Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik

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Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik
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Prof. Dr. Barbara Fornefeld (em.), Lehrstuhl für Pädagogik und Rehabilitation bei geistiger und schwerer Behinderung an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, Department Heilpädagogik und Rehabilitation.

Dieses Buch erschien bis zur 3. Auflage unter dem Titel „Einführung in die Geistigbehindertenpädagogik“.

Ebenfalls von der Autorin im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:

Menschen mit Komplexer Behinderung. Selbstverständnis und Aufgaben der Behindertenpädagogik

ISBN: 9783497019847

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.dnb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 8431

ISBN 9783825287757 (Print)

ISBN 9783838587752 (PDF-E-Book)

ISBN 9783846387757 (EPUB)

6. Auflage

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: ew print & medien service gmbh, Würzburg

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D80639 München

Net: www.reinhardtverlag.de EMail: info@reinhardtverlag.de

Inhalt

Vorwort zur 5. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

1Geistigbehindertenpädagogik – ein komplexes System von Hilfen und Maßnahmen

1.1Terminologische Klärung

1.2Geistigbehindertenpädagogik – eine Pädagogik mit vielfältigenAufgaben

1.3Brückenfunktion der Geistigbehindertenpädagogik

1.4Interdisziplinarität

2Historische Wurzeln der Geistigbehindertenpädagogik

2.1Das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung vonden Anfängen bis zum 19. Jahrhundert

2.2Beginn der Geistigbehindertenpädagogik – Anstaltsgründungen im 19. Jahrhundert

2.3Sozialdarwinismus und Nationalsozialismus – Konsequenzen für Menschen mit geistiger Behinderung

2.4Die Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik von 1945 bis 1989 in beiden deutschen Staaten

2.4.1Entwicklung in der BRD

2.4.2Entwicklung in der DDR

2.5Geistigbehindertenpädagogik im Umbruch

3Personenkreis: Menschen mit geistiger Behinderung

3.1Behinderung – geistige Behinderung – Definitionen

3.2Klassifikation von geistiger Behinderung

3.3Ätiologie der geistigen Behinderung

3.4Epidemiologische Daten

3.5Geistige Behinderung unter pädagogischen Gesichtspunkten

3.6Geistige Behinderung unter soziologischen Gesichtspunkten – Randgruppenphänome

3.6.1Menschen mit Komplexer Behinderung

3.6.2Alte Menschen mit geistiger Behinderung

3.6.3Geistige Behinderung und Migration

3.7Zusammenfassung: Anthropologische Impulse

4Aufgabenfelder der Pädagogik und Rehabilitation für Menschen mit geistiger Behinderung

4.1Frühförderung und Früherziehung

4.1.1Frühförderung – Zielgruppe

4.1.2Entwicklung der Frühförderung und rechtliche Grundlagen

4.1.3Frühförderung als System

4.1.4Zielsetzung und Aufgaben der Frühförderung

4.2Schulische Erziehung und Bildung

4.2.1Bildungsanspruch

4.2.2Bildungsorte – Förderorte

4.2.3Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung –Zielsetzung, Aufbau und Organisation

4.2.4Ziele für Schüler mit schwerer Behinderung

4.3Erwachsenenbildung

4.3.1Zielgruppe und Institutionen der Erwachsenenbildung

4.3.2Aufgaben der Erwachsenenbildung und ihre Umsetzung

4.3.3Grundprinzipien der Erwachsenenbildung

4.4Berufliche Bildung

4.4.1Entwicklung der beruflichen Bildung für Menschen mit geistiger Behinderung

4.4.2Die Werkstatt für behinderte Menschen

4.4.3Integrationsdienste und Integrationsprojekte

4.4.4Berufliche Bildung für Menschen mit Komplexer Behinderung

4.5Wohnen

4.5.1Bedeutung des Wohnens

4.5.2Reform des Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung

4.5.3Rechtliche Grundlagen

4.5.4Wohnformen im Wandel

4.5.5Wohnen als Bildungsaufgabe

5Geistigbehindertenpädagogik als Wissenschaft

5.1Pädagogische Erfahrung – wissenschaftliche Erkenntnis

 

