Schrei der Bälger

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From the series: Kriminalroman #1
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Schrei der Bälger
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Aysia

Schrei der Bälger

Das schwarze Loch

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Deutschland, Nachkriegszeit.

20 Jahre später

Zwei Jahre später

Impressum neobooks

Deutschland, Nachkriegszeit.

Der Krieg ist vorbei, die Schlacht geschlagen, die Menschen hungern, Elend und Not wohin man schaut. Es gibt kaum zu essen, eher gar nichts. Der harte, kalte und nicht enden wollende Winter tut sein Übriges dazu. Kohlen und Holz sind Mangelware, wie Milch und Brot. Es treibt die Menschen zu Mord und Totschlag, Schwarzhandel, stehlen nur um des Überlebens willen. Magda 13 Jahre alt, schlank, eher dünn, langes blondes Haar, raubeinig wie eine Junge lebt mit den Eltern und drei weiteren kleinen Geschwistern in einem zerstörten Reihenhaus der „Ruhrpott Gesellschaft Schwarzes Gold“. Hier leben viele Nachkriegskinder, die trotz Armut das Lachen nicht verlernt haben. Magda ist anders als alle Kinder in ihrer Umgebung. Sie ist kein hübsches Kind. Ihr Mund ist schmal und kann nie lachen, zwei kleine schräg gestellte blass graue Augen gucken böse in die Welt. Ihre Seele ist verdorben von der derzeitigen harten und gnadenlosen Zeit. Wie auch andere vom Krieg verschonte Menschen hat sich ihre Familie notdürftig in einem Reihenhaus eingerichtet. Was man so einrichten nennen darf. Ein altes Bett, ein paar zerschlissene Matratzen, ein paar schmutzige Decken. Ein wenig Mobiliar, welches nicht von den Besatzungsmächten zertrümmert wurde, nennen sie ihr Eigen. Der Kohleofen in der Küche geklaut, sowie Schalen, Tassen, Teller und verrostetes Besteck. Die zerschlagenen Fenster sind mit Holzbrettern vernagelt, es zieht an allen Ecken und Kanten und die spärliche Wärme des Kohleofens reicht nicht aus, um die Küche warm zu halten. Jeder Tag beginnt mit dem gleichen Kampf. Alle haben Hunger und nichts zu essen im Haus. Das Neugeborene, ein Mädchen, schreit am Stück, es hört nimmer auf. Was für ein Jammer! Magda möchte es nehmen und ihm die Kehle zudrücken, dann hätte das Geschrei ein Ende. Wenn es wenigstens ein Junge wäre! Aber ein Mädchen, zu nichts nütze. Es würde auch nur Kinder in die Welt setzen. Gedanken, die sich fest in Magdas Hirn einnisten. Es ist kalt, die Decken reichen nicht für alle zum Wärmen. Seitdem der Vater vom Krieg heimgekehrt ist, gab es jedes Jahr Zuwachs. Magda versteht die Eltern nicht. Magda hasst die Geräusche, die die Eltern von sich geben, wenn sie ihr Liebesspiel ungehemmt vor den Kindern treiben. Dieses Stöhnen und Schmatzen, einfach ekelhaft. Nur eine zerschlissene Decke als Sichtschutz trennt das Bett der Eltern von den Kindern, die auf Matratzen nächtigen. Dinge, die Magda nicht versteht und die den Keim ungehemmten Hasses und einer Abneigung gegen alles um sie herum aufkommen lässt. Alle hungern und wieder kommt so ein Balg auf die Welt. Wenn das Neue des Nachts vor Hunger weint, hält sich Magda die Ohren zu. Es zieht sie förmlich zur Mutter hin. Sie möchte es packen und dann vernichten. Bälger schreien nur, taugen nichts, können keine Kohlen klauen und rauben ihr die wenige Zuneigung der Mutter, die sie geben kann. Magda mag die Geschwister nicht und nennt sie insgeheim, „die Bälger“. Nur der Respekt vor dem starken und kräftigen Vater verbietet ihr, ihre Gedanken in die Tat umzusetzen. Und so wandern ihre grässlichen Gedanken in eine Schublade, um irgendwann darauf zurück zu greifen. Es ist nicht der Hass allein, Neid wird in ihrer Seele geboren. Für Magda sind Babys, die Mädchen unnötiger Ballast in dieser so schweren Zeit. Die Mutter ist schwach, kann das Neugeborene nicht stillen und wieder muss Magda Kohlen klauen gehen, um sie dann bei den Bauern gegen Kuhmilch einzutauschen. Die Abneigung gegen das unschuldige junge Leben, was ihr eigen Fleisch und Blut ist, ihre Schwester, wächst jeden Tag, jede Stunde ein wenig mehr, blüht zu krankhaften Phantasien auf und die sollen Magda später zu bösen Taten leiten.

