Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter

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4 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Die Posttraumatische Belastungsstörung wird insbesondere seit der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 vielfach diskutiert. Von den 65,6 Millionen Menschen auf der Flucht sind mehr als die Hälfe (51 %) Kinder und Jugendliche (UNICEF, 2016), die im Herkunftsland und auf der Flucht traumatische Ereignisse erlebt haben und auch im Aufnahmeland mit Ereignissen konfrontiert sind, die traumatische Ausmaße annehmen können (Gavranidou, Niemiec, Magg, & Rosner, 2008).

Es handelt sich dabei um außergewöhnliche Ereignisse, die das Gefühl der eigenen Sicherheit in markanter Weise gefährden und die sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern zu lang anhaltenden psychischen Belastungen führen können. Traumatische Ereignisse können zu einer PTBS führen, wenn sie entweder direkt erlebt oder bei anderen Personen beobachtet werden. Selbst die Information, dass eine nahestehende Person ein traumatisches Erlebnis hatte, kann in einem Trauma resultieren.

Ein Trauma wird nach ICD-10 als „ein belastendes Ereignis oder Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder lang anhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde“ definiert (Dilling, Mombour, & Schmidt, 2004). Im DSM-5 werden als Beispiele hierfür u. a. die Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafte Verletzungen oder sexuelle Gewalt angeführt (Falkai & Wittchen, 2015).

Die Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung hängt von der Häufigkeit und der Art der Verursachung des traumatischen Ereignisses ab. So wird häufig zwischen Typ-I-Traumata (einmalig/kurzandauernd) und Typ-IITraumata (sich wiederholend, langandauernd) unterschieden. Bei Typ-I-Traumata handelt es sich um einmalige traumatische Ereignisse (z. B. einen Autounfall) und bei Typ II um wiederkehrende Traumata (z. B. jahrelangen sexuellen Missbrauch) (Terr, 1991). Bei der Verursachung kann zwischen von Menschen verursachten Ereignissen (z. B. sexueller Missbrauch, Krieg) und Natur- oder Technikkatastrophen (z. B. Erdbeben, Flugzeugabsturz) unterschieden werden (Landolt & Hensel, 2014). Dabei gilt, dass die langandauernden und durch Menschen verursachten traumatischen Ereignisse mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zu einer PTBS führen (Tagay et al., 2011). In diesem Zusammenhang wird auch zwischen akzidentellen Traumata (d. h. zufällig auftretenden traumatischen Ereignissen wie Unfällen und Naturkatastrophen) und interpersonellen Traumata (die vorsätzlich von einem anderen Menschen verursacht sind, wie Misshandlungen) unterschieden (Maercker, 2013).

4.1 Diagnostische Kriterien der PTBS (nach DSM-5)

Im DSM-5 wird die Posttraumatische Belastungsstörung den Trauma- und belastungsbezogenen Störungen zugeordnet. Diese Störungen werden als Kontinuum aufgefasst, da isolierte belastende Ereignisse, die verschiedene Erscheinungsformen aufweisen, klinisches Leiden unterschiedlicher Intensität verursachen. Dabei ist es wichtig, dieses Leiden von vorübergehenden und normalen Reaktionen auf belastende Lebenssituationen zu unterscheiden.

Nach DSM-5 kann ein traumatisches Ereignis als eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert werden, wenn die Symptomatik mit Wiedererlebenssymptomen, Vermeidungsverhalten, kognitiven und affektiven Veränderungen sowie Übererregbarkeit einen Monat anhält und auf eine klinisch bedeutsame Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Lebensbereichen verursacht (Falkai & Wittchen, 2015).

Die diagnostischen Kriterien der PTBS nach DSM-5 sind für Erwachsene und auch für Kinder (älter als sechs Jahre) folgende:

1. Der Betreffende muss einem Ereignis ausgesetzt gewesen sein, das außerhalb der allgemein üblichen Erfahrungen eines Menschen liegt und für fast jeden eine deutliche Belastung darstellt. Dieses Ereignis stellt eine Bedrohung des Lebens oder die Gefahr einer ernsten Verletzung für den Betroffenen oder für andere Menschen dar. Es führt zu intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder (bei Kindern) auch zu agitiertem und desorganisiertem Verhalten.

