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4 – Hals über Kopf

Die nächste ernste Nachricht schickte Emmett drei Wochen später.

Sag mir etwas Nettes. Bitte.‹ So begannen seine Nachrichten immer, wenn er wirklich schlecht drauf war. Und das war gerade der Fall. Schlechter ging es kaum noch. Es dämmerte bereits und das machte es nicht besser. Er fühlte sich verzweifelt und einsam. Wieso er in diesem Moment ausgerechnet Matthew schrieb, fragte er sich schon lange nicht mehr. Vermutlich lag es tatsächlich an der wertfreien Art, mit der sie miteinander kommunizierten und die wenigen Fragen, die sie einander stellten. Das machte es einfacher sich zu öffnen oder auch einfach nur mal Dampf abzulassen. Emmett hoffte wirklich, dass Matthew ihm recht zügig antworten würde. Er wusste noch immer kaum etwas über den anderen und darum konnte er auch nicht einschätzen wie beschäftigt dieser war. Trotz seiner Selbstständigkeit. Denn das war ein Fakt, den er ja inzwischen kannte.

»Oh ja, das ist klasse!« Matthew saß auf dem Boden neben seinem Neffen. Um ihn herum lagen Legoteile verstreut, die er mit Noah zu einem Agentenflieger erster Güte zusammengebaut hatte. Sein Handy vibrierte und er zog es aus seiner Hosentasche. »Wie wäre es, wenn wir hier...« Er deutete auf eine Stelle oben auf dem Flieger. »...noch so eine Art...Notfallrettungsanker anbauen?« Noah nickte sofort.

»Oh ja! Das ist gut. Falls er mal nicht landen kann, an Gebirgen oder so, dann kann er einen Knopf drücken und dann wuuusch!« Der Baumeister deutete an, dass dann etwas vom Dach gegen den Kleiderschrank, also den Felsen, geschleudert wurde. »Und er ist in Sicherheit!« Matthew nickte und las kurz die Nachricht.

»Such schon mal die Teile, ich muss hier kurz antworten.«

»Okay!«, rief sein Neffe fröhlich und Matthew konnte in Ruhe Em schreiben. Eine so ernste Nachricht hatte er lange nicht bekommen.

Ich mag deine Art ein Buch zu schreiben. Sie ist verrückt, witzig und spannend und letzte Nacht habe ich bis nachts um drei gelesen. Das hatte ich lange nicht, dass mich ein Buch so gefesselt hat.‹ Und wie immer, wenn Em so traurig war, schrieb Matthew › Was ist passiert?‹ hinterher.

»Hier ist alles!« Matthew nickte Noah zu.

»Dann lass uns an die Arbeit gehen. Brauchen wir noch eine Leuchte? Hier liegt gerade eine.« Er hob das kleine durchscheinend gelbe Teilchen hoch und schon griffen kleine Finger danach.

»Unbedingt!« Noah begann zu bauen, lächelnd beobachtete Matthew ihn dabei.

Das Handy meldete die ankommende Nachricht durch ein leichtes Vibrieren, den Ton hatte Emmett ausgeschaltet, um seine Zimmernachbarn nicht zu stören. Die Zeiten, in denen Mobiltelefone in Krankenhäusern verboten waren, waren schon lange vorbei. Ob es an den geringen Strahlungen lag, die die Geräte aussendeten oder einfach nur an dem genervten Krankenhauspersonal, das es leid war, dagegen vorzugehen, dass die Patienten mit ihren Telefonen herumspielten, würde wohl nie ergründet werden. Emmett zog sich die mit viel zu steifer Bettwäsche bezogene Decke höher, fast bis zur Nase, und verdeckte damit das Handy. Am liebsten hätte er sich ganz darunter verkrochen, aber das kam ihm nun doch zu kindisch vor. Als er leicht sein Bein bewegte, zuckte er zusammen.

Ich liege in einem bescheuerten Krankenhaus. Weil ich zwei bescheuerte linke Füße habe.‹

Matthew zuckte zusammen als er die nächste Nachricht las. Er setzte sich auf.

Was? Was ist passiert? Wieso bist du im Krankenhaus?‹

Noah hielt ihm den Flieger hin. »Tadaa!«, rief er und Matthew nahm ihm das Bauwerk ab.

»Wow! Der ist Klasse geworden! Den zeigen wir nachher Mama und wie immer...« Matthew hob sein Handy und grinsend brachte sich Noah in Position, um mit seinem Werk in die Kamera zu lächeln. Zur Sicherheit schoss Matthew noch ein zweites Foto, dann ließ er das Handy sinken.