5.2Erkenntnistheoretische Bezüge

5.3Zusammenfassung

Glossar

Anhang

Ergänzung zu Kapitel 2.4: Entwicklung der Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung zwischen 1945 und 1989

Ergänzung zu Kapitel 3.5: Disability Studies

Ergänzung zu Kapitel 3.6.2: Entwurf zum Leitbild der Seniorenbetreuung

Ergänzung zu Kapitel 4.2: Recht auf Bildung – Verpflichtung zu einem inklusiven Bildungssystem

Ergänzung zu Kapitel 4.2.2: Aussagen wichtiger Vertreter der Integrations-/Inklusionsforschung zum integrativen/inklusiven Unterricht

Ergänzung zu Kapitel 4.3.1: Kölner Erklärung

Lösungshinweise zu den Übungsaufgaben

Ausgewählte Fachzeitschriften

Adressen von ausgewählten Institutionen und Verbänden

Internetadressen zu ausgewählten Syndromen

Bildnachweis

Literatur

Sachregister

Vorwort zur 5. Auflage

Bei der Erstauflage des Buches im Jahr 2000 waren paradigmatische Veränderungen in der Erziehung, Bildung und Rehabilitation von Menschen mit geistigerBehinderung, die sich durch die Einführung der Sozialgesetzbücher verwirklichenließen, nicht absehbar. Sozialrechtliche, behinderungspolitische und ökonomischeVeränderungen in Deutschland zeigen heute ihre Auswirkungen auf das Lebenund die Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung. Sie ermöglichenauf der einen Seite mehr soziale und kulturelle Teilhabe, bedingen andererseitsaber auch neue Formen der Diskriminierung. Angesichts dieser Entwicklungdanke ich dem Verlag für die Möglichkeit der grundlegenden Überarbeitung desBuches im Zuge der vierten Auflage. Für die fünfte Auflage wurde das Buch vorallem im Hinblick auf Literatur und Adressen aktualisiert.

Die Geistigbehindertenpädagogik ist eine relativ junge Disziplin mit einer abwechslungsreichen Geschichte, deren systematische wissenschaftliche Aufarbeitung erst jetzt beginnt. Neu zu erforschen und zu bewerten sind vor allem die nach 1945 entstandenen Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten. Es handelt sich hierbei um spezifische Entwicklungen, die die Geistigbehindertenpädagogik von anderen heil- oder sonderpädagogischen Fachrichtungen unterscheidet. Sie sind in das Buch aufgenommen worden.

Das wissenschaftliche Verständnis von Behinderung und damit auch von geistiger Behinderung hat sich verändert. Stärker als zuvor werden die individuellen Lebensbedingungen in das Verständnis von Behinderung einbezogen. Neben den Schädigungen und Beeinträchtigungen spielen die individuellen und sozialen Kontextfaktoren bei der Erfassung des Förder-, Unterstützungs- und Hilfebedarfes eine wichtige Rolle. Die Konsequenzen dieses veränderten Verständnisses von geistiger Behinderung für die Institutionen und Professionen werden seit der vierten Auflage des Buches thematisiert. Dabei steht die Realisation von Bildung in den verschiedenen Lebensphasen und Lebensräumen von Menschen mit geistiger Behinderung im Vordergrund.

Eine weitere Veränderung zwingt zur Auseinandersetzung:

Trotz Aufnahme des Diskriminierungsverbotes in das Grundgesetz und obwohl Integration, Inklusion, Selbstbestimmung und Teilhabe heute zu den Leitprinzipien moderner Behindertenpolitik gehören, sind Tendenzen des Ausschlusses einer spezifischen Gruppe von Menschen mit geistiger Behinderung zu beobachten. Ursachen für diese Exklusion liegen in der Umgestaltung des Sozialstaates infolge ökonomischer Veränderungen in Deutschland. Die Folge ist die Bildung einer neuen ‚Restgruppe‘, der sogenannten Menschen mit Komplexer Behinderung. Die Anerkennung ihrer Bildungsbedarfe wird zur pädagogischen und gesellschaftlichen Aufgabe.