2. Der Betroffene hat Schwierigkeiten, von den Ereignissen loszukommen, und erlebt ständig das Wiederauftauchen von Erinnerungen. Das traumatische Ereignis kann auf viele Arten wiedererlebt werden; hier sprechen wir z. B. von Flashbacks (dissoziative Reaktionen) oder von wiederkehrenden Träumen (diese können bei Kindern spezifisch ausgeprägt sein). Bei Kindern können die Erinnerungen an das traumatische Ereignis auch im Spielverhalten zum Ausdruck kommen.

3. Der Betroffene leidet unter Einschränkungen in seinem Leben, weil er sich bemüht, Situationen zu vermeiden, die diese Erinnerungen wieder hochkommen lassen, oder weil er durch diese Erlebnisse in seiner Empfindungsfähigkeit eingeschränkt bzw. abgestumpft worden ist.

4. Der Betroffene zeigt negative Kognitionen und Stimmungen, die sich auf folgende Weise zeigen: Unfähigkeit, sich an die wichtigsten Aspekte des Traumas zu erinnern; anhaltende und übertriebene negative Überzeugungen und Zustände (z. B. Scham, Furcht, Wut); Gefühle der Entfremdung und Unfähigkeit, positive Gefühle zu empfinden; vermindertes Interesse/Teilnahme an Aktivitäten; Schuldzuschreibungen (sich selbst oder anderen Personen).

5. Der Betroffene ist nervöser und weniger belastbar geworden, was sich in wenigstens zwei der folgenden Beschwerden zeigt: Ein- und Durchschlafstörungen, erhöhte Reizbarkeit oder Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz und gesteigerte Schreckreaktionen.

4.2 Symptome der PTBS bei Kindern unter sechs Jahren

Im DSM-5 werden neben den genannten Symptomen auch Symptome speziell für Kinder unter sechs Jahren beschrieben. Somit kann im DSM-5 ein Subtyp der PTBS für Vorschulkinder klassifiziert werden. Die Diagnostik ist hierbei stärker am Verhalten der Kinder orientiert und es werden weniger Symptome aus den Bereichen Vermeidung (3) und negative Kognitionen (4) vorausgesetzt.

Nach einem traumatischen Erlebnis kommt es bei vielen Kindern – v. a. in den ersten Wochen – zu wiederholten lebhaften Erinnerungen an dieses Ereignis, die oft in Ruhephasen, etwa vor dem Einschlafen, auftreten oder durch bestimmte Hinweise in der Umgebung ausgelöst werden. Die Kinder entwickeln deshalb öfter eine Furcht vor der Dunkelheit oder erleben massive Ängste bei der Trennung von den Bezugspersonen. Solche Trennungsängste können sogar noch bei Jugendlichen beobachtet werden. Umgekehrt sind die Kinder im Zusammensein mit den Eltern, aber auch mit Gleichaltrigen reizbarer und werden leichter ärgerlich. Sie verspüren einerseits einen Drang, über diese Ereignisse zu reden, zeigen auf der anderen Seite aber auch Scheu, dies zu tun, u. a. auch deshalb, weil sie etwa die Eltern nicht beunruhigen wollen. Dies führt mitunter dazu, dass die Eltern die starke Belastung ihrer Kinder gar nicht wahrnehmen. Andererseits sind auch Eltern und Freunde zurückhaltend mit Gesprächen über diese Ereignisse, was von den Kindern fälschlicherweise als mangelnde Anteilnahme missverstanden werden kann.

Das Wiedererleben des Traumas kann sich bei Kindern z. B. in Zeichnungen, Geschichten und im posttraumatischen Spiel zeigen. Das posttraumatische Spiel äußert sich als repetitives und lustloses Spiel, in dem das Kind Aspekte des Traumas immer wieder nachspielt. Ein Kind, das beispielsweise Verbrennungen erlitten hat, könnte seiner Puppe immer wieder Verbandszeug anlegen, in ähnlicher Weise, wie das beim Kind selbst passiert ist. Weitere mögliche Symptome sind Albträume mit unspezifischem Inhalt und sogar Entwicklungsrückschritte, insbesondere im Bereich der Sprache und Sauberkeitserziehung (Falkai & Wittchen, 2015; Rousseau, 2015).