»Das ist große Klasse, Noah. Baust du mir auch noch so einen, dann können wir zusammen spielen.« Noah verzog das Gesicht, dann schien ihm eine Idee zu kommen.

»Nein! Du bekommst das Bösewicht-Flugzeug!« Lachend nickte Matthew.

»Na gut!« Und während sich sein mit großer Fantasie gesegneter Neffe daran machte, das feindliche Flugschiff zusammenzubauen, konnte er die nächste Nachricht Emmetts lesen.

›Ich bin eine Treppe runter gefallen.‹ Eine mehr als knappe Antwort.

›Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, Johnny. Was hast du dir getan? Ist was gebrochen?‹ , schrieb Matthew schnell zurück und er hoffte, dass der Kosename, den er seit dem Streit nicht wieder benutzt hatte, heute für Emmett keine Unbekannte war.

Ja, vielleicht ließ sich Em die Worte aus der Nase ziehen, aber er war auch alles andere als gut drauf. Krankenhäuser waren grauenvoll und ekelhaft und hier drinnen konnte man vieles, aber sicherlich nicht gesund werden. Nicht umsonst hießen sie auch Krankenhaus und nicht Gesundenhaus. Ein Husten erklang von einem Nachbarbett. Bellend kehlig. Emmett zog sich jetzt doch die Decke über den Kopf.

Eine Platzwunde am Kopf, ein paar geprellte Rippen. Und mein Bein ist durch.‹ , tippte er und fühlte sich schrecklich. Selbstmitleid war keine gute Eigenschaft, aber er konnte es im Moment nicht abstellen. › Ich muss operiert werden. Dabei ist alles was ich will, nach Hause zu gehen.‹

»Oh Shit...«, murmelte Matthew und hörte Noah gleich darauf mit der Zunge schnalzen.

»Entschuldigung. Aber diesmal war es wirklich angebracht.« Noah schüttelte den Kopf, in seine Arbeit vertieft.

»Trotzdem dürfen wir es nicht sagen.« Matthew lächelte, widmete sich aber seinem Blackberry.

Oh nicht doch. Da helfen meine Aufmunterungsversuche wahrscheinlich wenig... Hast du ein Mehrbettzimmer? Was ist das für ein Krankenhaus? Verpfuschen die dich auch nicht?‹

›Ein Vierer-Zimmer. Und ich hab keine Ahnung. Ich hoffe, sie wissen was sie tun.‹ Die Antwort kam schnell, aber Emmett tippte noch, die kleine Animation auf dem Display zeigte das deutlich. › Ich hab Angst, Matt.‹ Diesen Spitznamen benutzte Emmett nur selten und es schien nur zu unterstreichen wie unwohl der Jüngere sich fühlte.

»Verda...ttelt noch mal.«, rettete Matthew seinen Fluch und Noah grinste ihn an, aber dafür hatte er keinen Blick.

Weißt du noch, was ich dir schon mal Nettes geschrieben habe? Es wird alles wieder gut. Versprochen. Es ist okay, Angst zu haben. Diesmal ist sie definitiv real.‹ Matthew schluckte schwer. Bei jedem anderen Freund wäre er sofort losgefahren, hätte ihn besucht. Von Em wusste er nicht einmal den Nachnamen. Er konnte ihn nicht einmal ausfindig machen.

Alles wird gut, Emmi.‹ , tippte er weiter und benutzte einen völlig neuen Spitznamen. Eher sogar einen Kosenamen, denn in dieser Situation schien er mehr als angebracht.

Mach dir Alice im Wunderland-Musik an. Diesmal könnte es nicht schaden, in einem Kaninchenbau zu landen und ins Wunderland zu kommen... Oh Gott, was schreib ich hier? Entschuldige! Ist Hanni schon da?‹

›Sie war schon da und musste jetzt gehen. Sie müssen die Nacht abwarten, damit die Schwellung zurückgeht. Und morgen entscheiden sie.‹ Es klang irgendwie zuversichtlicher als er sich fühlte.

Matthew seufzte angespannt und so langsam schien auch Noah etwas mitzubekommen. Er sah immer wieder von seinem zweiten Flieger auf.

»Tut mir Leid Kumpel, ich muss kurz was klären.«

»Schon gut.« Matthew lächelte auf das braune Haar seines Neffen hinab, das er von seiner Mutter geerbt hatte, und tippte dann weiter.

