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SCHLUSS MIT DEM AUSVERKAUF!

Den traurigen Niedergang der Union, ihre bedingungslose Kapitulation vor dem Zeitgeist und den allgemeinen Verfall unserer Parteiendemokratie erörtern, obwohl sie niemand darum gebeten hat, Arnulf Baring, Josef Kraus, Mechthild Löhr und Jörg Schönbohm.

Redaktion

Alexander Kissler

Berlin 2011


INHALT

Vorwort

I. Par ordre de Mutti:

Wie man Stammwähler vertreibt

II. Raumschiff und Claqueure:

Wie man Diskussionen verhindert

III. Pluralität oder Identität:

Wie man den Kopf verliert

IV. Krippenwahn und Zwangsbeglückung:

Wie man die Familie zerstört

V. Entmündigung leichtgemacht:

Wie man den Staat mästet und die Bürger schröpft

VI. Mit Euro und EU gegen Europa:

Wie man das Abendland entsorgt

VII. Schiff ohne Kompass:

Wie man die eigene Sicherheit verspielt

VIII. Windräder, wohin man blickt:

Vom Atomausstieg zum Ökosozialismus

IX. Geschichte ohne Bewusstsein:

Wie man Integration planvoll erschwert

X. Wellness statt Leistung:

Wie man die Bildung abschafft

XI. Ersatzreligion Politik:

Wie man das Konservative ächtet

XII. Die ewige Gegenwart:

Wie man die Nation überwindet und im Nirwana landet

Impressum

VORWORT

Europa steht am Scheideweg. Für die Europäische Union und den Euro gilt das erst recht. Auch Deutschland muss sich entscheiden. Wohin soll das Land sich wenden, damit es nicht am Finanzinfarkt oder an innerer Auszehrung zugrundegeht? Selbst Demokratie und Republik sind keine Größen, denen man heute frohgemut Ewigkeitsrang zusprechen könnte. Es wird zunehmend »durchregiert«.

Nicht zuletzt sind CDU und CSU an einer Weggabelung angelangt. Wird nach dem Ende der Volkspartei das Prinzipielle wiederentdeckt, das Nichtverhandelbare – oder verschärft sich der Trend zum Pragmatismus, zur spätmodernen Diskurspolitik? Dass es nicht weitergehen kann wie bisher mit Schuldenkrise, Parteienkrise und Vertrauenskrise, bestreitet niemand in diesen Tagen. Was aber muss geschehen, damit der Scheideweg nicht in die Sackgasse führt? Und wen trifft die Schuld, wenn es doch geschieht? Wer wurde seiner Verantwortung nicht gerecht?

In einer hellsichtig gegenwartskritischen Komödie sagt ein Narr zum anderen: »Ach, Menschen von heute. Sind doch alle nicht mehr ernst zu nehmen.« Das Widerwort ist scharf und grundsätzlich: »Das sagst du jetzt bei jeder Gelegenheit. Die Wettervorhersage. Ach, ist doch alles nicht mehr ernst zu nehmen. Der Börsenbericht. Ach, ist doch alles nicht mehr ernst zu nehmen. Das Klonen von Mensch und Tier. Ach, ist doch alles nicht mehr ernst zu nehmen. Was ist denn noch ernst zu nehmen? Der Tod?« Ernsthaft wird diese Frage dann nicht beantwortet in der Komödie Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia. Ihr Autor aber, Botho Strauß, weiß genau, wie gefährlich diese scheinbar so leichte Rede geworden ist.

Einerseits wächst nämlich die Schar derer, die sich mit dieser Formel achselzuckend abwenden von Demokratie und Politik. Eben weil – so heißt es dann – keiner der politischen Akteure ernst zu nehmen sei, ihre Floskelrhetorik nicht und ihre Problemanalyse nicht, ihr routiniertes Abwiegeln ebensowenig wie ihre routinierte Empörung, verwende man Zeit und intellektuelle Energie lieber auf andere, fasslichere Dinge. Politik sei ein schmutziges Geschäft. Andererseits stabilisiert eben dieser Rückzug ins Private die Herrschaft der Floskeln und derer, die sie machtbewusst im Munde führen. Auch wer sich abmeldet aus dem öffentlichen Streit, wird das, was er nicht werden wollte: Partei. Wer schweigt, stimmt zu, stimmt ein in das Crescendo und Decrescendo der classe politique.