Kohlen und Holz gibt es auf dem Schwarzmarkt für viel Geld, was Magdas Eltern nicht besitzen. Vielen Menschen geht es in dieser schwierigen Zeit nicht anders. So hat sich aus der Not heraus eine Kinderbande gebildet. Regelmäßig wird von ihnen der Bahnhof belauert. Zusammen mit drei Jungens aus ihrer Straße sind sie an diesem Abend auf Raubzug. Kohlen liegen genug am Bahnhof, doch werden sie bewacht. Es ist nicht leicht, an die begehrenswerte Ware heran zukommen. Und dann noch die vielen anderen Leute, die das gleiche Ziel haben. Oft genug gibt es Prügel, die teilweise tödlich endet. Magda weiß, wie die Auseinandersetzungen ausarten. Sie fühlt noch jeden Hieb mit dem Knüppel. Doch Kälte und Hunger treibt die Bande an, heut mehr Glück zu haben und wenigsten ein paar Kohlen zu ergattern. Bis zum Bahnhof braucht es allein eine Stunde. Die Stadt liegt noch in Schutt und Asche. Verbrannte Bäume ragen wie mahnende Denkmäler in die raue winterliche Luft. Hier und da ist ein Gebäude von den Bomben verschont geblieben. Licht gibt es nicht. Der Wideraufbau der zerstörten Häuser beginnt schleppend. Steine werden abgeklopft und aufgestapelt, für ein neues Haus. Immer wieder werden dabei Leichen freigelegt. Leichengeruch zieht in Magdas Nase. Ihr ist zum heulen, sie gibt der Unzucht ihrer Eltern die Schuld für all das Leid. Magda weiß es nicht besser und der Gedanke, der Krieg könnte schuld sein, der Gedanke kommt ihr leider nicht. Menschen mit Handwagen oder ausrangierten Kinderwagen schleichen durch die zerbombten Gassen, auf der Suche nach Essbarem oder Verwendbarem für zu Haus. Das alles interessiert Magda nicht. Sie braucht Kohlen, soviel wie möglich. Dann will sie gleich weiter zum Bauern. Vielleicht hat er heut ein paar Eier und etwas Brot, vielleicht! Die Stadt war vor dem Krieg eine schöne reiche Stadt, reich geworden durch den Kohlebergbau. Damals wohnte Magda in einer schönen Villa mit vielen Zimmern und einen großen Kamin, der im Winter stets Wärme spendete. Damals hatte sie die Mutter für sich allein. Fühlte sich geborgen, kannte keinen Hunger und musste nie frieren. Doch was ist davon geblieben. Wohin das Auge reicht, ausgebombte Häuser. Manch Straßenzug gibt es nicht mehr. Ihre Villa wurde von einer Bombe völlig zerstört. Obwohl es reichlich geschneit hat, sieht Magdas Umwelt triste und grau aus. Doch Magda kann nicht trauern. Sie hat ein Herz aus Eis. Für sie zählt nur der eigene Überlebenskampf. Sie verabscheut kleine Kinder. Die fressen nur und sind ständig im Wege. Magda wird nie Kinder haben.

An diesem Abend ist ihr Beutezug von Erfolg gekrönt. Ein einfahrender Güterzug verliert auf seltsame Art und Weise Kohlen. Sie fallen vom Wagen schon weit vor dem Bahnhof. Die frierenden Menschen stürzen sich auf das begehrte „Gold“ und klauben auf, was sie in der Schnelle fassen können. Magda hat gelernt, sich schnell wie eine Katze zu bewegen. Blitzschnell ist ihr durchlöcherter Rucksack gefüllt. Geduckt und um sich schauend verlässt sie das Bahnhofsgelände. Es kam schon vor, dass man ihr den gefüllten Rucksack abnahm. Und weil sie ihr begehrtes Diebesgut verteidigte, setzte es massiv Dresche. Sie kam damals mit einem blauen Auge davon. Blitzschnell bewegt sie sich in Richtung Bauernhof. Der Weg ist lang, die Straßen vom Schnee verweht und dazu kommt die Dunkelheit. Doch Magda kennt die Strecke genau. Hunderttausend Mal ging sie ihn, um Kohlen gegen Essen einzutauschen. Der Magen knurrt, fast erfrieren ihr die Hände, die Füße schwer wie Blei, kommt sie endlich beim Bauern an. Ein kleines Licht zeigt ihr, dass der Bauer noch nicht schläft. Schnell schaut sie in alle Richtungen, bevor sie leise an die einzig heile Scheibe am Bauernhaus klopft. Alle anderen Fenster sind vernagelt. Hier fiel keine Bombe, weiß sie vom Bauern. Aber die Amerikaner benahmen sich eben nicht fein, als sie das Land besetzten.