Was entscheiden sie? Ob sie dich morgen schon operieren können? Waren deine Eltern schon da? Deine Familie?‹ Noch nie hatte Matthew solche Fragen gestellt. Sie waren viel zu persönlich für ihre besondere Beziehung und abgesehen von Matthews Schwester und Noah hier hatte selbst er ja nie seine Familie erwähnt. Erstens, weil es nicht viel zu erwähnen gab und zweitens, weil es nicht zu Em und ihm zu gehören schien. Das hier war aber eine andere Situation. Immerhin lag Emmett im Krankenhaus, da war es ihm egal, wie persönlich es wurde. Der Jüngere war sein Freund geworden, so verrückt das auch klingen mochte. Sie kannten sich nur über die Nachrichten, aber war es denn so ein großer Unterschied zu den früheren Brieffreundschaften? Die Nachrichten waren vielleicht kürzer und wurden schneller übermittelt, aber dennoch war es möglich, dadurch eine Zuneigung zu einem fremden Menschen aufzubauen. Das merkte er gerade ganz deutlich als er die Antwort von Emmett las.

›Meine Mum kann frühestens am Wochenende hier sein. Sie muss arbeiten. Genau wie mein Bruder. Wir haben telefoniert. Die Ärzte warten darauf, dass das Bein abschwillt. Und dann operieren sie.‹

»Erst am Wochenende...«, murmelte Matthew und bemerkte durchaus, dass Emmett nur von seiner Mutter schrieb.

Das klingt fürchterlich. Und in welchem Krankenhaus liegst du?‹

›Mont Buford. Das war das Nächste. Ich hasse es. Ich hasse es, krank zu sein. Und ich heule dir die Ohren voll. Tut mir leid.‹

›Ist doch egal.‹ , schrieb Matthew schnell. › Du kannst mir immer schreiben, egal wie es dir geht, Em.‹ Nachdem er die Nachricht abgeschickt hatte, sah Matthew auf seine Armbanduhr. Halb fünf durch. Liz kam um fünf. Er blinzelte, als er sich selbst bei seinen Gedanken erwischte. Was genau hatte er denn vor? Das Krankenhaus stürmen? Das wäre ja verrückt. Dennoch ertappte er sich dabei, wie er schon in das Feld der Suchmaschine den Namen des Krankenhauses eintippte. Es gab mehrere mit dem Namen, aber was Matt völlig aus dem Konzept brachte, war eine andere Tatsache: Er nutzte die Routenplanerfunktion und starrte dann auf das Handy. Das war nicht weit weg! Ganz im Gegenteil, es war gut mit dem Auto erreichbar. Völlig gebannt von dieser neuen Information schüttelte Matt langsam den Kopf. Es konnte doch nicht sein, dass er zufällig in Ems Nähe gezogen war! Er glaubte ja nicht an das Schicksal, aber das hier war beinahe angsteinflößend. Wenn es denn dieses Krankenhaus war, aber wie sollte er das herausfinden ohne Ems Nachnamen? Noch immer kam ihm seine Idee völlig verrückt vor. Wollte er einfach in einem Krankenhaus auftauchen, das vielleicht nicht einmal das Richtige war, und sagen: ›Hey! Ich bin der Irre, mit dem du schreibst und ja richtig, wir wohnen im selben Bundesstaat?‹, das klang schon wahnsinnig, wenn er es nur dachte!

 

Eine Weile lag Emmett einfach nur reglos unter seiner Bettdecke und versuchte, die Welt um sich herum auszublenden. Dann griff er doch wieder nach dem Handy.

›Gut. Wenn du das so siehst, dann schreibe ich dir jetzt… Was machst du gerade? Und jetzt sag nicht, mit dir schreiben.‹

Matthew lächelte. Inzwischen saß er wieder bei Noah, hielt seinen Bösewicht-Flieger in den Händen und hatte eine Entscheidung getroffen, was Em anbelangte. Er würde nicht ins Krankenhaus fahren. Vermutlich war es eh eines der anderen, die das Suchergebnis angezeigt hatte und dann unternahm er die Fahrt umsonst.

Ich passe auf meinen Neffen auf, bis meine Schwester kommt. Wir spielen mit Lego.‹ , schrieb er zurück. In diesem Moment hörte er Liz im Flur rufen.

»Ich bin wieder daha!« Schon war er abgemeldet.

»Mama!« Noah sprang auf und schnappte ihm seinen Flieger weg, um ihn seiner Mutter zu zeigen.