Aus diesem Grund hat Botho Strauß unlängst, im August 2011, zehn Jahre nach der Uraufführung von Pancomedia, eine andere Formel für den wachsenden Verdruss des Zivilbürgers gewählt. Unter der Überschrift »Klärt uns endlich auf!« forderte der Schriftsteller ein Ende der allgegenwärtigen Neigung, diese oder jene politische Entscheidung flugs für alternativlos auszugeben. Das »noch aus Maggie Thatchers Zeiten« stammende Akronym »Tina«, »there is no alternative«, hebele die Politik aus. Es diene den Regierenden schlicht dazu, »einer zu ihrem Vorteil gefällten Entscheidung den Anstrich der Unumgänglichkeit zu geben.« Ob europäische Staatschuldenkrise, Bankenrettung oder Atomausstieg – die ganze politische Szene habe »mit einem Schlag den Antagonisten verloren. Es gibt keine Parteien mehr, es gibt nur noch Atomaussteiger. Tina!«

Insofern hat für Botho Strauß die Tina-Politik, wie sie etwa die deutsche Bundeskanzlerin betreibt, Teil am enervierenden Geplapper: »Ein Wort, das vielleicht allgemein aufhorchen ließe, wurde von einem Politiker seit langem nicht vernommen. Die Autorität, die er vielleicht kraft seines Amtes noch besitzt, leidet in der Regel, sobald er den Mund aufmacht. Jedermann ist des Gewäschs überdrüssig. Man will nie wieder etwas von einem Schritt in die richtige Richtung hören. Selbst wenn er getan würde, was offenbar nur selten der Fall ist, bliebe er in solcher Sprache ungetan für den Zuhörer, die Floskel isoliert ihn hermetisch vom Tatbestand.« (FAZ, 23. 8. 2011) Auch deshalb ist es nötig, zu einem öffentlichen Gespräch über die Grundlagen des Politischen zurückfinden, wie es sich in diesem Buch ereignet, tastend und energisch zugleich.

Denn was steht auf dem Spiel? Der Medientheoretiker Norbert Bolz sieht hinter dem Gerede von der angeblich alternativlosen Politik die Sehnsucht nach der Diktatur aufleuchten. »Ein Politiker«, so Bolz, »der behauptet, zu einer bestimmten Politik gäbe es keine Alternative, ist (…) ein Tyrann.« Jürgen Kaube von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erkennt in den von der Kanzlerin angekündigten Souveränitätsverzichten hilfebedürftiger Euro-Länder die Wiederkehr der »kommissarischen Diktatur« und das Entstehen einer »absolutistischen Demokratie«.

Bewegen wir uns demnach auf neue Unfreiheiten, neue Verknechtungen, womöglich globalen Ausmaßes, zu? Der Schriftsteller, Filmemacher und Zeitdiagnostiker Alexander Kluge nennt die Gegenwart eine »vorrevolutionäre Zeit, in der nur das Subjekt der Revolution noch unklar sei.« Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts habe aus Menschheitstragödien bestanden, die zweite Hälfte aus einer »geradezu unwirklichen Friedfertigkeit«. Jetzt könne sich die erste Jahrhunderthälfte wiederholen, eine Entgleisung der Welt. Das Jahr 2012 erinnert Kluge an das Jahr 1912, kurz vor dem »großen Knall«. Wichtigstes Indiz für die Wiederkehr der Katastrophe sei das verschwundene Vertrauen, dass die Krise zu bewältigen ist.