Die Scheunentür knarrt und im Schein einer Öllampe erkennt sie den alten Bauern, der ihr zuwinkt. „Na Mädchen, hast mir Kohlen mitgebracht?“ Magda zeigt stolz auf den prall gefüllten Sack. „Komm rein, wärm dich auf. Dann kommen wir zum Geschäftlichen.“

In der Scheune riecht es nach Kuh und Stroh, einer Ziege und Hühnern, angenehm ist es. Neidvoll schaut Magda auf den Bauern. Der hat es gut, keine schreienden Bälger, immer satt zu essen und ein richtiges Bett. Die Küche ist wohlig warm, auf dem Herd steht eine gut riechende Suppe. Die alte Bauersfrau sitzt am Ofen und strickt und strickt. Wo hat die nur die Wolle her, überlegt Magda. „ Ach ja, Bauer müsste man sein, dann hätte alle Not ein Ende. Vor allem keine ewig plärrenden Bälger, die nie satt zu kriegen sind, ach ja.“ Nachdem Magda einen Teller Suppe mit richtigen Kartoffeln und fettem Speck verspeist hat, beginnt das Handeln. Die Bauersleute sind stets nett zu ihr, beim Feilschen sind sie dann gnadenlos. Magda erhandelt letztendlich drei Eier, ein halbes altes Brot und eine Flasche Milch für das Baby, ein Stück Speck und einige erfrorene Möhren. „Mehr ist nicht drin für deine paar Kohlen. Komm übermorgen wieder, dann haben wir etwas Butter für dich.“ Ohne Widerspruch geht Magda auf den Handel ein. Besser als nichts, denkt sie. Und auf die Suppe von den Leuten möchte sie nicht verzichten. Vorbei an Kuh und Ziege, schleicht sich Magda aus der Scheune und tritt den langen Heimweg an.

 

20 Jahre später

Das Wirtschaftswunder in den siebziger Jahren beschert den Deutschen ein gutes zufriedenes Leben. Hungersnot, frieren und Elend, alles ist vergessen. Nur nicht bei Magda. Magda blieb in Düsseldorf. Sie hat eine kleine Eigentumswohnung am Rande der Stadt. Zu ihrer Wohnung gehört ein Vorgarten und hinter dem Haus ein Gemüsegarten. Magda selbst arbeitet bei der Kriminalpolizei als Sekretärin des Kriminalkommissars Herr Horn. Die Dienststelle ist nicht klein, außer der Bereitschaftspolizei gibt es hier die Abteilungen Mord, Raub, Drogenabteilung und Kindesmissbrauch, ein eigenes Archiv und vieles andere noch. Magda kennt vom Boden bis zum Keller jeden Winkel dieses alten Backsteinhauses. Letzteres sucht sie täglich kurz vor Dienstbeginn auf, um eigenhändig den Papierkorb vom Kommissar Horn zu entleeren. Bei Magdas Ordnungssinn verschwindet der Papierkram umgehend im Ofen der Heizungsanlage. Entgegen ihrer Gewohnheit plaudert sie gern mit dem Hausmeister. Sie kennen sich, seit Magda diese Anstellung vor 13 Jahren begonnen hat. Viel weiß der Hausmeister nicht von ihr, aber immerhin. Sie selbst führt ein bescheidenes Leben. Sie hat nie geheiratet und Babys sind ihr verhasst geblieben. Sie meidet jegliche Begegnung mit Kleinstkindern. Zu den Eltern und sechs weiteren Geschwistern hat sie keinen Kontakt mehr. Sie mag überhaupt keinen Kontakt. Magda liebt ihren Kater Paul und ihre Blumen im Vorgarten, die sie mit absoluter Hingabe pflegt und hegt. Ansonsten beschäftigt sie sich mit ihren eigenen wirren Gedanken. Der Krieg liegt fast 25 Jahre zurück, doch Magda kann und will nicht vergessen. Sie hört das Schreien der Geschwister, sie spürt noch heute den Leichengeruch. Sie lebt weiter in ihrer verhassten Welt kurz nach dem Krieg. Ihre Manie, neugeborene Mädchen sind Schuld an allem Elend geht soweit, dass sie den Gehweg wechselt, sieht sie eine junge Mutti mit einem Kinderwagen auf sich zu kommen. Hört sie in der Tram das Greinen eines Babys, steigt sie an der nächsten Station aus und geht weiter zu Fuß. Nur keinen Kontakt mit jenen Wesen, die Schuld an ihrem Leid sind. Magda kommt nicht auf die Idee, dass ihre Gedanken krankhaft sind. Wie auch, sie spricht mit keinen einzigen Menschen. Ihre nach Hilfe schreiende Seele bleibt fremden Menschen verborgen. Magda besitzt im Haus zwei Kühlschränke, welche überquellen vor Nahrungsmitteln. Bloß nie wieder hungern müssen! Ist das Verfallsdatum überschritten, schmeißt Magda alles in die Mülltonne. Dann kauft sie wieder neu ein. Für Kater Paul gibt es das Beste vom Besten. Ihre kleine Wohnung ist peinlich sauber geputzt, nie wieder Dreck dulden müssen. Ihr Vorgarten ist mit dem Gliedermaßstab angelegt worden. Ist eine Blume verwelkt, entfernt sie diese, bloß nie wieder alten Kram bewahren. Magda ist dünn und lang, die Weiblichkeit blieb auf der Strecke. Das Haar ist matt und strähnig, sie trägt es zu einem Dutt hochgesteckt. Die Lippen sind schmal, die Mundwinkel zeigen nach unten und die Augen schauen ohne Glanz streng in die Welt. Man kann sagen, ein Mann würde sich eher nicht nach ihr umschauen. Das alles ist Magda nicht bewusst. Sie führt ein Einsiedlerleben. Und niemand in ihrer Umgebung stört sich an der unschönen zurückhaltenden Person. Mit einem „Guten Morgen“ oder „Guten Tag“ endet die Konversation zwischen Magda und den Nachbarn.