Viele Kinder leiden unter Beeinträchtigungen ihrer kognitiven Funktionen, v. a. unter Konzentrationsschwierigkeiten und Problemen, sich etwas zu merken. Außerdem sind viele durch Schuldgefühle geplagt und zeigen – v. a. im Jugendalter – depressive Verstimmungen, die manchmal bis zu Suizidversuchen führen können. Des Weiteren können die Kinder auch emotionale und Verhaltensstörungen, ADHS und oppositionelles Verhalten entwickeln (Yule, 1994, 2002; Scheeringa et al., 2003; Scheeringa & Zeanah, 2008; Attanayake et al., 2009; Javanbakht, Rosenberg, Haddad, & Arfken, 2018).

4.3 Häufigkeit

Nach einer Metaanalyse von Alisic et al. (2014) entwickelten etwa 16 % der Kinder und Jugendlichen nach einem traumatischen Ereignis eine PTBS. Die Inzidenzraten variieren je nach Art des Traumas. So entwickeln 10 % der Kinder und Jugendlichen nach einem akzidentellen und 25 % nach einem interpersonellen Trauma eine PTBS. Die AutorInnen berichten auch über ein höheres Risiko für die Entwicklung einer PTBS bei Mädchen als bei Jungen (21 % bzw. 11 %) (siehe auch Landolt et al., 2013).

Obwohl Männer bzw. Jungen mehr Traumata erleben, entwickeln Frauen bzw. Mädchen zweimal so häufig eine PTBS, wobei hier zwischen der Art der traumatischen Ereignisse unterschieden werden muss (Pratchett, Pelcovitz, & Yehuda, 2010; Gavranidou & Rosner, 2003). Mädchen berichten öfter über sexuellen Missbrauch und häusliche Gewalt, wohingegen Jungen häufiger Unfälle, Gewalterfahrungen (außerhäusliche) und Katastrophen nennen (Landolt et al., 2013; Elklit, 2002).

Die Prävalenz der PTBS hängt zudem von dem Land bzw. der Region, in der Kinder und Jugendliche aufwachsen, ab. In Regionen mit häufigen Naturkatastrophen und Regionen mit sozialen Konflikten (z. B. Kriege, Straßengangs, Schulschießereien) ist das Risiko für die Kinder und Jugendlichen, eine PTBS zu erwerben, höher (Rosner & Steil, 2013). So haben die USA im Vergleich zu Europa deutlich höhere Prävalenzraten für PTBS bei Kindern und Jugendlichen. Je nach Stichprobe und Erhebungsinstrument bewegen sich diese zwischen 0,25 % und 62 % in den USA (Costello, Erkanli, Fairbank, & Angold, 2002; McLaughlin et al., 2013) und 0,5 % und 1 % in Europa (Falkai & Wittchen, 2015). Bei Kindern mit Fluchterfahrungen liegt die Prävalenz zwischen 19 % und 54 % (Bronstein & Montgomery, 2011). Neben den bereits genannten Faktoren beeinflussen auch getrennt lebende Eltern und ein niedriger sozioökonomischer Status der Familie die Entwicklung einer PTBS (Landolt et al., 2013).

 

4.4 Verlauf

Nach dem ersten Lebensjahr kann eine PTBS in jedem Alter auftreten. Die Symptome treten normalerweise innerhalb der ersten drei Monate nach dem Trauma auf. Im DSM-5 wird auch angegeben, dass es Monate oder sogar Jahre dauern kann, bis die erforderlichen Kriterien für die Diagnose einer PTBS erfüllt sind.

Nach Andrews et al. (2007) entwickeln ca. 7 % der Personen, die ein traumatisches Ereignis erlebt haben, erst nach symptomfreien Monaten, Jahren und Jahrzehnten eine PTBS. Zu Beginn erfüllt die Reaktion der betroffenen Personen auf das traumatische Ereignis die Kriterien einer Akuten Belastungsstörung. Die eigentlichen PTBS-Symptome, wie Wiedererleben, Vermeidungsverhalten und Übererregbarkeit, kommen erst später hinzu (Falkai & Wittchen, 2015).