Man muss den apokalyptischen Blick nicht teilen, um ein fundamentales Ungenügen zu verspüren, eine Unruhe, die kein Räsonnement stillstellt. Europa steckt sogar laut EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in einer tiefen »Wirtschafts-, Finanz- und Sozialkrise«. Die Europäische Union stehe vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte. Und gerade nun kollabiert das Vertrauen in die Europa tragenden Institutionen, weitet sich das legitimatorische Defizit zum Misstrauensvotum gegen Politik überhaupt: Man will es lieber nicht so genau wissen, weil den Politikern nicht über den Weg zu trauen sei. Man vernimmt die Nachrichten aus dem Jammertal und lebt unbehelligt weiter, als wäre nichts geschehen, in der Welt von gestern. Sehr lange wird sich dieser Schein von Normalität nicht aufrechterhalten lassen. Die Einschläge kommen näher, sagt Alexander Kluge, wie damals im Luftschutzkeller.

Bestechend klar hat Hans Magnus Enzensberger vor diesem Hintergrund die »Entmündigung Europas« beschrieben. Sein Essay über das »sanfte Monster Brüssel« gipfelt in der These, die Europäische Union strebe die »Umerziehung von fünfhundert Millionen Menschen« an. Wie stets sei »für jede machtbewusste Exekutive (…) die Passivität der Bürger ein paradiesischer Zustand.« Wenig spreche »bisher dafür, dass die Europäer dazu neigen, sich gegen ihre politische Entmündigung zur Wehr zu setzen«. Dann aber könnte der »Eintritt in ein postdemokratisches Zeitalter« tatsächlich bevorstehen, der ein Rückfall wäre in vorkonstitutionelle Zustände.

Doch warum in die Ferne schweifen, wenn das Schlechte liegt so nah? Nicht nur Brüssel, auch Berlin erscheint derzeit nicht gerade als Hort republikanischer Transparenz. Der erste Mann im Staate, Bundespräsident Christian Wulff, kritisierte Ende Juni 2011 scharf die wachsende »Aushöhlung des Parlamentarismus«. Und er fuhr fort: »Damit schwindet die Grundlage für Vertrauen, fehlt die Transparenz und Teilhabe für Bürger und Parlamentarier.« Die bekannte Politikverdrossenheit unter den Bürgern verschärfe sich um eine zusätzliche Dimension, denn »inzwischen sind Politikerinnen und Politiker häufig verdrossen, verdrossen über ihre eigene Tätigkeit und ihre Rolle, die ihnen noch zukommt, verdrossen über ihren schwindenden Einfluss.« Viel zu häufig werde »in kleinen ›Entscheider‹-Runden vorgegeben (…), was dann von den Parlamenten abgesegnet werden soll.«

Wulff nannte als Beispiele die Krise des Euro und den Atomausstieg: »Sowohl beim Euro als auch bei Fragen der Energiewende wird das Parlament nicht als Herz der Demokratie gestärkt und empfunden. Dort finden die großen Debatten nicht mit ergebnisoffenem Ausgang statt, sondern es wird unter einigen wenigen etwas vereinbart und durch Kommissionen neben dem Parlament vorentschieden.« In diesem Sinne meldet sich beharrlich und leidenschaftlich auch der Bundestagspräsident zu Wort, Norbert Lammert. Er konstatiert ebenfalls einen zum Teil selbstverschuldeten Machtverlust des Bundestages zugunsten der Regierung.