Ihr Chef, der Kriminalkommissar Herr Horn kann nicht klagen. Magda ist immer pünktlich, der Kaffee ist gekocht, das Zimmer gelüftet und die Akten liegen korrekt auf dem Schreibtisch. Der Papierkorb stets leer, bevor ihr Vorgesetzter das Dienstzimmer betritt. Immer höflich und aufmerksam erledigt Magda ihre Aufgaben. Würde sie eines Tages nicht zum Dienst erscheinen, dass würde ihr Chef wohl bemerken, aber so, so gehört sie sozusagen zum Inventar der Kriminalpolizei in Düsseldorf. Niemals hat Magda über sich und die Nachkriegszeit erzählt. Keiner der Mitarbeiter kennt sie persönlich, unnahbar und verschlossen bleibt sie für alle in der Dienststelle. Privatgespräche meidet Magda. Niemand im Kommissariat macht sich nur einen einzigen außerdienstlichen Gedanken um sie. Dass sie eine vergrämt alleinstehende Person ist, fällt nicht auf.

So lebt sie unbescholten einige Jahre in ihrer Heimatstadt, die sie seither noch nie verlassen hat. Keine Besuche, keine Post, kein Mann betritt jemals ihre kleine Wohnung. Kater Paul ist und bleibt das einzige Lebewesen in Magdas Welt. Ihre Beschäftigung sind das Reinhalten der Wohnung, nie einen leeren Kühlschrank zu haben und einen gepflegten Vorgarten zu besitzen. Sich jeden Abend mit den Gedanken befassen, dass Babys ein unnützes Zeug sind und man sie alle abschaffen sollte. Magda kennt keine Liebe, Zärtlichkeit, Aufmerksamkeit durch einen lieben Partner. Da sie diesen Dingen nie begegnet ist, vermisst sie diese Art von Leben nicht. Magda liest keine Zeitung und schaut selten fern. Wenn dann nur, um zu wissen, ob es regnen wird, sie die Blumen gießen muss. Und im Winter, ob es Frost gibt, oder nicht. Wenn ja, dann müsste sie die Blumen im Vorgarten davor schützen.

Weder Weihnachten noch ein anderes Fest interessiert sie. Sie geht nicht in die Kirche und auch sonst nirgendwohin. Sie liebt es, mit sich selbst allein zu sein, nicht hungern zu müssen, eine warme Stube zu haben und wohin ihr Auge schaut, eine blitzblanke Wohnung ihr Eigen zu nennen.