Erfahrungen mit größeren Unglücksfällen haben gezeigt, dass bei solchen Ereignissen etwa die Hälfte der Betroffenen in den ersten Wochen nach dem Ereignis eine PTBS zeigt. Diese bildet sich bei einem Drittel innerhalb eines Jahres wieder zurück. Ein Viertel der Betroffenen leidet jedoch nach mehr als fünf Jahren noch an den Folgen. Erfahrungen haben zudem gezeigt, dass nicht nur große dramatische Ereignisse wie Erdbeben, schwere Unglücksfälle oder Kriegsereignisse (wie etwa der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, derzeit die Kriege im Nahen Osten) zu einer PTBS führen können, sondern dass auch Kinder, die einen Autounfall überleben, zu etwa 25 % bis 30 % unter einer PTBS leiden. Diese ist umso schwerer und länger anhaltend, je stärker und länger die Kinder dem Ereignis ausgesetzt waren (Yule et al., 2000; Kolassa et al., 2010).

Ohne therapeutische Hilfe verläuft die Störung bei Kindern und Jugendlichen häufig chronisch (Yule et al., 2000). Im Vergleich zu Erwachsenen, bei denen ca. die Hälfte der Betroffenen innerhalb von drei Monaten bzw. des ersten Jahres nach dem Trauma beschwerdefrei ist (Falkai & Wittchen, 2015), bleibt die PTBS-Symptomatik bei Kindern und Jugendlichen über die Zeit (nach einem Jahr) relativ stabil (Landolt et al., 2003).

4.5 Komorbidität

Schon vor fast 20 Jahren lieferten Essau, Conradt und Petermann (1999) erstmals repräsentative PTBS-Prävalenzzahlen für Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren und bestätigten, dass Posttraumatische Belastungsstörungen auch bei Kindern und Jugendlichen meist komorbid auftreten. Nach dieser Studie sind Depressionen (41 %), Somatisierungsstörungen (35 %) und Störungen durch Substanzkonsum (29 %) die häufigsten komorbiden Störungen bei PTBS für 12- bis 17-Jährige. Als weitere komorbide Störungen wurden Angst- und Zwangsstörungen genannt.

Neuere Studien bestätigen diese Angaben und berichten von einer 80-prozentigen Wahrscheinlichkeit für das Auftreten komorbider Störungen bei PTBS. Bei Erwachsenen sind dies meistens Substanzkonsumstörungen und Störungen des Sozialverhaltens, bei Kindern und Jugendlichen handelt es sich um Störungen mit oppositionellem Trotzverhalten und Störungen mit Trennungsangst (Falkai & Wittchen, 2015).

4.6 Diagnostik

Nach Rosner und Steil (2013) müssen bei der Diagnostik einer PTBS bei Kindern und Jugendlichen drei Bereiche berücksichtigt werden. Dabei handelt es sich um das prätraumatische Funktionsniveau des Kindes, das traumatische Ereignis selbst und dessen Folgen für das Kind und seine Umwelt.

Um einen möglichst detaillierten Einblick in die Symptomatik zu gewinnen, sollten im diagnostischen Prozess verschiedene Informationsquellen einbezogen werden. Neben subjektiven Angaben des betroffenen Kindes sollten Angaben weiterer, dem Kind nahestehender Personen (z. B. Eltern/Bezugsperson, LehrerInnen, Freunde/Freundinnen), die meist auch externalisierende Probleme beschreiben, hinzugezogen werden. Ergänzende Informationen wie Gerichtsunterlagen und Verhaltensbeobachtungen sollten auch genutzt werden.

Es wird empfohlen, Kinder und Bezugspersonen getrennt voneinander zu befragen, da nachgewiesen wurde, dass die Angaben von Bezugspersonen und Kindern zur PTBS-Symptomatik in vielen Fällen nicht übereinstimmen bzw. dass die Bezugspersonen die Symptomatik häufig unterschätzen (Dyb et al., 2009; Tingsull et al., 2015). Es handelt sich bei diesen Befragungen meist um strukturierte Interviews oder Fragebögen. Der Tabelle 1 können deutschsprachige Instrumente zur Erfassung der PTBS entnommen werden (Seite 67).