Am anderen Ende der politischen Skala stellt man dieselbe Diagnose. Wolfgang Nešković, ehemals Bundesrichter, heute Justitiar der Bundestagsfraktion »Die Linke«, fordert: »Die legislative Macht muss heimkehren in die Gewalt des Parlaments.« Momentan könne von einer wirklichen Gewaltenteilung nicht gesprochen werden. Der Bundestag sei »ein Parlament, das parlamentarische Rechtssetzung verhindert. Er ist nur noch ein Gebilde, durch das die Regierung muss, wenn sie ihre Gesetze machen will.« Nešković schilt den »Verfassungsungehorsam der Regierung« ebenfalls am Beispiel des Atomausstiegs. Das Moratorium für das Gesetz zur Laufzeitverlängerung bedeute, dass die Regierung ein Gesetz nicht ausführen will, zu dessen Ausführung sie verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Medien und Öffentlichkeit haben diesen Beschluss begrüßt, »doch auch gewünschte Willkür bleibt Willkür.«

Man mag einwenden: Warum sollte eine Partei, die nach innen Offenheit und Transparenz und Partizipation so weit es geht vermeidet, ihre Liebe zu diesen drei Prinzipien ausgerechnet in der Regierungsverantwortung wiederentdecken? Warum sollte die CDU, in der nach Meinung nicht weniger Beobachter »par ordre de Mutti« regiert wird, in der Exekutive davon abweichen? Die pseudodemokratische Simulationsmaschine läuft geschmeidiger denn je. Der hessische CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus-Peter Willsch hat deutlich ausgesprochen, welche Formen sie bereits ausgebildet hat: Die regelmäßig stattfindenden Regionalkonferenzen, auf denen Parteiführung und Parteibasis ins Gespräch kommen sollen, dienten ersterer »nur als Propagandainstrument« und seien »für Entscheidungsfindungen völlig ungeeignet«.

Letztlich, heißt das wohl, steuert die Parteispitze einen Kurs, der weder bei den Wählern noch bei den Mitgliedern Mehrheiten fände. Dass die CDU seit 1990 von damals 790 000 auf heute weniger als 500 000 Mitglieder geschrumpft ist, dass jeden Monat rund eintausend Mitglieder die Partei verlassen, dass die CDU der Ära Merkel bei Wahlen beständig an Zustimmung verliert, könnte auf die Vernachlässigung urdemokratischer Tugenden zurückzuführen sein. Wer mag sich schon engagieren, wenn andere das Sagen haben?

Oder sind es doch die Inhalte, von denen sich Mitglieder und Wähler mit Grausen abwenden? Da mögen sich Philipp Mißfelders »Junge Union« und Otto Wulffs »Senioren-Union« noch so sehr um den programmatischen, den christlichen und konservativen Kern des Parteiprogramms bemühen: An der Spitze der Partei finden sie damit kein Gehör. Das Manifest »Kultur des Lebens« etwa, das die Senioren-Union im Juli 2011 beschloss, hatte keinerlei Auswirkungen auf das Reden und Handeln des führenden Personals.

Erstaunt berichtete Eckart Lohse in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Mitte September 2011 über einen Abend mit der Kanzlerin und Parteivorsitzenden: »Angela Merkel hat die CDU ihrem Willen unterworfen, manches laute Stöhnen der Katholiken, der Konservativen, der Ehemaligen kündet davon. Als sie am Donnerstag in der KonradAdenauer-Stiftung, der intellektuellen und wissenschaftlichen Herzkammer der Partei, eine Rede zur Integrationspolitik hielt, die auf jedem Grünen-Parteitag bejubelt worden wäre, durchzuckte es manchen der Zuhörer.«

Aus vielen Gründen also kamen im Herbst vier Bürger dieses Landes zusammen, um ihrem Herzen Luft zu machen: Eine Personalberaterin, ein Lehrer, ein Publizist und ein ehemaliger General und Minister wollen sich mit den deutschen Scheindebatten und Selbstberuhigungen nicht länger abfinden. Arnulf Baring, Josef Kraus, Mechthild Löhr und Jörg Schönbohm sprachen über das, was unleugbar der Fall ist, und über das, was geschehen müsste, die Not zu wenden. Es entstand, wie zu sehen sein wird, ein munteres, forsches und hoffentlich anstößiges Gespräch, die Grundlage für diesen Band, der ein Anfang sein soll, ein Präludium zu einem gesamtgesellschaftlichen Konzert der Stimmen.

