischen Konzepten muss der entsprechende Raum in der Schule geschaffen werden. Dies kann über Nachmittagsbetreuung oder Arbeitsgemeinschaften geschehen.

Die Forschung verdeutlicht, dass die Erlebnispädagogik vor allem durch einen Perspektivenwechsel ihre Wirksamkeit entfaltet. Für den oder die betroffene*n Jugendliche*n werden die im Klassenraum unangenehmen Eigenschaften wie Impulsivität oder Hyperaktivität zu wertvollen Eigenschaften, die den Gruppenprozess voranbringen können. Durch die positive Fremd- und Selbstwahrnehmung bekommen betroffene Jugendliche die Möglichkeit, in einem anderen, positiveren Licht von ihren Klassenkameraden und Lehrern wahrgenommen zu werden.

Mit diesem Ergebnis ist es empfehlenswert, den Dialog mit dem Kultusministerium aufzusuchen, um mehr Raum für Schulsozialarbeiter und deren Programm im schulischen Alltag zu schaffen, damit eine langfristige Sicherung der Fortschritte aus dem erlebnispädagogischen Programm ermöglicht werden kann.

Danksagung

„Die Worte, die das Herz eines Kindes vergiften, sei es aus Gemeinheit oder Ignoranz, bleiben im Gedächtnis haften und verbrennen einem über kurz oder lang die Seele.“ – Carlos Ruiz Zafon, der Schatten des Windes

Ich bedanke mich nachdrücklich bei allen, die mich beim Prozess dieser Bachelorarbeit und deren Veröffentlichung unterstützt haben. Danke an Prof. Dr. Hannah Reich, die mich durch den kompletten Prozess der Arbeit unterstützt hat und immer erreichbar war, wenn Ich ihre Hilfe brauchte. Danke an Andreas Michel von „EP-Extratouren“, der mit seiner Hilfe und mit seinem Netzwerk die Gruppendiskussion erst möglich gemacht hat. In diesem Sinne auch ein herzliches Danke an Jennifer, Ingo, Andreas und Franziska, die an der Expertenrunde teilgenommen haben und für die ideale Diskussionsatmosphäre gesorgt haben. Danke an meine Mama Doris, meine Freundin Nađa und meine Kommilitonen, die mir bei der Korrektur zur Seite gestanden haben, mich emotional unterstützt haben und dafür gesorgt haben, dass diese Bachelorarbeit nun in dieser Form vorliegt. Weiterhin einen großen Dank an meine Schwester Annika, die sich um das wunderschöne Cover gekümmert hat. Abschließend möchte ich mich bei meinen Eltern Doris und Wolfgang bedanken, die mir mit ihrer Unterstützung das Studium erst ermöglicht haben und immer für mich da waren, wenn ich Hilfe gebraucht habe.