Um zu zeigen, dass die Geistigbehindertenpädagogik nicht nur erzieherische Praxis, sondern auch erziehungswissenschaftliche und bildungstheoretische Disziplin ist, werden im fünften Kapitel ihre aktuellen Denkrichtungen dargestellt.

Vieles hat sich für Menschen mit geistiger Behinderung seit der Erstauflage verändert. Ihre Selbstvertretung und Mitbestimmung wird heute ernst genommen. Durch eine Reihe von Originalaussagen wird die Sichtweise der betroffenen Menschen in die wissenschaftliche Darstellung einbezogen.

Anmerkung: Aus stilistischen Gründen wird auf die konsequente Verwendung beider Geschlechter verzichtet. Es sind aber stets beide gemeint.

Köln, im Januar 2013

Barbara Fornefeld

Vorwort zur 1. Auflage

„Ich wünsche mir, dass wir behinderten

Menschen nie mehr ausgelacht oder

benachteiligt werden.“

(Bobby Brederlow)

Für seine Hauptrolle im ARD-Vierteiler „Liebe und weitere Katastrophen“ hat Bobby Brederlow 1999 den ersten Medienpreis der Bundesvereinigung für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. erhalten. Sein Wunsch verdeutlicht eindrücklich das Spannungsfeld, in dem Menschen mit geistiger Behinderung in unserer Gesellschaft leben. Sie wollen so akzeptiert werden wie sie sind. Sie wollen als normal begriffen werden, weil sie trotz aller Aufklärung heute immer noch auf Ablehnung und Diskriminierung stoßen.

In seiner Schlichtheit weist das einführende Zitat damit auch auf ein zentrales Problem der Geistigbehindertenpädagogik. Menschen wie Herr Brederlow erscheinen auf den ersten Blick anders und doch sind sie wie die anderen, die Menschen ohne Behinderung, mit demselben Anspruch auf Achtung ihrer Menschenwürde und -rechte. Die Geistigbehindertenpädagogik wendet sich ihren individuellen Bedürfnissen zu, mit dem Ziel, ihnen durch angemessene Erziehung, Bildung und Betreuung gerecht zu werden.

Die organischen Schädigungen und deren Folgen prägen die individuelle Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung und verlangen nach einer adäquaten Lebensgestaltung und -begleitung. Zur Durchsetzung ihrer Bedürfnisse benötigen Menschen mit geistiger Behinderung meist lebenslang Unterstützung, die in jeder Lebensphase spezifisch zu gestalten ist: In der frühen Kindheit sind andere Erziehungs- und Betreuungsmaßnahmen notwendig als im Jugend-, Erwachsenen- oder gar im Greisenalter. Wieder andere Maßnahmen sind in der Schule und im Bereich von Arbeit, Wohnen oder Freizeit erforderlich.

Vor dem Hintergrund des spezifischen Erziehungs- und Unterstützungsbedarfes hat sich die Geistigbehindertenpädagogik heute zu einem komplexen System pädagogischer, therapeutischer und rehabilitativer Maßnahmen entwickelt, die in unterschiedlichen Institutionen und von verschiedenen Fachkräften durchgeführt werden. Trotz Breite und Unterschieden in den Zugangsweisen verfolgen alle Institutionen und Professionen ein gemeinsames Ziel, nämlich

die Verringerung von Beeinträchtigungen und Benachteiligungen,

die größtmögliche Selbstbestimmung und

die Integration von Menschen mit geistiger Behinderung in die Gesellschaft.