Ihre Nachbarn, rechts von ihrer Wohnung, sind betagte Menschen und stellen keine dummen Fragen. Magda fällt nicht auf, man hält sie für eine sehr ruhige alleinstehende Frau. Niemand weiß von ihren Nöten und den Hass, der sie seit ihrer Kindheit begleitet. Das Leben läuft jeden Tag nach dem gleichen Muster ab. Der Wecker klingelt sechs Uhr. Zuerst geht Magda ins Bad und unterzieht sich einer gründlichen Reinigung. Danach kocht sie sich einen Kaffee und isst dazu zwei Scheiben Brot mit Butter und Honig. Das anfallende Geschirr wäscht sie nach dem Frühstück sofort ab und stellt es zurück in den Küchenschrank. Dann kommt Kater Paul an die Reihe. Bevor sie den Weg zur Arbeit antritt, schaut sie sich gründlich in ihrer Wohnung um. Ist alles zu ihrer Zufriedenheit bestellt, zieht sie sich an und fährt zur Arbeit. So wie sie lebt, ist es gut, sie klagt nicht. Bis eines Morgens unerwartet eine dramatische Wende in ihrem Leben eintritt. Bereits vor Wochen starb die Nachbarin rechts von ihr. Der alte Herr blieb allein zurück. Nicht dass das Magda wirklich interessierte, aber sie bemerkte die Unruhe nebenan. Aus welchen Gründen auch immer, jedenfalls zog der Witwer aus der Wohnung aus. Wochenlang stand die Nachbarwohnung leer. Und dann, dann das Unglaubliche, Unfassbare.

Magda steht eben noch im Bad und kämmt sich ihre aschblonden langen Haare. Die sind nicht wirklich schön, Magda schert sich nicht drum, sie ist wie sie ist und kommt nicht auf die Idee, etwas an ihrem Aussehen zu ändern. Da hört sie, noch ganz leise wie aus der Ferne, dass Wimmern eines Babys. Erst ganz zarte Töne, dann lauter werdend. Nicht gleich, aber nach wenigen Minuten nimmt sie wahr, was ihre Ohren hören. Bälger! Magdas Hirn rotiert. Nein, nicht das! Der Kamm fällt ihr aus der Hand, die Augen sind weit geöffnet und schauen wild dem Klang der Babystimme nach. Blitzschnell hat sie die Zeit nach dem Krieg wieder im Griff. Das Herz rast, die Beine versagen, Magda rutscht in die Knie. Minuten oder Stunden sind vergangen, Magda weiß es nicht, hockt immer noch auf den weißen kalten Fliesen ihres Bades. Langsam erhebt sie sich, schaut in den Spiegel und sagt zu sich selbst, „ Nicht wieder Kohlen klauen, nicht wieder verdroschen werden. Und hungern mag ich auch nicht mehr, das Balg muss weg.“ Zunehmend kehrt die Ruhe in ihren Körper zurück. Magda räumt ihr Bad auf, im Waschbecken findet sie ein blondes Haar. Vorsichtig nimmt sie es auf und lässt es im Toilettenbecken fallen und zieht danach kräftig an der Spülung. Siegessicher schaut sie sich noch einmal um, bevor sie in die Stube geht. Es ist Montagmorgen und sie hat es eilig, pünktlich zur Arbeit zu kommen. Ihr Problem, „das schreiende Balg“ will sie am Abend bedenken. Magda hat sich ein Fahrrad zugelegt. So wird sie nimmer mit unangenehmen Situationen konfrontiert. Leise geht sie zur Haustür und lauscht, ob sie im Flur Geräusche wahr nimmt. „Alles still“, schnell schließt sie die Tür und begibt sich in den Keller. Wohl verwahrt, befindet sich das neue Gefährt, gut angeschlossen im Gemeinschaftsraum der Hausgemeinschaft. Eine Hausgemeinschaft besteht hier in den Reihenhäusern jeweils aus zwei Partien. In der langen, im Bogen ausgelegten Straße wohnen mehr und weniger nur ältere Menschen. Es sind zum Teil ehemalige Angehörige der Bergbaugesellschaft, was erklärt, dass hier kaum junge Leute ansässig sind. Bislang stand hier nur ihr Fahrrad, da die älteren Herrschaften aus Altersgründen kein Fahrrad mehr fuhren. Nichts Böses ahnend betritt sie den Abstellraum. Doch was ist das? Ein Kinderwagen? Ein Kinderwagen! Magda ist überfordert mit der neuen Situation. Das geht nicht, das darf nicht sein, denkt sie. Mit zitternden Händen löst sie das Schloss vom Fahrrad. Wie geisteskrank geht sie vorsichtig am Kinderwagen vorbei, nur nicht dass sie das Gefährt aus Versehen berührt. Endlich ist sie draußen auf der Straße. Verstört schaut sie sich um, da ereilt sie der nächste Schlag. Eine junge Frau steht mit ihrem Neugeborenen im Vorgarten und grüßt freundlich. „Guten Morgen, wir sind ihre neuen Nachbarn. Dürfen wir sie auf eine Tasse Kaffee zu uns bitten? Dabei lernt es sich viel besser kennen.“ Entschlossen geht die junge Frau auf Magda zu und will ihr die Hand zur Begrüßung reichen. Magda ihrerseits mag dieser Frau mit dem ihr verhassten Balg die Hand nicht geben. Erschrocken tritt sie einige Schritte zurück. Wie wild pocht der Puls an ihren Schläfen und das Denken wollen ihr nicht gelingen. Bevor die neue Nachbarin weiter sprechen kann, antwortet Magda schnell. „Tut mir leid, ich muss zur Arbeit und erkältet bin ich dazu.“ Fix schnappt sie sich ihr Fahrrad und verschwindet aus den Augen der verdutzten Nachbarin. Es braucht seine Zeit, bis Magda wieder Herr ihrer Lage ist. Das war zu viel für ihre Seele. Beim Fahren schnauft sie und keucht. In einer Tour brabbelt sie vor sich hin. Als die dann vor dem Präsidium vom Fahrrad steigt, sieht ihr kein Mensch mehr die Erregung an.