Inhalt

1. Einleitung

1.1. Fragestellung

1.2. Aufbau

2. ADHS – Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung

2.1. Definition und Diagnose

2.2. Prävalenz

2.3. Erklärungsmodelle

2.3.1. Dopaminmangeltheorie

2.3.2. Hirnentwicklungsstörung

2.3.3. Umwelteinflüsse

2.3.4.Ganzheitlicher Ansatz

2.4. Gibt es ADHS wirklich?

2.5. Methylphenidat - Ritalin und Medikinet

2.5.1. Wirkung, Nebenwirkung und Verschreibung

2.5.2. Kritik

2.5.3. Schlussfolgerung

2.6. Alternative Behandlungsmöglichkeiten

2.6.1. Psychotherapie (Patientenzentriert)

2.6.2. Neurofeedback (Patientenzentriert)

2.6.3. Familientherapie (Eltern- und familienzentrierte Ansätze)

2.6.4. Kindergarten- und schulzentrierte Ansätze

2.6.5. Multimodale Behandlung

2.6.6. Projekt Via Nova

3. Kurt Hahn

3.1. Biografie

3.2. Kurt Hahn und Reformpädagogik

3.3. Zivilisatorische Verfallserscheinungen und Krisen der Familie

3.4. Erlebnistherapie

3.5. Salemer Gesetze

4. Moderne Erlebnispädagogik

4.1. Versuch einer Definition

4.2. Formen der Erlebnispädagogik

4.3. Wissenschaftliche Fundierung

4.3.1. Sport

4.3.2. Kooperation und Gruppendynamik

4.3.3. Natur

4.4. Systemtheorie

5. Erlebnispädagogik und ADHS

5.1. Praxisbeispiel – erlebnispädagogisches Schullandheim

5.2. Datenerhebung

5.3. Datenaufbereitung

5.4. Dateninterpretation und Diskussion

5.4.1. Systemische Ansätze

5.4.2. Positive Selbstwahrnehmung

5.4.3. Nach dem SLH – Transfer in den Alltag

5.4.4. Schulen in der Verantwortung und Sport

5.4.5. Dienst am Nächsten und Übernahme von Verantwortung

5.4.6. Umgang mit Ritalin

5.4.7. Aufgaben der Schulsozialarbeit und Lehrer*innen, Kontinuität

6. Fazit – Möglichkeiten und Grenzen der Erlebnispädagogik bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS

Anhang

1. Einleitung

„>Ob der Philipp heute still

wohl bei Tische sitzen will?<

Also sprach in ernstem Ton

der Papa zu seinem Sohn

Und die Mutter blickte stumm

Auf dem ganzen Tisch herum

Doch der Phillip hörte nicht,

was zu ihm der Vater spricht

Er gaukelt und schaukelt,

er trappelt und zappelt

auf dem Stuhle hin und her

>Philipp, das missfällt mir sehr!<“1

Die Geschichte des Zappel-Philipp von Heinrich Hoffmann aus dem Jahr 1845 gilt wohl als eine der ältesten Erwähnungen von der Störung, die heute zu den häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen gehört – ADHS2. ADHS manifestiert sich bei den Betroffenen in Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit3. Die Prävalenz liegt in einigen Regionen Deutschlands besonders hoch. So zum Beispiel der Bezirk Unterfranken, in dem 18,8% aller Jungen im Alter von zehn bis zwölf Jahren die Diagnose ADHS bekommen4. Als Folge wird vielen Kindern zu einer medikamentösen Behandlung geraten. Die in Deutschland populärste Behandlung ist die mit Methylphenidat, eher bekannt als Ritalin oder Medikinet5. Das häufig verschriebene Medikament stellt allerdings nur eine von vielen, teilweise noch wenig erforschten Behandlungsmethoden dar.

Kurt Hahn, ein Reformpädagoge aus Deutschland, stellte die Erlebnistherapie vor und setzte sie an den von ihm gegründeten Internaten durch. Diese sollte nicht eine spezielle Gruppe von betroffenen Jugendlichen ansprechen, sondern war für die Genesung der Jugend von den zivilisatorischen Verfallserscheinungen gedacht. Die vier Grundideen der Therapie bildeten Expeditionen in der Natur, handwerkliche und künstlerische Projektarbeiten, sportliche Aktivität und der „Dienst am Nächsten“6. Kurt Hahn setzte mit der Erlebnistherapie einen der Grundsteine für die moderne Erlebnispädagogik, die sich heute durch Natursport, Handlungslernen und Echtheit charakterisiert.

In erlebnispädagogischen Programmen treffen Kinder und Jugendliche mit ADHS auf eine Lernumgebung, die sich stark von dem Klassenzimmer einer Schule und der dortigen Atmosphäre unterscheidet. Die Teilelemente der modernen EP sind mittlerweile gut erforscht und wissenschaftlich belegt. Erlebnispädagogische Programme finden in der Regel in einem Zeitfenster von drei bis fünf Tagen statt und diese Zeit reicht nicht aus, um die Symptome einer ADHS langfristig zu heilen. Mit dieser Arbeit wird versucht, folgende Frage zu beantworten.

1.1. Fragestellung

Wie kann ein dauerhafter Transfer von neu erlernten Verhaltensmustern aus erlebnispädagogischen Programmen in den schulischen und privaten Alltag von Kindern und Jugendlichen mit ADHS ermöglicht werden?