›Da würde ich jetzt sehr gerne mitmachen. Viel Spaß, Matt. Danke für deine Worte.‹ Emmett schickte die Nachricht ab und seufzte. › Ich versuche einfach zu schlafen. Für die nächsten 50 Stunden oder so.‹

›Okay. Ich wünsch dir gute Besserung.‹ , schrieb Matt, allerdings erst, als er schon im Auto saß. Was genau in den nächsten Minuten passierte, konnte er später nicht genau sagen. Er hatte mit dem festen Willen den Motor gestartet, zu sich nach Hause zu fahren, ein Buch zu lesen, vielleicht mit Dan zu telefonieren. Etwas in der Art. Stattdessen sah er sich an der entscheidenden Kreuzung den Weg zum Highway nehmen. Es war erschreckend wie viel Macht seine Gefühle über ihn hatten und wie wenig er ihnen entgegen setzen konnte. Jedes Mal, wenn die nächste Ausfahrt angekündigt wurde, nahm er sich vor, abzufahren, umzukehren, dem Irrsinn ein Ende zu setzen. Er sollte das wirklich nicht tun! Es war irrational und doch... Emmett war sein Freund. Immer wieder kam er auf diesen Fakt zurück, denn er wusste, dass er für Dan auch diesen Weg auf sich genommen hätte. Er hätte genauso gehandelt und er wusste, er würde sich trotz der Bauchschmerzen, die er mit dieser Entscheidung hatte, doch ärgern, wenn er Em nicht besuchen würde. Es waren viele Ausfahrten und irgendwann gab es Matt auf, gegen sein Gewissen anzukämpfen. Stattdessen konzentrierte er sich zwei Stunden später darauf, in Ems Vielleicht-Wohnort noch einen Blumenstrauß aufzutreiben. Sein Herz schlug schneller, als er dank eines beleuchteten Schildes die Auffahrt zum Krankenhaus fand und einen Parkplatz suchte, von dem er nicht abgeschleppt werden konnte. Seufzend hob Matthew schließlich den Blick zu der Anzeigetafel im Eingangsbereich empor.

Also schön. Em würde operiert werden, also musste er wohl in die Chirurgie. Wenn Emmett denn hier war. Der Blumenstrauß in seiner Hand raschelte leise, als Matthew auf den Fahrstuhl zuging und in das dritte Stockwerk des Krankenhauses fuhr. Gab es Menschen, die Krankenhäuser mochten? Allein dieser Geruch! Diese Mischung aus Wäschestärke, Krankheit und Desinfektionsmittel. Er schüttelte sich. Unangenehm! Eines musste er diesem Krankenhaus immerhin zugutehalten: Es roch nicht so übel wie in anderen. Matt trat aus dem Lift und sah sich um. Schwestern und Pfleger liefen in weißen Kitteln auf dem hell erleuchteten Hauptgang entlang. Er folgte der Beschilderung in die Chirurgie und hier war es schon etwas ruhiger. Ein junges Händchen haltendes Paar kam ihm entgegen, auch Besucher. Sofort fühlte er sich mit ihnen verbunden. Sie waren aus demselben Grund hier und augenblicklich empfand er so etwas wie Zugehörigkeit. Durch die Glasfront des Schwesternzimmers konnte er nur eine Schwester sehen, weiter hinten im Flur lief ein Pfleger. Die Voraussetzungen waren mehr als schlecht, überlegte er. Er kannte Emmetts Nachnamen nicht und wusste nicht einmal, ob er hier richtig war. Auf der richtigen Station, im richtigen Krankenhaus, in der richtigen Stadt. Alles war unsicher, aber es war die einzige Möglichkeit, herauszufinden, ob Em hier lag und ob dies Emmetts Wohnort war.

»Guten Abend.«, sagte er freundlich durch die offene Tür und die Schwester sah von einer Art Tabelle in Papierform auf.

»Guten Abend. Kann ich Ihnen helfen?« Wenigstens war er an ein freundliches Exemplar geraten. Obwohl... Abwarten, ermahnte sich Matthew. Er lächelte die dralle Brünette an.

»Ja, das hoffe ich. Ich suche das Zimmer von Emmett... Emmett...« Er schnalzte mit der Zunge und lachte leise. »Es tut mir Leid, mir ist der Nachname entfallen. Wir haben uns erst vor Kurzem kennengelernt und...« Er winkte ab. »Er ist von der Treppe gestürzt, hat eine Platzwunde am Kopf und geprellte Rippen. Sein Bein ist gebrochen und soll wohl operiert werden. Ach, dass mir jetzt der Nachname nicht einfällt!«, ärgerte er sich und empfand seine schauspielerischen Leistungen als eher mittelmäßig. Das runde Gesicht der Schwester zeigte keinerlei Regung. Fest sah sie ihn an. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie ihren Blick von ihm nahm und Matthew langsam ausatmete.