Frau Elisa Meier geht mit dem Baby auf dem Arm zurück in ihre Wohnung. „Schon seltsam diese Frau“, denkt Elisa und legt ihre kleine Katrin in die Wiege. Ihrer Wohnung fehlen noch einige Dinge des Alltags, um sie gemütlich nennen zu können. Vorsichtig schließt sie die Tür zum Kinderzimmer und geht zu ihrem frisch angetrauten Mann Jörg. „Da wollt ich eben nett sein, zu unserer Nachbarin, wie heißt sie eigentlich und sie hat meine Einladung recht barsch abgelehnt.“ Jörg hängt mit dem Kopf unter dem Abwaschbecken und montiert den Abfluss. Beim schnellen Aufstehen stößt er sich den Kopf und mault „Siehst du, das hast du nun davon.“ Elisa muss lachen, „ Ach mein Schatz, tut es sehr weh, dann lass dich trösten.“ Jörg verneint und meint dann nur, „ Vielleicht hatte es die Nachbarin nur eilig und vielleicht mag sie keine kleinen Kinder. Kann alles sein. Sei deswegen nicht traurig, irgendwann ergibt sich sicherlich eine Gelegenheit, sie erneut einzuladen.“ Damit ist das Thema Nachbarin erledigt. Jörg geht zurück an seine Arbeit, Elisa unterdessen träumt von schneeweißen Gardinen für die Stube.