1.2. Aufbau

Diese Arbeit beginnt mit einem Einstieg in die Thematik ADHS in Deutschland und führt den Leser durch aktuelle Statistiken und Forschungsergebnisse zur Prävalenz sowie den aktuellen Stand der Forschung zu den eigentlichen Ursachen einer ADHS-Erkrankung. Im Anschluss werden diverse Behandlungsmethoden vorgestellt. Die Behandlung mit Methylphenidat bildet dabei mit der dazugehörigen Kontroverse den Kern des Kapitels. Andere Behandlungsmethoden (zum Beispiel Psychotherapie, Familientherapie, Neurofeedback) werden vorgestellt und kurz erläutert. Das dritte Kapitel setzt sich mit dem Reformpädagogen Kurt Hahn, dessen Biografie, Idealen und Gesellschaftsideen auseinander. Die von Hahn begründete Erlebnistherapie wird genauer beleuchtet und bildet die Brücke und methodische Grundlage für die moderne EP, die im darauffolgenden Kapitel definiert und thematisiert wird. Die Kernelemente der modernen EP werden erklärt und der aktuelle Forschungsstand zu deren Wirkungsweisen wird weiter ausgeführt. Die Diskussion wird von einem Praxisbeispiel aus der beruflichen Praxis des Autors und einer exemplarischen Woche mit erlebnispädagogischem Programm eines Anbieters eröffnet. Daraufhin werden die Erfahrungen des Autors durch eine Fokusgruppendiskussion mit vier Experten auf dem Gebiet der EP und deren Resultaten ergänzt.

Um den Rahmen dieser Arbeit abzustecken, werden einige Begrifflichkeiten eingegrenzt. Auch wenn es andere Medikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat auf dem deutschen Markt gibt, wird nur das Medikament Ritalin weiter genannt werden als präsentester Vertreter von Methylphenidat-Präparaten in Deutschland. Es gibt noch weitere Medikamente, die zu einer Behandlung von ADHS verschrieben werden können. Da diese aber in der Forschung kaum präsent sind oder in Deutschland noch nicht auf dem Markt erschienen sind, liegt der Fokus auf Methylphenidat und anderen, in Deutschland populären Medikamenten. Bei der Diagnostik wird der amerikanische DSM-IV, der zur Diagnostik von ADHS in Amerika andere Richtlinien als der in Deutschland verwendete ICD-10 hat, ausgeblendet. In Deutschland wird zwischen ADS und ADHS unterschieden. ADS meint die Hyperkinetische Störung ohne hyperaktive Komponente. In der Regel wird der Begriff ADHS als Überbegriff für hyperkinetische Störungen nach ICD-10 Kennzeichen F90.-7 verwendet, so auch in dieser Bachelorarbeit. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf ADHS bei Kindern und Jugendlichen. Dabei ist die Altersgruppe von sechs bis achtzehn Jahren gemeint, die in der Regel das potenzielle Klientel von EP, aber auch die Zeit, in der Diagnosen besonders oft gestellt werden, darstellt.

Es wird der Begriff Trainer*innen verwendet. Mit Trainer*innen ist dabei die Arbeit als freie Trainer*innen gemeint, welche in der EP üblich ist. Der Begriff wird also als Synonym für die Berufsbezeichnung Erlebnispädagoge und Erlebnispädagogin verwendet, da die Trainer*innen, über die gesprochen wird, eine pädagogische Ausbildung haben oder einschlägige pädagogische Fortbildungen besucht haben.

1 Hoffmann (2012, S. 22).

2 Vgl. Eichenberg (2007, S. 173).

3 Vgl. Gawrilow (2012, S. 21f).

4 Vgl. Schlenker, Schwartz, Grobe und Drougias (2013, S. 3).

5 Lohse und Müller-Oerlinghausen (2019).

6 Vgl. Heckmair und Michl (2018, S. 39).

7 Neben der „Einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ (F90.0) gehören dazu noch die „hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“ (F90.1) sowie „sonstige hyperkinetische Störungen“ (F90.8) und nicht näher bezeichnete hyperkinetische Störungen (F90.9). (vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) unter Beteiligung der Arbeitsgruppe ICD des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen, 2018, S. 217).

2. ADHS – Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung

Kapitel zwei beschäftigt sich mit der Diagnose und dem Auftreten von ADHS bei Kindern und Jugendlichen. Dabei wird die aktuelle Diskussion zur Ursache und Behandlung genauer beleuchtet. Die verschiedenen Positionen, die sich in der akuten Forschung wiederfinden, sollen kurz dargestellt und gegenübergestellt werden. Neben einem kritischen Blick auf die populäre medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat werden alternative Behandlungsmethoden und -konzepte betrachtet.