4.7 Behandlung

Bei der Behandlung von PTBS herrscht Einigkeit darüber, dass eine erfolgreiche Behandlung aus der In-sensu-Konfrontation, der kognitiven Neubewertung des Traumas und seiner Konsequenzen sowie der In-vivo-Konfrontation der Traumatrigger besteht (Rosner & Steil, 2013).

Derzeit ist die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT), spezifisch die Traumafokussierte Kognitive Verhaltenstherapie (Tf-KVT; Cohen, Mannarino, & Deblinger, 2009), der am besten evaluierte und erfolgreichste Ansatz in der Reduzierung der PTBS-Symptomatik bei Kindern und Jugendlichen. Neuere Studien zeigen auch eine deutliche Verbesserung der PTBS-Symptomatik bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (Unterhitzenberger et al., 2015). Neben der Tf-KVT wird auch die Eye Movement Desensitization and Reprocessing Therapy (EMDR) als vielversprechender Ansatz genannt, obwohl hier eine deutlich geringere Datenbasis zur Effektivität vorliegt (Rosner, Hagl, & Petermann, 2015). Nachfolgend werden die Tf-KVT und die EMDR beschrieben.

Tab. 1: Deutschsprachige Instrumente zur Diagnostik einer Posttraumatischen Belastungsstörung bei Kindern und Jugendlichen (übernommen von Krentz, 2015, S. 252)


CAPS-CA = Clinical-administered PTSD Scale for Children and Adolescents

4.7.1 Traumafokussierte Kognitive Verhaltenstherapie (Tf-KVT)

Die Traumafokussierte Kognitive Verhaltenstherapie (Tf-KVT) nach Cohen, Mannarino und Deblinger (2009) ist eine multimodale Traumatherapie für Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 3 und 17 Jahren und deren Bezugspersonen. Ursprünglich wurde dieses Therapiemodell für die Behandlung von traumatischen Ereignissen im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch von Kindern entwickelt. Heute dient die Therapie zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die traumatische Ereignisse (gleich welcher Art) erlebt haben und infolgedessen unter einer PTBS leiden. Die Therapie ist für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund geeignet.

Die Therapie setzt sich aus acht Phasen, die unter dem Akronym PRAKTICE zusammengefasst wurden, zusammen (siehe unten). Diese Phasen werden in 90-minütigen wöchentlichen Sitzungen durchgeführt (Sachser, Rassenhofer, & Goldbeck, 2016). Die Anzahl der Sitzungen variiert zwischen 12 und 16 (Rodenburg et al., 2009).

P sychoedukation und Erziehungsfähigkeit

R elaxion (Entspannungstraining)

A ffektive Modulation

K ognitive Verarbeitung

T raumanarrativ

I nvivo-Bewältigung traumatischer Schlüsselreize

C onjoint (gemeinsame Eltern-Kind-Sitzungen)

E rleichtern (Sicherheitsplanung)

In der Psychoedukation werden dem Kind und den Bezugspersonen zu Beginn der Therapie die Symptomatik der PTBS, die Auswirkungen von traumatischen Erfahrungen und die üblichen Reaktionen von Kindern mit PTBS-Symptomatik nähergebracht. In dieser ersten Phase wird auch das Therapievorgehen erklärt.

Das Entspannungstraining zielt auf die Vermittlung von Strategien zum besseren Umgang mit Stress und Anspannung ab. Dem Kind werden leicht erlernbare und alltagstaugliche Methoden (z. B. Bauchatmung, Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung – PMR) beigebracht.

Neben diesem Entspannungstraining ist auch die Affektregulation wichtig. Traumatische Ereignisse können bei vielen Kindern zu schmerzhaften Gefühlen führen. In der affektiven Modulation lernen die Kinder und ihre Bezugspersonen, wie sie diese Gefühle erkennen, benennen und mit ihnen umgehen können. Dabei soll auch der Einsatz von dysfunktionalem Vermeidungsverhalten reduziert werden.