Unterstützt wird dieser Prozess von der wissenschaftlichen Geistigbehindertenpädagogik, die Erziehungstheorien und -methoden entwickelt und durch die Erforschung der Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung diese verbessernd zu beeinflussen versucht. Der Geistigbehindertenpädagogik geht es, in der Praxis wie in der Theorie, um die Verwirklichung der individuellen Erziehungs- und Lebensbedürfnisse von Menschen mit Behinderung in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Damit verfolgt sie immer auch einen ethischen und gesellschaftspolitischen Auftrag, wie beispielsweise die Durchsetzung und Realisation des Lebens- und Bildungsrechtes der ihr anvertrauten Menschen.

Charakteristikum der aktuellen Geistigbehindertenpädagogik ist ihr Denken und Handeln vom Menschen aus, von seinen spezifischen Bedürfnissen, individuellen Einschränkungen, aber auch von seinen Möglichkeiten aus. Darum sollen in diesem Buch die Menschen mit geistiger Behinderung – ihre Lebensräume, ihre Erziehungs- und Betreuungsbedürfnisse – im Mittelpunkt stehen. Von hier aus werden Ziele und Aufgaben der Geistigbehindertenpädagogik in verschiedenen Institutionen (z. B. Schule, Werkstatt oder Wohnheim) dargestellt. Hierbei sollen Charakteristika des geistigbehindertenpädagogischen Denkens deutlich werden; der Überblick wird aus einem pädagogischen Blickwinkel gegeben.

Den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Seminars für Geistigbehindertenpädagogik in Köln, insbesondere Frau Ilm, Frau Foede und Frau Harwick, danke ich für ihre Unterstützung bei der Literaturrecherche, dem Ehepaar Ullmann und Herrn Gödecke für ihre Mitwirkung bei grafisch-technischen Fragen, Herrn Brederlow, Herrn T. und der Theatergruppe SinnFlut für ihre Zustimmung zum Druck ihrer Fotos. Besonders danken möchte ich Frau Wehler und Frau Landersdorfer vom Ernst Reinhardt Verlag für ihre wohlwollende Unterstützung und die Realisation dieses Buches.

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Das vorliegende Buch will Studienanfängern der Heil- und Sonderpädagogik, der Rehabilitationswissenschaften sowie interessierten Studierenden verwandter Studienfächer (Pädagogik, Psychologie, Gerontologie, Sozialpädagogik und Sozialarbeit) einen Einblick in die vielfältigen Aufgaben- und Handlungsfelder der Geistigbehindertenpädagogik geben. Es eignet sich für Studierende in Bachelor- und Masterstudiengängen. Nicht die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Phänomen der geistigen Behinderung oder mit Einzelaspekten der Geistigbehindertenpädagogik ist intendiert, sondern die Vermittlung eines Überblickes über ein Fach, das sich als ein komplexes Teilgebiet der Pädagogik versteht. Der beabsichtigte Überblickscharakter des Buches macht inhaltliche Raffungen unvermeidbar, will aber gerade hierdurch Studienanfänger zu weiterführender Auseinandersetzung mit Einzelfragen des Faches motivieren. Die formale Gestaltung des Buches soll das Selbststudium erleichtern. Die in den Randspalten gegebenen Hinweise und Piktogramme dienen der schnellen Orientierung. Beispiele veranschaulichen die theoretischen Aussagen. Als Schlüsselbegriffe gekennzeichnete Termini weisen auf die Fachsprache, die im Studium anzueignen ist. Gezielte Fragen am Ende eines Kapitels dienen der Reflexion des Gelesenen. Denkanstöße und spezifische Literaturhinweise sollen zur weiterführenden Vertiefung von Einzelaspekten anregen. Das Glossar am Ende des Buches klärt zentrale Fachbegriffe. Angaben zu weiteren Informationsquellen sind im Anhang aufgeführt.