2.1. Definition und Diagnose

ADHS ist die Abkürzung für „Aufmerksamkeits-Defizitstörung mit (oder ohne) Hyperaktivität“.

ADHS ist keine neumodische Erkrankung. In der Vergangenheit waren ihre Symptome unter diversen anderen Bezeichnungen bekannt: Zuerst nannte man die Jugendlichen einfach „Zappelphilipp“. Doch schon seit der Mitte des 20. Jahrhunderts bekam das, was heute als ADHS bekannt ist, einen Namen. Damals hieß die Ansammlung von Symptomen, die man heute als ADHS kennt noch minimal braindamage (MBD), eine Diagnose, die 1963 in die Diagnose minimal cerebral dysfunction (MCD) umgewandelt wurde1. Die Sammlung der Symptome und Definition von solchen als ADHS geschah erst später.

Die drei Kernelemente einer ADHS bilden Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität. Bei Kindern und Jugendlichen manifestieren sich die Symptome meist durch folgende Verhaltensweisen:

 Unaufmerksamkeit: Die Kinder sind oft unkonzentriert, was ihnen eine aktive Teilnahme am Unterricht oder auch beim Spielen erschwert. Dadurch entstehen Flüchtigkeitsfehler, es werden häufig Gegenstände verloren oder vergessen und schon kleine Reize können ausreichen, damit das betroffene Kind vom Unterricht abgelenkt wird2.

 Hyperaktivität: Die Kinder zappeln herum und haben große Schwierigkeiten, sich ruhig zu verhalten, wenn man es von ihnen erwartet. Die motorische Unruhe manifestiert sich auch durch das Herumrutschen oder das Klettern in unangebrachten Momenten3.

 Impulsivität: Die Kinder können nicht abwarten, bis sie an der Reihe sind und unterbrechen deswegen andere Kinder oder präsentieren ihre Ergebnisse und Antworten ungefragt4.

Weiterhin fällt es Kindern und Jugendlichen mit ADHS schwer, schwierige Aufgaben zu Ende zu bringen, die sich erst nach längerer Zeit auszahlen. So fällt zum Beispiel der Gedanke schwer, sich im schulischen Alltag anstrengen zu müssen, um später in Beruf oder Studium erfolgreich zu werden. Stattdessen wird die „Intensität der Gegenwart“5gesucht, da das Aufmerksamkeits- und Belohnungssystem eine Bestätigung durch unmittelbare Befriedigung benötigt.

Diese Symptome werden in dem ICD-10, der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, unter F90.X als hyperkinetische Störungen gesammelt. Der ICD-10 definiert hyperkinetische Störungen als solche, die charakterisiert sind

„durch einen frühen Beginn, meist in den ersten fünf Lebensjahren, einen Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, die kognitiven Einsatz verlangen, und einer Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen; hinzu kommt eine desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität. Verschiedene andere Auffälligkeiten können zusätzlich vorliegen. Hyperkinetische Kinder sind oft achtlos und impulsiv, neigen zu Unfällen und werden oft bestraft, weil sie eher aus Unachtsamkeit als vorsätzlich Regeln verletzen. Ihre Beziehung zu Erwachsenen ist oft von einer Distanzstörung und einem Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung geprägt. Bei anderen Kindern sind sie unbeliebt und können isoliert sein. Eine Beeinträchtigung kognitiver Funktionen ist häufig, spezifische Verzögerungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung kommen überproportional oft vor. Sekundäre Komplikationen sind dissoziales Verhalten und niedriges Selbstwertgefühl“6.

Der ICD-10, der auch in Deutschland zur Diagnostik seine Anwendung findet, unterscheidet zwischen

 Einfacher Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung F90.0 und

 Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (ADS) F98.8. und

 Hyperkinetische Störung verbunden mit Störung des Sozialverhaltens F90.1 und

 Sonstige bzw. nicht näher bezeichnete hyperkinetische Störungen F90.8 und F90.9.