Gewöhnlich heißt es in der editorischen Notiz zur Druckfassung solcher Gespräche, der mündliche Duktus sei beibehalten worden. Das stimmt auch hier grosso modo. Gleichwohl wurde nach Abschrift und Korrektur an der Klarheit der Gedanken, die immer eine Klarheit des Ausdrucks ist, weitergearbeitet. Der lebendige Charakter der Auseinandersetzung hat dabei hoffentlich keine Einbußen erlitten. Die letzte Fassung ist Anfang Oktober entstanden.

Der ursprünglich vorgesehene Titel »Es reicht!« war leider ebenso vergeben wie die bekannteren Alternativen »Wehrt euch!« und »Empört euch!«. Dass der nun gewählte Titel eine mindestens doppelte Bedeutung hat, dürfte unmittelbar einleuchten. Schließlich sollten weder unsere materiellen noch unsere immateriellen Werte, sei es panisch oder planvoll, verramscht werden. Auf verramschte Ware folgt zuweilen der Konkurs des Produzenten. Das haben Deutschland und Europa nicht verdient, und auch um die Union wäre es schade. Ein Anfang könnte also gemacht sein.

Wie jedes Gespräch ist auch dieses unendlich. Es lebt fort, wo ihm widersprochen oder zugestimmt, wo weitergedacht wird. Und natürlich immer dann, wenn das politische Lullaby verstummt, mit dem wir uns beruhigen, das sei doch alles nicht so dramatisch, ach, das sei doch alles nicht mehr ernst zu nehmen. So mild und süß klingt das Wiegenlied nur auf der Titanic.


Alexander Kissler Berlin, im Oktober 2011

I. PAR ORDRE DE MUTTI

BARINGSeit der Bismarckschen Reichsgründung 1871 sind vier ganz verschiedene deutsche Regime gescheitert: das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich und die DDR. Was ihnen allen gemeinsam ist: Die jeweiligen Eliten haben – mit wenigen Ausnahmen – bis zum Ende fest geglaubt, auf der sicheren, der obsiegenden Seite zu stehen. Ich habe den Eindruck, das gilt auch heute.

Ernsthafte Bedrohungen halten wir gar nicht für möglich. Wir finden alle innen- und außenpolitischen Gefahren letztlich unerheblich. Wir glauben fest, die Bundesrepublik sei unverwüstlich. Wenn Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler auf das Risiko einer griechischen Insolvenz hinweist (das jeder halbwegs wache Deutsche kennt), geht ein Aufschrei durchs Land, obwohl es eine Selbstverständlichkeit ist, dass auch Staaten in die Insolvenz gehen können. Die sture Verbissenheit unserer Regierung bei immer neuen Euro-Rettungen, ihre zur Schau gestellte Selbstsicherheit, finde ich außerordentlich beängstigend. Denn man spürt den schwankenden Boden, auf dem sie das sagt, bemerkt erschrocken, mit welcher fast schon totalitären Attitüde Abweichler unter Druck gesetzt werden.

Es ist unglaublich, wie arrogant die gegenwärtige Regierung eine freie Aussprache des Parlaments in einer Schicksalsfrage der Nation unterbunden hat. Der Ältestenrat des Bundestages hatte keine Sternstunde, als er dem Parlamentspräsidenten rechtswidriges Verhalten vorwarf, weil Norbert Lammert zwei Abgeordneten der Koalition für jeweils fünf Minuten gestattet hatte, ihre abweichende Meinung dem Plenum vorzutragen. Konsterniert erfährt man, der Kanzleramtsminister habe sich nach der Probeabstimmung dazu hinreißen lassen, seinen Fraktionskollegen Wolfgang Bosbach mit gossenhaften Worten zu beleidigen. Das hätte mich, wenn ich an Bosbachs Stelle gewesen wäre, dazu gebracht, Ronald Pofalla (um mich auf sein Niveau der Auseinandersetzung zu begeben) links und rechts mehrere Backpfeifen zu verpassen.