»Ich sehe nach.« Matthew spürte die Jeans und das Henley-Shirt plötzlich überdeutlich auf seiner Haut, der Pullover war schwer als hätte er sich mit Wasser vollgesogen. Die Schwester blätterte in ihrer Liste und nickte dann.

»Brone.«, sagte sie und sah wieder auf.

»Hm?«, machte Matthew und schaltete damit eindeutig zu spät.

»Der Nachname lautet Brone.« Es war keine Frage, aber ihr fester Blick lag fragend auf ihm.

»Oh ja! Brone, richtig.«, erwiderte Matthew lächelnd. Wieder durchbohrten ihn blaue Augen.

»Zimmer 314. Den Gang hinunter, dann nach links. Es ist das letzte Zimmer auf der rechten Seite.« Matthew nickte verständig.

»Danke sehr.« Er drehte sich zum Gehen und spürte noch immer den Blick der Schwester auf sich. Erst als er nach links abbog, fühlte er sich sicherer. Es war ein großes Glück und von immensem Vorteil, dass es diese typischen Besuchsrechte in Krankenhäusern nicht mehr gab. Starre Besuchszeiten waren, zumindest in den meisten Krankenhäusern, abgeschafft worden. Doch daran hatte Matt kaum einen Gedanken verschwendet, denn in ihm drängten sich ganz andere Gefühle in den Vordergrund. Er war hier tatsächlich richtig. Hier lag ein Emmett mit denselben Symptomen. Vor der Zimmertür blieb er stehen. Dies war Emmetts Wohnort. Sie lebten tatsächlich nur etwa zwei Autostunden voneinander entfernt! Er starrte auf die weiße Tür vor sich und wusste nicht mehr, was er denken oder fühlen sollte. Schließlich kam er zu einem Schluss: Das war bescheuert! Wieso war er noch mal hier?

Matthews Blick fiel auf den bunten Strauß in seinen Händen. Er hatte doch tatsächlich verschwitzte Hände! Schnaubend trat er auf die Tür zu und streckte die Hand aus, zögerte aber. Dann schüttelte er den Kopf, drehte sich um und lief zurück. Das konnte er doch nicht machen! Ihre Beziehung lebte von ihrer Entfernung, davon, dass sie nichts Persönliches voneinander wussten. Seine Schritte verlangsamten sich. In der letzten Zeit hatten sie dieses Gebot aufgeweicht. Mit allem, was er Em über Liz und Noah geschrieben hatte und mit dem, was Matthew inzwischen über Emmetts Job wusste. Stöhnend blieb er stehen und drehte sich auf den Hacken um.

»Jetzt sei kein Hasenfuß!«, sagte er zu sich selbst und lief erneut auf die Zimmertür zu. Je näher er kam, desto unsicherer war er sich. Er hätte beim ersten Mal nicht anhalten dürfen! Verdammt! Er stand ja schon wieder! Sein Blick bohrte sich in die Tür. Nein, das... Das war nicht richtig. Vielleicht sollte er nur die Blumen abgeben. Immerhin war ja eine Karte dabei. Suchend blickte er sich um. Niemand zu sehen. Seit wann war er eigentlich so ein Angsthase? Er hatte keine Probleme damit, Fremde auf der Straße anzusprechen, mit Kassierern zu plaudern oder mit hübschen Frauen in einer Bar zu flirten, aber durch diese Tür zu gehen, das machte ihm Angst.

Leicht legte er den Kopf schief. War das nun eine reale oder eine eher eingebildete Furcht? Kopfschüttelnd warf er die Gedanken ab. Emmett Brone. Es kam ihm schon falsch vor, Ems Nachnamen zu wissen. Hatte er damit nicht schon die Grenze überschritten? Oder bereits damit, überhaupt losgefahren zu sein? Es könnte damit enden, dass er bald gar keinen Kontakt mehr zu Em hatte, wenn er über die Türschwelle seines Zimmers trat. Matt war verwirrt. Was war richtig, was war falsch? Er wusste es in diesem Moment selbst nicht. Das Einzige, was er wusste war, dass er Angst hatte. Angst, dieses Zimmer zu betreten und damit vielleicht einen wichtigen Teil seines Lebens zu zerstören. Über ihm flackerte eine der Deckenlampen. Schnaubend warf Matthew ihr einen zerstörerischen Blick zu. Wie wichtig ihm dieser Teil seines Lebens geworden war, erkannte er erst jetzt. Und was, wenn dieser Mann hinter der dicken Tür gar nicht der Emmett war, den er suchte? Es gab sicher mehrere Emmetts mit diesen Beschwerden in den Krankenhäusern des Landes, oder? Andererseits wusste Matt, wie außergewöhnlich Ems Vorname war und dazu hatte er ja die genauen Verletzungen beschrieben.

»Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?« Matthew zuckte zusammen und wirbelte herum. Aus dem Blumenstrauß löste sich raschelnd ein Blütenblatt und fiel zu Boden. Hinter ihm stand ein Pfleger mit Pferdeschwanz und Koteletten.

»Oh. Ich weiß nicht.« Der Mann in weiß runzelte die Stirn. »Ja.«, entschied Matthew und hielt ihm den Blumenstrauß hin. »Würden Sie den bitte Emmett Brone geben? Er liegt in Zimmer 314.« Unnötigerweise deutete Matthew hinter sich auf die Tür. Der Pfleger sah auf den Strauß.

»Sie können den Strauß auch gerne persönlich abgeben.« Matthew nickte.

»Ich weiß. Geben Sie ihm den Strauß? Bitte.« Der Pfleger griff nach den Blumen.

»Natürlich, Sir.« Matthew nickte und sah dem Pfleger nach, der kurz an die Tür des Patientenzimmers klopfte und dann eintrat. Langsam drehte sich Matthew um und lief den Gang zurück. Vielleicht war schon die Karte zu viel gewesen, ging es ihm durch den Kopf; er hatte schließlich seinen Namen darauf hinterlassen. Als er auf den Bürgersteig vor dem Krankenhaus trat, konnte er schon freier atmen. Was zum Geier war da passiert? Er ließ sich auf eine Holzbank fallen, die vor der breiten Schiebe-Eingangstür stand.

›Bist du hier?!‹ Mehr schrieb Emmett nicht. Mehr konnte er nicht schreiben. Der freundliche Pfleger hatte ihm Blumen gebracht. Und darin hatte eine Karte gesteckt. Und darauf war ein Name geschrieben. Und ihm tat alles weh, weil er so abrupt aufgesessen war und jetzt auf sein Handy hämmerte. Das konnte doch nicht wahr sein! Sein Herz schlug Emmett bis zum Hals.

Natürlich. Er hatte Matt den Namen des Krankenhauses genannt. Aber wie zum Geier war der Andere so schnell hierhergekommen? Und gab es nicht noch andere Krankenhäuser mit diesem Namen in Amerika? Und wieso war er so schnell hier? Das bedeutete doch, dass Matt gar nicht so weit weg wohnte oder lebte. Zumindest so nah, dass er entweder hatte hierher fliegen können, innerhalb weniger Stunden. Oder er war mit dem Auto hier, was dann bedeuten würde, dass er noch näher lebte. Ein Umstand, an den Emmett bisher nie gedacht hatte. Weil er nie auch nur daran geglaubt hatte, jemals auf Matt zu treffen. Natürlich war der Ältere umgezogen und... Oh Gott. Lebten sie etwa in der gleichen Stadt?!

Matthews Handy vibrierte. Natürlich... Seufzend zog er es aus seiner Hosentasche und las die kurze Nachricht. Also war es der richtige Emmett und sie lebten tatsächlich so nah beieinander und er stand wirklich vor dem Krankenhaus, in dem sein Freund lag. Sein moderner Brieffreund, zu dem er eine eigenwillige Beziehung aufgebaut hatte ohne es jemals forciert zu haben. Matts Antwort fiel genauso knapp aus wie die Frage, die ihm gestellt worden war.

›Ja.‹ , schrieb er schlicht. Weshalb sollte er auch lügen? Er hätte die Blumen natürlich über einen dieser modernen Versandhandel schicken lassen können und dann wäre er nicht hier. Aber er würde nicht lügen und immerhin war die Karte per Hand geschrieben und nicht gedruckt.

 

›Wo?‹ , kam die knappe Frage gefolgt von weiteren: › Ich meine, wieso? Wie?‹ Emmetts Hände zitterten, während er auf den Bildschirm starrte, auf dem die drei Punkte erschienen, die andeuteten, dass Matt tippte.