Inzwischen hat Magda die Zeitungen, welche jeden Morgen beim Pförtner für den Kriminalkommissar hinterlegt werden mit nach oben ins Sekretariat genommen. Ihre innere Unruhe hat sie während des Fahrens überwunden. Wie jeden Morgen betritt nun eine ruhige unauffällige Magda das Dienstzimmer des Kommissar Herr Horn. Wie jeden Morgen setzt sie die Kaffemaschine an, rückt die Akten auf dem Schreibtisch schnurgerade, legt zwei bis drei frisch angespitzte Bleistifte daneben. Geht zum Fenster und betrachtet die Grünpflanzen. Es gehört zu ihren Aufgaben für das Wohl der Blumen zu sorgen. Schaut mit Adleraugen, ob sich ein Staubkorn verirrt hat und beginnt mit ihrer allmorgendlichen Arbeit. Die Tageszeitungen durchforsten, auf eventuelle Meldungen wie Vermisstenanzeigen, Diebstahl und sonstige Ereignisse achten. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die tägliche Post zu bearbeiten, Termine zu veranlassen und Diktate zu schreiben. Magda schaut auf 13 Dienstjahre zurück, ohne jemals zu spät erschienen zu sein. Nie hat sie sich etwas zuschulden kommen lassen. Sie kennt alle Mitarbeiter, sah viele gehen und Neue kommen. Herr Horn arbeitet seit drei Jahren hier, ein guter Kriminalist, der so manchen Mord aufklären konnte. Magda empfindet so etwas wie Zuneigung für ihn. Außer ihrem Kater Paul mag sie die Menschen nicht sonderlich, da macht ihr Chef eine riesen Ausnahme. Von dieser Ausnahme ahnt er selbstverständlich nichts. Kann er doch nicht in die schwarze Seele von Magda schauen. Ohne besondere Vorkommnisse endet dieser Arbeitstag wie seit 13 Jahren für Magda. Nach Feierabend fährt Magda, wie jeden Tag, ob bei Regen oder Schnee, den stets gleichen Weg nach Haus. Durch die Altstadt, welche nach dem Krieg neu aufgebaut wurde, ein Stück entlang des Rheins, zur Siedlung der Bergbauarbeiter. Die Reihenhaussiedlung ist ein Schmuckstück alter Tradition des Bergbaues und nach dem Krieg vollständig saniert worden. Jeder Mieter hat hier einen kleinen Vorgarten und hinter dem Haus ein Stück Gartenland. Heut hat Magda für diese Dinge keine Zeit. Sie ist beflügelt von nur einem Gedanken, wie sie sich des Störenfrieds entledigen kann. Ihre „heile Welt“ scheint ins Wanken zu kommen. Kater Paul erkennt seine Herrin nicht wieder, diese Unruhe, dieses Hin- und Herlaufen, warum nur? Magdas Seele ist aufgebracht. Sie möchte diesen Druck in der Brust nicht, die Hände zittern ihr, Unruhe quält sie. Die ganze Vergangenheit tut sich ihr auf und zieht sie in ein großes schwarzes Loch. Sie hört Babys schreien, immer mehr und immer lauter. Aus lauter Verzweiflung hält sie sich die Ohren zu. „Ich muss etwas tun, ich muss. Sonst hört diese Qual in meiner Seele nie auf“, sagt sie sich. Magda wandert von der Küche in die Stube und zurück, setzt sich an den Küchentisch, steht wieder auf, könnte heulen. Allein ist sie mit ihren wirren Gedanken. Magda ist nach wie vor felsenfest davon überzeugt, dass sie ohne diese quarrenden Bälger nie hätte Hunger leiden müssen. Hätte nie frieren müssen, keine Prügel bekommen und vor allem, sie hätte ihre Mutter für sich gehabt. In den frühen Morgenstunden übermannt sie dann der Schlaf. Unruhig wälzt sie sich im Bett hin und her. Kleine dicke Ärmchen kommen auf sie zu, zu tausend, kleine hungrige Mäuler schnappen nach ihr, wollen sie packen, sie schreien alle. Magda will davon laufen, aber sie ist wie fest genagelt, Magda will schreien, aber der Kehle will kein Ton entweichen. Von ihrem eigenen Stöhnen wacht sie endlich auf, schweißgebadet sitzt sie im Bett. Kater Paul springt erschrocken vom Deckbett. Langsam kommt sie zu sich und jetzt weiß sie, was sie tun muss, um diese sie quälenden Gedanken, die bösen Geister von sich abstreifen zu können. Völlig abstrus für den normaldenkenden Menschen, aber nicht für Magda. Ihre „heile Welt“ ist dem Untergang geweiht. Damit ihre Welt nicht unter gehen kann, muss sie alle Babys vernichten, die in ihrer unmittelbaren Umgebung leben und ihren Weg kreuzen könnten.

 

Sofort am nächsten Tag benutzt Magda entgegen ihrer Gewohnheit nicht das Fahrrad, sondern die Tram. Sie will gleich nach Dienstschluss zu „Eisenheinrich“ am Markt. Viel länger ist sie mit der Bahn nicht unterwegs, vom Markt läuft sie gut zehn Minuten zu Fuß. In der Dienststelle fällt es eh niemandem auf, ob sie zu Fuß oder mit dem Fahrrad erscheint. In den letzten 13 Jahren hat Magda sich nie wirklich um die Geschehnisse im Kommissariat gekümmert. Sie machte ihre Arbeit, alle waren zufrieden und keiner der Mitarbeiter stellte dumme Fragen. Und so soll es auch in Zukunft bleiben. Mit besonderem Eifer geht sie an die Arbeit. Wenn sie nicht gerade zu einem Diktat gerufen wird, bemerkt kaum einer die Anwesenheit von Magda, sie führt ein Schattendasein. Der Tag endet wie er begonnen hat, sehr ruhig. Nach der Arbeit führt sie der Weg nicht zur Tram, sondern zur Haushaltsfiliale „Eisenheinrich“. Hier kauft sie des Öfteren ein für ihren Garten, für ihren Kater. Man kennt sie hier.

„Hallo Frau Kohlmann, auch mal wieder hier?“ Magda nickt kurz und geht ihrem Ziel nach. Sie muss nicht lang suchen. Was sie braucht, finden sie umgehend. Magda legt sich einen Einwecktopf zu, 15 Weckgläser sowie diverse Weckgummis. An der Kasse fragt sie die nette Verkäuferin, ob sie Obst und Gemüse wecken will. Magda nickt wieder nur kurz, bezahlt und verlässt hastig den Laden. Vollbepackt schleppt sie sich zur Tram. Den Schmerz im Arm, vom schweren Tragen spürt sie nicht. Sie sieht nur ihr Ziel vor Augen, wieder in Ruhe zu leben und nicht von irgendwelchen Geistern gequält zu werden.