Definition
Literaturempfehlung, weiterführende Literatur
Beispiel
Denkanstöße
Fachbegriffe der Disziplin
Übungsaufgaben am Ende der Kapitel

1Geistigbehindertenpädagogik – ein komplexes System von Hilfen und Maßnahmen

 

Der nachfolgende Überblick vermittelt einen ersten Eindruck von der Breite eines Faches, das sich als Praxis, Theorie und Forschung der Erziehung, Bildung und Rehabilitation von Menschen mit geistiger Behinderung versteht. Die Übersicht will die spätere Einordnung der thematisierten Frage- und Aufgabenstellungen in das Gesamtsystem der Geistigbehindertenpädagogik erleichtern. Dazu sollen zunächst einige zentrale Begriffe geklärt werden.

1.1Terminologische Klärung

Die Geistigbehindertenpädagogik ist ein Teilgebiet des größeren Systems der Heiloder Sonderpädagogik, auch Behinderten-, Rehabilitations- oder Spezielle Pädagogik genannt. Obwohl sich alle Begriffe auf das Behindertenerziehungswesenbeziehen und häufig synonym verwendet werden, meinen sie dennoch nicht dasselbe. Darum sollen sie hier kurz charakterisiert und von einander abgegrenzt werden.

Heilpädagogik

Der Begriff der Heilpädagogik wurde im 19. Jahrhundert von den Pädagogen Georgens und Deinhardt eingeführt und bezog sich zunächst auf die Versorgung und Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung („Schwachsinnige“). Die beiden Autoren verstanden die Heilpädagogik als Kritik an der bestehenden Pädagogik; einer Pädagogik, die Kinder und Jugendliche mit Behinderungen nicht berücksichtigte. Aufgrund der schlechten medizinischen Versorgung dieser Menschen und der unzureichenden Erziehung bestimmte die Heilpädagogik ihren Standpunkt anfangs zwischen Allgemeiner Pädagogik und Medizin.


Abb. 1: Terminologische Vielfalt

In der Folgezeit wurde die Heilpädagogik immer wieder neu interpretiert und definiert, was sie zu einem Sammelbegriff unterschiedlichster Bedeutungen machte. Diese begriffliche Uneindeutigkeit führte zu Kritik vor allem seitens anderer behindertenpädagogischer Arbeitsbereiche wie der Sinnesgeschädigten- oder Körperbehindertenpädagogik, die der Heilpädagogik unter anderem ihre starke medizinische Anbindung vorwarfen: Die Heilpädagogik sei nicht eindeutig pädagogisch bestimmt und werde aufgrund ihrer starken Orientierung an der Medizin zu einer Heilbehandlung krankhafter Zustände durch pädagogische Mittel.

Kritik fand auch eine andere, die theologische, eher auf die Vermittlung des Seelenheils ausgerichtete, Interpretation der Heilpädagogik, weil sie diese in den Augen der Kritiker zu einer Heils-Pädagogik machte; einer Pädagogik, deren Erziehungsziel das selbstständige Erstreben des Heils im theologischen Sinne war. Trotz der Beanstandungen hat sich der Begriff der Heilpädagogik bis heute gehalten und dies vor allem in Österreich und der Schweiz. Wenn Speck von „System Heilpädagogik“ (2008) spricht, meint er damit das komplexe Zusammenwirken aller Institutionen und Maßnahmen zur Bildung, Erziehung, Förderung und Betreuung von Menschen mit Behinderung.