In der darauffolgenden Phase steht die kognitive Umstrukturierung im Vordergrund, in der das Kind und die Bezugsperson geschult werden, die Zusammenhänge zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten zu erkennen. Der Schwerpunkt liegt in der Unterscheidung zwischen richtigen/falschen und hilfreichen/ nicht hilfreichen Gedanken.

Das Traumanarrativ bzw. der Traumabericht ist das zentrale Therapieelement der Tf-KVT, in dem über das traumatische Erlebnis berichtet wird. Dies kann entweder im Gespräch, in Form eines geschriebenen Narrativs oder in einer anderen Form, die dem Entwicklungsstand des Kindes/Jugendlichen angemessen ist (z. B. Malen), passieren.

Die bisherigen Berichte zeigen, dass auch bei Kindern ein gemeinsames Durchsprechen der Erfahrungen bald nach dem traumatischen Ereignis dazu beiträgt, dass sie ihre eigenen Schwierigkeiten, mit dem Ereignis fertigzuwerden, als natürliche Reaktion ansehen. Weiters werden die quälenden Erinnerungen und Gedanken an das Trauma reduziert. Der Fokus des Durchsprechens liegt auf der Rekonstruktion des traumatischen Ereignisses.

Das Narrativ selbst beginnt mit einem Steckbrief, in dem das Kind etwas über sich berichtet (z. B. Wer bin ich? Wie alt bin ich? Hobbys etc.). Im nächsten Kapitel wird das traumatische Ereignis beschrieben – mit dem Ziel, die Erinnerungen, Gedanken und Gefühle einordnen zu können. Durch mehrfaches Vorlesen machen die Kinder die Erfahrung, dass die Gefühlsflut bei der Erinnerung an das Trauma stetig abnimmt und ausgehalten werden kann. So gewinnen die Kinder langfristig Kontrolle über die eigenen Erinnerungen und sind diesen nicht länger ausgeliefert. Im Schreibprozess wird das Kind auch nach der Beschreibung des „schlimmsten Moments“ gefragt. Mit dieser Beschreibung sollen kognitive Verzerrungen und Fehldeutungen des traumatischen Ereignisses aufgezeigt und korrigiert werden. Es werden aber auch positive Veränderungen bzw. Neubewertungen des Traumas festgehalten.

Das Schreiben dieser Erzählung kann somit als ein Prozess gesehen werden, der sich über mehrere Sitzungen hinweg entwickelt und in dem durch das wiederholte Schreiben, (Vor-)Lesen und Ergänzen des Textes die emotionale und kognitive Bewältigung des Traumas gefördert wird.

Mit dem Einverständnis des Kindes wird das Narrativ vom Therapeuten/von der Therapeutin fortlaufend mit den Bezugspersonen besprochen.

In der darauffolgenden Phase, der In-vivo-Bewältigung, kann das noch bestehende Vermeidungsverhalten (z. B. Vermeidung bestimmter Orte oder Tätigkeiten) abgebaut werden.

Danach folgen die Eltern-Kind-Sitzungen, in denen die Kinder die Möglichkeit bekommen, über das traumatische Erlebnis zu berichten, wozu auch das in der Einzelsitzung erarbeitete Narrativ genutzt werden kann. Diese Sitzungen sind nicht nur für das Kind, sondern auch für die Bezugspersonen wichtig, da diese anhand der Informationen eine Verknüpfung zwischen der Traumatisierung und den Problemen des Kindes herstellen können sowie auch lernen, das Kind bei der Traumabewältigung zu unterstützen.

Am Ende der Therapie wird mit dem Kind und der Bezugsperson ein Sicherheitsplan erstellt. Dabei werden Sicherheitsstrategien (z. B. kognitive Techniken, Selbstbehauptungsstrategien, Mobilisierung von sozialer Unterstützung) zur selbstverantwortlichen Lebensgestaltung erarbeitet. Wichtig ist es, einer erneuten Traumatisierung vorzubeugen. Kinder und Jugendliche üben in dieser Phase, gefährliche Situationen zu erkennen und auch, wie sie sich bei Bedrohungen verhalten können.