SCHÖNBOHMDie CDU-Vorsitzende Angela Merkel muss am Beginn ihres siebten Amtsjahres als Kanzlerin zugleich einen gewaltigen Autoritätsverlust hinnehmen. Die von ihr verordneten Schweigegebote haben sogar in der eigenen Partei nur eine Halbwertszeit von wenigen Stunden. Ihr Regierungsbündnis aus CDU, CSU und FDP bröckelt. Nicht nur beim Euro, sondern auch bei der Pflege, bei der Frage nach einer PKW-Maut, bei der Vorratsdatenspeicherung, bei der Steuerreform oder beim Betreuungsgeld ist die Koalition weit entfernt von einer gemeinsamen Linie.

KRAUSDieser Autoritätsverlust hat eine Menge mit Prinzipien- und Orientierungslosigkeit zu tun. Einige Altvordere haben das im Sommer 2011 öffentlichkeitswirksam auf den Punkt gebracht, vor allem Helmut Kohl und Erwin Teufel.

BARINGDeutschland hat in Europa und in der Welt ein viel besseres Ansehen, als man bei uns glaubt. Dieses Ansehen ist dadurch gefährdet, dass wir uns nicht hinreichend darüber im klaren sind, was unsere Interessen sind. Natürlich haben wir, wie alle anderen Staaten auch, das Recht, sie angemessen zu vertreten. Weil wir das nicht tun, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, sagt Helmut Kohl in der Zeitschrift für Internationale Politik mit gutem Grund, Deutschland sei keine berechenbare Größe mehr.

LÖHRKohl sagt auch: Wir müssen wieder deutlich machen, wo wir stehen, wo wir hinwollen, welche Werte und Prinzipien wir vertreten. Auch wenn der Kanzler der Einheit den Namen Merkel nicht erwähnt, meint er damit eindeutig die Kanzlerin.

SCHÖNBOHMEs ist bezeichnend und traurig zugleich, dass sich jetzt unsere Altvorderen so massiv einmischen müssen. Aber ich bin froh, dass sie es tun. Vor allem Erwin Teufel hat mich beeindruckt. Hoffentlich begreift die Merkel-CDU, dass die Sorgen und die Analysen Teufels sehr wohl hilfreich sind. Vor allem teile ich Teufels Urteil, dass das »C« im Namen CDU überflüssig wird, wenn man sich nicht an ihm orientiert, und dass eine Volkspartei Politiker mit Bodenhaftung gerade auch für ihren Erfolg bei den sogenannten kleinen Leuten braucht.

LÖHRWas die CDU braucht, hat Erwin Teufel mit einem einzigen Satz auf den Punkt gebracht: Sie muss eine weitsichtige, vertrauensvolle, berechenbare, wirklichkeitsnahe und werteorientierte Politikbetreiben.

KRAUSAllerdings vernehme ich aus der Führung der CDU nichts dazu. Sonst aber bekommen Teufel und Kohl überall enorm viel Zustimmung: von den Hessen Volker Bouffier und Christean Wagner, vom Baden-Württemberger Thomas Strobl, vom Thüringer Mike Mohring, von einem sympathisch tapferen Wolfgang Bosbach, ja sogar von dem sonst immer sehr vorsichtig und ausgewogen formulierenden Bernhard Vogel.

SCHÖNBOHMDie Führung der CDU hat leider nicht begriffen, vor welchen Problemen die Partei steht. Ich merke allerorten eine große Unzufriedenheit über ihre Unzuverlässigkeit, ihre mangelnde Berechenbarkeit und ihre schnellen Stellungswechsel. Und dann diskutieren die Generalsekretäre von Union und FDP in einer Sonntagszeitung miteinander und versichern sich gegenseitig, alles sei wunderbar, nur weiter so. Der Wähler habe eben vieles noch nicht verstanden, die Lage sei viel besser als die Stimmung. Tatsächlich aber laufen die Leute der CDU davon; damit muss sie sich endlich substantiell auseinandersetzen.