Sonderpädagogik

Die inhaltliche Ungenauigkeit des Begriffs der Heilpädagogik einerseits und der intensive Ausbau des Sonderschulwesens andererseits führten dazu, dass in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Begriff der Sonderpädagogik favorisiert wurde. Er bezieht sich auf die Theorie, Forschung und Praxis der Erziehung von Menschen mit Behinderung. Die Ausweitung und Differenzierung des Sonderschulwesens in den alten Bundesländern verlangte entsprechende Sonder-Pädagogiken wie z. B. die Sehgeschädigten-, Sprachbehinderten-, Körperbehinderten- oder Geistigbehindertenpädagogik. Die ‚Besonderheit‘ oder ‚Andersartigkeit‘ behinderter Menschen trat stärker in den Vordergrund. Die Sonderpädagogik verstand sich als ‚Besonderung‘ der Allgemeinen Pädagogik. Was zur Folge hatte, dass sich das Gesamtgebiet der Sonderpädagogik auseinander entwickelte und zwar in neun verschiedene Sonderpädagogiken oder sonderpädagogische Fachrichtungen, wovon eine die Geistigbehindertenpädagogik ist. Im Begriff der „Sonderpädagogik“ wurde der Teilinhalt des Separierens dominant. „Der Begriff Sonderpädagogik ist zwar unter dem dominanten Einfluss des Sonderschulsystems der in Deutschland am meisten verbreitete Begriff, wird aber aus diesem Grunde, d. h. wegen seiner unleugbaren Gleichsetzung mit institutioneller Besonderung, am stärksten abgelehnt“ (Speck 2008, 55). Heute findet der Terminus der Sonderpädagogik vordringlich in Bezug auf das differenzierte Sonderschulwesen Anwendung und wird zunehmend durch den Begriff der Förderpädagogik bzw. der Sonderpädagogischen Förderung ersetzt.

Förderpädagogik/Sonderpädagogische Förderung

1994 hat die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK) den Sonderpädagogischen Förderbedarf und den Begriff der Förderung zu neuen Schlüsselkategorien der Pädagogik für Menschen mit Behinderung erhoben, obwohl der Begriff der Förderung kein originär pädagogischer Fachbegriff ist. Ihm wird dennoch „eine übergeordnete Bedeutung quer zu den erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffen von Erziehung, Bildung und Unterricht zugeschrieben“ (Schuck 2006, 84). In den KMK-Empfehlungen ist der Förderbedarf als personale Kategorie gedacht, die den individuellen pädagogischen Unterstützungs- und Lernbedarf wiedergibt. Doch im alltäglichen Gebrauch hat er sich zu einer institutionellen und verwaltungstechnischen Kategorie entwickelt. Er ist damit uneindeutig.

Behinderte, Behindertenpädagogik

Der Begriff der Behindertenpädagogik bzw. Pädagogik der Behindertenwurde in den 1970er Jahren in den alten Bundesländern eingeführt. Die Bezeichnung ergibt sich zum einen aus dem Oberbegriff „Behinderung“ für alleSchädigungen und Beeinträchtigungen und zum anderen als Ersatz für das missverständliche Wort „Heilpädagogik“ und das formale und segregierende Wort„Sonderpädagogik“. Der Behindertenpädagogik liegt ein pädagogisches Verständnis von Behinderung zugrunde. Als Behinderte im pädagogischen Sinnegelten für Bleidick „Kinder, Jugendliche und Erwachsene, deren Lernen undsoziale Eingliederung erschwert sind. Gegenstand der Behindertenpädagogiksind somit der besondere Bildungsvorgang und der besondere Erziehungsprozess angesichts der durch Behinderung beeinträchtigten Bildsamkeit und Erziehbarkeit“ (1992b, 69).

Aber auch dieser Begriff ist kritisch zu sehen, weil er die Gefahr der Verabsolutierung von Behinderung, der Zuschreibung des Behinderten-Status, enthält und damit zu Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung führt. Heute versucht man stärker das Spezifische ihrer Erziehung im Allgemeinpädagogischen zu entdecken, um so der Besonderung von Menschen mit Behinderung zu begegnen und zur Integration zu gelangen.