Matthew lächelte. › Entschuldige. Ich hätte nicht herkommen sollen. Ich bin vor dem Zimmer auf und ab getigert. Es ist schon gegen unsere stille Übereinkunft, dass ich jetzt deinen Nachnamen kenne, aber... Jeden anderen Freund hätte ich auch sofort im Krankenhaus besucht.‹

›Wie kommst du an... Moment, das Pflegepersonal hat meinen Nachnamen ausgeplaudert?!‹ Matthew lachte leise, als er die Nachricht las.

Ich hatte eine detaillierte Beschreibung deines Unfalls und vor allem der Folgen aufzuweisen. Und ich glaube, die Schwester hatte Mitleid mit mir.‹

›Wow. Das gibt Material für mein nächstes Buch. So viel ist sicher.‹ Lange starrte Emmett auf die Nachricht, nachdem er sie geschickt hatte. › Möchtest du rein kommen?‹ Fest biss er sich auf die Unterlippe. Tollkühn. Und das war er sonst nie. Aber das war eine einmalige Chance. Es dauerte eine Weile und fast dachte er, dass Matt nicht antworten würde. Der Ältere ließ sich Zeit. Viel Zeit. Matt stützte die Ellbogen auf die Knie, sah auf die geschriebenen Worte - und fand dann doch nur eine ausweichende Antwort.

Ich wollte nicht, dass du dich aufregst, Johnny. Das ist vermutlich das Letzte, was du gerade brauchst.‹

»Oh...«, machte Emmett leise als er die Nachricht gelesen hatte und war froh über die schützenden Vorhänge, welche die Betten voneinander trennten und so wenigstens für etwas Privatsphäre sorgten.

Dann danke für die Blumen. Sie sind sehr schön. Und fahr vorsichtig.‹ Vorsichtig legte Emmett sich zurück ins Bett und atmete langsam tief ein. Gegen den Schmerz an. Seine Rippen nahmen ihm diese raschen Bewegungen wirklich übel.

Matthew runzelte die Stirn und ließ die Hände sinken, sah auf den Gehsteig vor sich. Monotones Grau durchzogen von dunklen Fugen, in denen unzerstörbares Unkraut einen Weg ans Licht suchte. Wieso fühlte sich das jetzt auch falsch an? Hineingehen hatte sich falsch angefühlt, einfach wegzufahren aber auch. Dunkelheit löste den lavendelfarbenen Abendhimmel ab, während Matthew still auf der Bank saß. Es war kalt und mit der Dunkelheit kam eine noch viel tiefere Kälte. Er wusste nicht, wie lange er nur dasaß und vor sich hin starrte, Gedanken nachhing, die er nicht greifen konnte. Irgendwann griff er wieder nach seinem Handy, das bis jetzt neben ihm auf der Bank gelegen hatte.

Hältst du das für eine gute Idee? Ich kann deinen Nachnamen auch einfach wieder vergessen und alles ist zwischen uns wie vor deinem Unfall.‹ Emmett hatte inzwischen die Ohrstöpsel in seine Ohren geschoben und lauschte der Musik auf seinem Handy. Er hatte das Licht an seinem Bett ausgelassen und so drang nur das Licht der anderen Betten gedämpft zu ihm durch.

Ich weiß es nicht. Aber jetzt ist es ja auch nicht mehr von Belang. Und ob du meinen Nachnamen nun kennst, ändert ja im Grunde nichts.‹ Matthew seufzte leise.

Ich sitze vor dem Krankenhaus.‹ , schrieb er schließlich zurück, erhob sich nun aber und trat in das Gebäude. Hier war es nicht so kalt und er konnte sich hier genauso gut hinsetzen.

›Bist du irre? Es ist saukalt!‹ Die Nachricht ignorierend begann Matthew wieder zu schreiben. Seine Finger waren ganz steif.

Sag mir, ob ich gehen oder bleiben soll.‹ Emmett seufzte.

Das kann ich dir nicht sagen.‹ Dann fiel sein Blick auf die Uhr des Handys. › Aber es geht eh nicht mehr. Die Besuchszeit ist vorbei.‹ Auch wenn es keine offiziellen Besuchszeiten mehr gab, so gab es dennoch Vorgaben, wann die Besucher zu gehen hatten. Immerhin waren die Menschen hier krank und brauchten eine erholsame Nachtruhe. Sofern die Nacht hier erholsam sein konnte.

»Was?«, murmelte Matthew zu sich selbst und sah auf die Uhrzeit am oberen Rand seines Handys. »Oh verdammt!« Wie lange hatte er denn da draußen gesessen?