Drei Wochen später

Kapitel 3

Katrin

Die regionalen, überregionalen, Zeitungen, sie alle schreiben über ein und dasselbe Thema. In großen Lettern kann man lesen: „ Wo ist die kleine Katrin von Familie M. geblieben. Wer hat sie entführt? Gibt es eine Lösegeldforderung? Am helllichten Tag aus dem Garten vor dem Schlafzimmer verschwindet ein Säugling!“ Eine sofortige eingeleitete Suchaktion, nach dem Frau Meier das Verschwinden ihres Babys in der Dienststelle 13 meldet, bleibt ergebnislos. Was war geschehen? Am Tage zuvor, gegen Mittag, erscheint im Präsidium, wo Magda als Sekretärin tätig ist, eine junge Frau, völlig aufgelöst. Sie kann vor lauter Aufregung zunächst kein Wort hervor bringen, sondern weint nur. Jakob, einer der diensthabenen Beamten, der aus gesundheitlichen Gründen Innendienst schieben muss, braucht etliche Minuten, um die junge Frau zur Ruhe zu bringen. Als dann die Frau erzählt, was vorgefallen ist, will der Beamte es erst nicht glauben. Zu seiner Sicherheit holt er sich nun einen Kollegen dazu. „Nun setzen sie sich erst einmal, mögen sie ein Glas Wasser?“ Die junge Frau verneint, holte tief Luft und beginnt stotternd an mit erzählen: „ Mein Baby ist weg, einfach weg. Es lag im Kinderwagen, wie jeden Vormittag, hinter dem Haus im Garten. Dort schläft es einfach besser. Und als ich die Kleine zum Füttern ins Haus holen will, da ist mein Kind weg. Der Kinderwagen leer und meine Katrin einfach verschwunden. Sie ist erst acht Wochen alt. Wer macht denn so etwas und klaut mein Baby?“ Und wieder muss die junge Frau entsetzlich weinen. Dieser Vorfall ist mehr als seltsam und den beiden Beamten fällt nichts Gutes, nichts Beruhigendes für die weinende Frau ein. Jakob holt sich Rat beim Vorgesetzten Horn. Mit schnellen Schritten verschwindet er in Richtung Büro des Besagten. Ohne Anklopfen betritt er das Vorzimmer und hier sitzt Magda. „Ist er drin?“, dabei zeigt Jakob auf die Tür zum Chef. „ Ja, ist er. Was wollen sie den von ihm? Ich frag mal, ob er Zeit hat.“ Bevor Magda zum Telefonhörer greifen kann, ist Jakob längst vorbei an ihr und drinnen bei Kommissar Horn. Mit unschuldigen Augen schaut Magda ihm nach. „Mahlzeit Chef, kannste mal mitkommen, wir haben da draußen ein junge Frau, die erzählt unglaubliches, sie behauptet ihr Baby sei gestohlen.“ Horn hat eben nichts zu tun und folgt Jakob. Der Kommissar hört aufmerksam zu, was Frau Elisa Meier unter Tränen erzählt. Er lässt sie ausreden, bevor er die erste Frage stellt. „Nun ich glaube ihnen, wann genau ist ihre Tochter aus dem Kinderwagen verschwunden?“ „Das eben weiß ich nicht genau, ich habe sie wie jeden Morgen nach dem Stillen draußen im Garten unter das Schlafzimmerfenster gestellt. Und als ich sie so gegen 11 Uhr wieder zum Stillen reinholen will, da ist der Kinderwagen leer.“ „ Wie, leer? Schauen sie denn zwischen den Stillmahlzeiten nicht nach ihrem Kind?“ „Nur wenn es weint, aber ansonsten lass ich mein Baby unter dem Fenster stehen. Mach ich seitdem Katrin auf der Welt ist. Oh Gott, was hab ich nur getan.“ Wieder fließendie Tränen. Kommissar Horn überlegt nicht lang, hier ist Gefahr in Verzug und er leitet sofort die ersten Maßnahmen ein. „Wo ist ihr Mann, Frau Meier, kann man ihn anrufen?“ Nickend bestätigt Frau Meier die Frage des Kommissars. „Gut Frau Meier, mein Kollege bringt sie jetzt nach Haus, bleibt bei ihnen bis ihr Mann eintrifft und wir kümmern uns sofort.“ Vorbei an Magda bringt Jakob Frau Elisa Meier mit dem Dienstwagen heim. Und wieder schaut Magda mit unschuldiger Miene, ohne jegliche menschliche Regung den beiden nach.

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