Rehabilitationspädagogik

Der Begriff der Rehabilitationspädagogik wurde in der ehemaligen DDR (Becker et al. 1979) in Abhebung von der Heil- und Sonderpädagogik verwendet. Sie versteht sich als Zweig der pädagogischen Wissenschaft, der Theorie und Praxis der sozialistischen Erziehung physisch-psychisch geschädigter Kinder und Erwachsener unter dem Aspekt der Rehabilitation. Unter Rehabilitation verstand man in den sozialistischen Ländern „die zweckgerichtete Tätigkeit eines Kollektivs in medizinischer, pädagogischer, sozialer und ökonomischer Hinsicht zur Erhaltung, Wiederherstellung und Pflege der Fähigkeit geschädigter Menschen, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“ (Becker et al. 1979, 159). Der Begriff der Rehabilitation findet in den alten Bundesländern seit den 1960er Jahren Anwendung, und zwar vor allem im medizinischen, berufsbildenden, sozialpädagogischen und sozialrechtlichen Bereich. Rehabilitation verbindet heute alle medizinischen, pädagogischen und sozialrechtlichen Maßnahmen, die die soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung zum Ziel haben.

BSHG 1961

Ihre erste gesetzliche Grundlegung erfuhr die Rehabilitation 1961 im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) („Eingliederungshilfe für Behinderte“). Heute versteht man unter Rehabilitation „das System und die Gesamtheit der Maßnahmen, die Menschen mit Behinderungen angeboten werden können, um sie beruflich und sozial in die Gemeinschaft einzugliedern. Ziele sind dabei ein Höchstmaß an Lebenstüchtigkeit und Lebensqualität, Teilnahme am Berufs- und Arbeitsleben, Selbstbestimmung und Selbständigkeit im Leben, Wohnen und in der Freizeitgestaltung“ (Stadler 1998, 22).

Neuntes Sozialgesetzbuch (SGB IX)

Das ‚Wie‘ der Rehabilitation wird seit 2001 im Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX) geregelt, während an die Stelle des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) das Zwölfte Sozialgesetzbuch (SGB XII) trat. Unzureichend bleibt der Begriff der Rehabilitation im Kontext schulischer Erziehung, weil Förderung und Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen eine erstmalige Befähigung, also „Habilitation“ und nicht „Rehabilitation“ ist.

Neben den zuvor genannten findet eine Reihe anderer Begriffe Anwendung. So spricht man beispielsweise in den osteuropäischen Ländern von Spezialpädagogik, Sonderpsychopädagogik oder Defektologie, in den anglo-amerikanischen Ländern von Special Education oder in den Benelux-Staaten von Orthopädagogik; Bezeichnungen, die zwar Ähnliches intendieren, die aber wegen der jeweiligen Landesspezifika nicht als Synonyme zur deutschen Terminologie gelten.

Integrationspädagogik

Gegen diese Oberbegriffe wendet sich die Integrationspädagogik. Ihre Vertreter fordern die Überwindung einer besonderen Pädagogik und fordern für alle Kinder und Jugendlichen einen gemeinsamen Lernort. Eine Integrationspädagogik vertritt eine neue Sichtweise von Erziehung an sich (vgl. Eberwein 1999), die alle unabhängig von Behinderung einschließt. „Die Integrationspädagogik beinhaltet vor allem gesellschaftspolitische Implikationen mit programmatischem Charakter, nämlich die Nichtaussonderung von Behinderten als sozial- und schulpolitisches Ziel“ (Speck 2008, 56f).

Die Begriffsvielfalt ist also groß und verlangt eine Eingrenzung. Obwohl jeder der hier genannten Bezeichnungen eine gewisse Unzulänglichkeit anhaftet, werde ich, vor allem der besseren Lesbarkeit wegen, den Begriff der Heilpädagogik verwenden. In seiner heutigen Interpretation ist er pädagogisch bestimmt, ohne die notwendigen (sonder)schulischen und rehabilitativen Maßnahmen auszuschließen.


„Unter Heilpädagogik wird der Theorie- und Praxisbereich verstanden, der sich auf die Erziehung, Unterrichtung und Therapie von Menschen bezieht, die wegen individueller und sozialer Lern- und Entwicklungshindernisse einer besonderen Unterstützung und Hilfe bedürfen, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können“ (Speck 2006, 92).