Tut mir leid.‹ Mehr konnte er nicht schreiben. Er schämte sich für seine Feigheit. Wäre er doch einfach beim ersten Mal hineingegangen! Wieso war ihm das so schwer gefallen?! Leise vor sich hin grummelnd verließ er das Krankenhaus, stieg in seinen Wagen und trat den zweistündigen Rückweg nach Hause an. Wer weiß? Vielleicht war es auch besser so. Dass alles so blieb wie es war.

›Muss es nicht. Du warst hier.‹ Emmett wusste nicht, ob es klug war, das Folgende zu schreiben, aber er tat es dennoch. › Das bedeutet mir viel, Matt.‹

Matthew las die Nachricht erst, als er Zuhause angekommen war. Dieses Nachrichtenprogramm hatte ja den Vorteil, dass die Gesprächspartner sehen konnten, wann man eine Nachricht gelesen hatte. Es mochte Em nichts ausmachen, ihm war es dennoch unangenehm, vor allem sich selbst gegenüber.

Die folgende Nacht war der Horror für Emmett. Er schwebte irgendwo zwischen Schlafen und Wachen, er hatte Hunger, da er am Abend nichts mehr hatte essen dürfen für den Fall, dass er morgen früh operiert werden würde. Sein Bein tat weh, er fühlte seinen Puls darin und die Kunststoffschiene kratzte furchtbar. Er konnte weder auf der Seite noch auf dem Bauch liegen. Sein Kopf brummte und der Schwindel war noch nicht ganz verschwunden. Am Morgen fühlte er sich wie tot. Aber das war nicht möglich, denn sein Puls raste wie verrückt als der Chefarzt beschied, dass er operiert werden konnte. Panik. Blanke Panik. Was, wenn er nie wieder aufwachte? Operationen konnten schief gehen.

Für den Fall, dass ich nicht mehr aus der Narkose aufwache, erteile ich dir die Erlaubnis, mich zu googeln.‹ , schrieb er Matt und fügte ein Smiley an, auch wenn er sich nicht so fühlte wie der Smiley es vorgab. Dann musste er das Handy weglegen und konnte daher die Antwort, die Matt ihm schrieb, nicht mehr lesen. Mit einem Mal ging alles ganz schnell. Es erfolgte eine Aufklärung über die Risiken der OP, die ihn nun wirklich nicht beruhigten und etwas anderes als zuzustimmen konnte er auch nicht. Es gab einfach keine Alternativen. Er wurde in den OP gerollt, eine Maske landete auf seinem Gesicht, nachdem ihm der Narkosearzt kurz erklärt hatte, was im Folgenden passieren würde und ihn darum bat an etwas Schönes zu denken. Er kam gar nicht dazu, denn das Gas, das kurz darauf aus dem Mundstück strömte, riss ihn ohne Vorwarnung in eine alles umfassende Schwärze hinab.

+++

»Nicht mehr aufwachen!«, schnaubte Matthew, als er die Nachricht gelesen hatte.

Untersteh dich!‹ , antwortete er als Emmett bereits in den OP geschoben wurde, aber Em las die Nachricht nicht mehr und das löste ein ganz merkwürdiges Unwohlsein in Matthew aus. Natürlich hatte es immer Nachrichten gegeben, die einer von ihnen erst später gelesen hatte. Sie führten ja auch noch ein Leben außerhalb ihrer eigenen verrückten Geschichte. Er würde sogar sagen, dass diese Geschichte nur einen Bruchteil ihres eigentlichen Lebens bestimmte. Jetzt allerdings war Emmett in einem OP, wurde am Bein operiert und hatte Angst. Das hatte er ihm selbst geschrieben und seine Mutter und sein Bruder konnten erst am Wochenende bei ihm sein. Das waren noch zwei verfluchte Tage! Matthew war sich sicher, dass Hanni im Krankenhaus sein würde. Irgendjemand musste doch bei Em sein, wenn er wach wurde. Das ging nicht, dass jemand aufwachte ohne eine Menschenseele um sich herum. Matthew erwischte sich dabei wie er auf seinen PC-Bildschirm starrte ohne etwas zu sehen.

+++

Emmett hatte in seinen Büchern immer beschrieben, dass die erste Fähigkeit, die man nach einer Ohnmacht zurückbekam, das Gehör war. Aber das stimmte nicht. Denn als Emmett aus der Narkose erwachte, war das Erste was er wahrnahm, das sterile Aufwachzimmer und schließlich die Schwester, die sich in sein Blickfeld schob.

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