KRAUSDas kann ich nur bestätigen. Ich habe einen sehr großen Bekanntenkreis, der zu 90 Prozent aus – zum Teil nunmehr ehemaligen – Unionswählern besteht. Sie gehen kaum noch zur Wahl, weil sie nicht bereit sind, grün oder rot oder dunkelrot zu wählen. Aber eine Merkel-CDU ist für sie auch nicht mehr wählbar, weil dort nur Situationsethik und die Pragmatik des jeweiligen Tages den Ton angeben. Leitideen und wertegebundene Grundsätze spielen keine Rolle mehr. Merkel ist zum programmatischen Fragezeichen geworden.

SCHÖNBOHMDie Malaise begann schon 2002, als es hieß, die CDU wolle jetzt Patchwork-Familien unterstützen und sich um neue Wählerschichten bemühen. Ich habe das sofort in einem Interview mit dem Spiegel kritisiert. Frau Merkel rief mich an und fragte mich, ob ich in dieser Frage Krieg wolle. Nein, ich wollte eine grundsätzliche Diskussion anstoßen, zu der es kurzfristig auch kam. Merkel ging schließlich mit der Sprachregelung an die Öffentlichkeit, Schönbohm sei der Wachmann und sie die Putzfrau; er bewache das konservative Tafelsilber und sie putze es. Das Ergebnis: Die CDU verlor Stimmen und gewann mit der neuen Strategie keine hinzu. Beliebigkeit lohnt sich eben nicht. Seit 2002 hat die CDU fast alle Wahlen verloren. Die CDU stellt zwar die Kanzlerin, aber wie lange noch?

KRAUSAllein in Nordrhein-Westfalen haben bei der Landtagswahl 2010 mehrere hunderttausend Wähler, die bei der Bundestagswahl 2009 noch bürgerlich wählten, gar nicht mehr gewählt.

BARINGIch bin seit langem ein Anhänger der Kanzlerin. Sie ist eine außerordentlich intelligente, kenntnisreiche und obendrein fleißige Regierungschefin. Sie ist immer gut unterrichtet und absolut uneitel. Sie spricht öffentlich nicht anders als im kleinen Kreis. Das nahm mich immer sehr für sie ein. Inzwischen rücke ich von ihr ab – mit zunehmender Geschwindigkeit und in wachsender Ratlosigkeit – seit ihren anmaßenden Äußerungen über Thilo Sarrazin.

Und dann: Wie konnte man die Wehrpflicht ohne öffentliche Diskussion zugunsten einer Freiwilligenarmee abschaffen – mit der Begründung, man müsse sparen? Jetzt wird es teurer, und wir finden nicht genug Freiwillige. Das Bekenntnis zum »Bürger in Uniform« war seit Jahrzehnten ein Markenzeichen gerade der CDU. Man hat es achtlos fallenlassen. Unter den Bedingungen der Wehrpflicht entschieden sich viele geeignete junge Männer für die Offizierslaufbahn, die jetzt andere Wege gehen werden.

Ganz allgemein vernachlässigen wir die Elitenbildung. Wie wir auch an der Bildungspolitik sehen, wollen wir jungen Leuten nichts mehr zumuten – um den Preis, dass aus ihnen nichts wird.

Völlig entgeistert war ich bei Merkels abrupter Wende in der Atompolitik, von der sie doch noch kurz zuvor öffentlich und intern behauptet hatte, wir brauchten sie so lange als Brückentechnologie, bis neue Energiequellen in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. Wir wissen bisher überhaupt nicht, wann wir über genug alternative Energie verfügen werden. Wenn wir heute sagen: Wir steigen auf jeden Fall in elf Jahren aus, ist das verantwortungsloser Unsinn, den ich der Regierungschefin wirklich übelnehme. Der Publizist Johannes Gross hat einmal bemerkt: Das Schlimme an den Opportunisten sei, dass sie keinen Sinn für Opportunität hätten.

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