Die Heilpädagogik ist eine „spezialisierte Pädagogik, die von einer Bedrohung durch personale und soziale Desintegration ausgeht“ (Speck 2008, 56). Sie stellt dem Menschen mit Behinderung pädagogische Mittel zum Erwerb von Kompetenzen, zur Selbstverwirklichung wie zum Erlangen sozialer und kultureller Teilhabe zur Verfügung.

Ziel der Heilpädagogik

Ziel der Heilpädagogik ist es, den Menschen mit Behinderung als Person in seiner spezifischen Lebenssituation zu erfassen, um ihm vor diesem Hintergrund zu größtmöglicher Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft mit anderen zu verhelfen. Die Heilpädagogik befasst sich mit den Belangen von Menschen, die sich in ihren Benachteiligungen, Beeinträchtigungen und Behinderungen stark von einander unterscheiden. Sie umfasst somit eine Disziplin, die sich in unterschiedliche Fachrichtungen gliedert und die sich ihrerseits auf spezifische Behinderungsformen beziehen:

geistige Behinderung

Körperbehinderung

Lernbehinderung

Sprachbehinderung

Hörschädigung (Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit)

Sehschädigung (Sehbehinderung und Blindheit)

Taubblindheit

Autismus-Spektrum-Störungen

Schwerste Behinderung (Mehrfachbehinderung)

Krankheit (Unterricht bei langer Krankheit)

Straffälligkeit (Strafvollzugspädagogik)

Verhaltensstörungen

Jüngstes Teilgebiet der Heilpädagogik ist die so genannte Schwerstbehindertenpädagogik. Sie widmet sich der Erziehung von Menschen, deren Leben durch eine schwere geistige und körperliche Behinderung sowie durch gravierende Wahrnehmungsbeeinträchtigungen geprägt ist. Aufgrund der Häufung von Beeinträchtigungen muss die Schwerstbehindertenpädagogik verschiedene Behinderungsformen gleichzeitig in den Blick nehmen und bewegt sich darum zwischen verschiedenen heilpädagogischen Fachrichtungen. Infolge aktueller sozialpolitischer Veränderungen, die zu einem Abbau sozialstaatlicher Verantwortung führen, entsteht innerhalb der Population der Menschen mit geistiger Behinderung eine Randgruppe, die ‚Menschen mit Komplexer Behinderung‘ (Fornefeld 2008). Die Gruppe der Menschen mit Komplexer Behinderung geht, wie in Kapitel 3.6 noch gezeigt wird, über die der Menschen mit schwerer Behinderung hinaus. Eine Pädagogik für Menschen mit Komplexer Behinderung muss Erkenntnisse aus verschiedenen Fachrichtungen berücksichtigen, darum wird sie in der nachfolgenden Graphik ins Zentrum gerückt.

Die verschiedenen Fachdisziplinen machen die Heilpädagogik zu einem vielschichtigen System von Maßnahmen. Auf der wissenschaftlichen Ebene verbindet die so genannte Allgemeine Heilpädagogik die Fachrichtungen miteinander, die zusammenwirken müssen, um den verschiedenen Beeinträchtigungen von Menschen mit Komplexer Behinderung gerecht zu werden.


Abb. 2: Teilbereiche der Allgemeinen Heilpädagogik

Allgemeine Heilpädagogik als Wissenschaft

Sie erforscht die eigene Geschichte und theoretischen Grundannahmen, ebenso die der Fachrichtungen. Sie setzt sich mit der internationalen Heilpädagogik, der so genannten ‚Vergleichenden Sonderpädagogik‘ auseinander und beteiligt sich an aktuellen ethischen Fragen, wie dem Lebens- und Bildungsrecht von Menschen mit Behinderungen. Ihre praxis- wie theoriebezogenen Aufgaben thematisiert die Allgemeine Heilpädagogik heute stärker im integrativen und interdisziplinären Kontext, wodurch es zu einer deutlichen Annäherung an die Allgemeine Pädagogik und die Bezugswissenschaften (Medizin, Soziologie, Philosophie, Psychologie, Rechtswissenschaften) kommt.