Ausgeschlossen werden dabei andere Störungen, bei denen eine teilweise 60-80-prozentige Komorbidität der Symptome besteht. Komorbidität meint das Auftreten von weiteren, abgrenzbaren Krankheitsbildern oder auch einzelnen Syndromen zusätzlich zur eigentlichen Erkrankung. Dazu gehören diverse affektive Störungen, Angststörungen, Schizophrenie, Depressionen und tiefgreifende Entwicklungsstörungen7. Auch das Risiko später eine Substanzkonsumstörung zu entwickeln ist bei Menschen mit ADHS deutlich erhöht8.

Damit ein Kind oder Jugendlicher die Diagnose ADHS bekommt, muss eine bestimmte Anzahl von Aufmerksamkeitsschwierigkeiten zu Hause, als auch in der Schule oder im Kindergarten auftreten. Die Diagnose wird in der Regel über standardisierte Fragebögen gestellt. In Deutschland wird dafür der Fremdbeurteilungsbogen für Hyperkinetische Störungen (FBB-HKS) verwendet. Ab einem Alter von elf Jahren kann der Selbstbeurteilungsbogen für Hyperkinetische Störungen eingesetzt werden (SBB-HKS)9. Die Fragebögen werden unabhängig voneinander von Lehrern und Lehrerinnen oder Erziehern und Eltern ausgefüllt. Dadurch sollen die verschiedenen Lebensbereiche der Klienten beleuchtet und ein unbeeinflusstes Bild erzeugt werden. Die Fragebögen helfen vor allem den Ärzten, die in der Behandlungszeit häufig nicht alle Symptome erfassen können. Ist eine bestimmte Anzahl von Symptomen in einer gewissen Stärke aufzufinden, ist eine Diagnose mit ADHS wahrscheinlich. Die Skalen bestehen aus Verhaltensweisen, die mit einer Ratingskala ausgestattet sind. Hierzu gehören Verhaltensmuster, wie ständige motorische Unruhe, mangelnde Ausdauer beim Spielen, kurze Dauer von spielerischen Beschäftigungen und eine ausgeprägte Aktivität in Situationen, die relative Ruhe verlangen. Weitere Kriterien sind „Abnormitäten von Aufmerksamkeit oder Aktivität“, die in Anbetracht des Alters und des Entwicklungsstandes des Kindes sehr ausgeprägt sind10.Außerdem müssen andere, tiefgreifende Entwicklungsstörungen ausgeschlossen werden können. Die Symptomatik muss mindestens 6 Monate anhalten und bereits vor dem sechsten Lebensjahr aufgetreten sein. Weiterhin muss der Intelligenzquotient über 50 liegen und die Kriterien für Manie, Depression oder Angststörung dürfen nicht erfüllt sein. Neben den Fragebögen und Checklisten kann eine Diagnose außerdem mit psychologischen Tests oder durch neurobiologische Verfahren durchgeführt werden. Etwa ein Drittel aller Jugendlichen mit ADHS zeigt auch noch im Erwachsenenalter einzelne ADHS-Symptome11.

Die deutsche Ärztekammer (2005) empfiehlt eine multiaxiale Diagnostik, die die Störung auf sechs Ebenen abbildet. Diese Ebenen bestehen aus

 klinisch-psychiatrischen Syndromen,

 umschriebenen Entwicklungsstörungen,

 Intelligenzniveau,

 körperlicher Symptomatik,

 assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände

 und der globalen Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus.

Eine Diagnostik nur auf Grundlage von Fragebögen oder testpsychologischen Untersuchungen sei nicht möglich12. Döpfner und Lehmkuhl (2007) zeigen im folgenden Entscheidungsbaum (Abbildung 1) zur Diagnose von ADHS, welche anderen Erkrankungen ausgeschlossen werden müssen, damit eine sichere Diagnose ADHS gestellt werden kann.



Abbildung 1 – Entscheidungsbaum für die Diagnose hyperkinetischer Störungen

Quelle: In Anlehnung an Döpfner, Lehmkuhl, Schepker, Frölich, (2007)13

Eine ADHS-Diagnose hat nicht nur eine Therapie bzw. Behandlung zur Folge, sondern auch psychologische Konsequenzen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen: Das Selbstwertgefühl kann beeinträchtigt werden, da Kinder im Bewusstsein einer hirnfunktionell bedingten Störung heranwachsen. Sie werden außerdem mit dem Gedanken konfrontiert, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, dass sie verrückt seien14.