Handbuch des Strafrechts

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A. Einleitung

I. Begriff der Rechtsquelle

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Einen abschließenden und feststehenden Kanon strafverfahrensrechtlicher (bzw. strafprozessualer) Rechtsquellen gibt es nicht – ein Umstand, der bereits daraus resultiert, dass die Verwendung des Begriffs der Rechtsquelle keineswegs einheitlich ist. Allerdings lässt sich durchaus eine Differenzierung feststellen, die vielen Rechtsquellenlehren zugrunde liegt: die Trennung zwischen Quellen im engeren und solchen im weiteren Sinne. Letztere erfassen all diejenigen Faktoren, die eine Rechtsentscheidung in tatsächlicher Hinsicht prägen können. Demgegenüber impliziert das restriktive Rechtsquellenverständnis nur diejenigen rechtlichen Gründe, die eine rechtliche Entscheidung beeinflussen sollen.[1]

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Eine ähnliche dualistische Klassifikation wird vorgenommen, soweit zwischen einem (deskriptiven) soziologischen und einem (normativen) juristischen Rechtsquellenbegriff unterschieden wird.[2] Der hiermit angesprochene Aspekt der Normativität deutet zugleich darauf hin, dass sich Rechtsquellen im engeren Sinne und solche im weiteren Sinne zumindest durch ein unterschiedliches Maß an Bindungswirkung – möglicherweise sogar durch die Existenz einer Bindungswirkung – unterscheiden. Eine Abstufung der Normativität liegt auch derjenigen Klassifikation zugrunde, die zwischen Rechtsquellen (i.e.S.) und bloßen Rechtserkenntnisquellen trennt[3] und die vor allem im Bereich des Europäischen Rechts zum Tragen kommt (vgl. dazu unten Rn. 21). Rechtserkenntnisquellen umfassen zwar nicht sämtliche Rechtsquellen im soziologischen Sinne, da diese auch ökonomische und politische Entscheidungsbeeinflussungen implizieren können. Allerdings gibt es durchaus Überschneidungen, denn die Rechtserkenntnisquellen und die Rechtsquellen im soziologischen Sinne erfassen beide auch juristische Hilfsmittel zur Auslegung und Anwendung rechtlicher Normen (wie z.B. die wissenschaftliche Literatur oder eine gefestigte Rechtsprechung).[4]

II. Übersicht

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Eine Darstellung der Rechtsquellen des Strafverfahrensrechts hat jedenfalls Rechtsquellen im engeren Sinne (u.a. das Verfassungsrecht und die formellen Gesetze) einzubeziehen. Hierfür spricht bereits der Umstand, dass die Rechtsanwendung im Bereich des Strafverfahrensrechts jedenfalls[5] dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt unterliegt.[6] Allerdings sollen im Folgenden weitere rechtliche Aspekte, die die Entscheidungsprozesse beeinflussen, nicht von vornherein ausgeblendet werden. Legt man hier deshalb ein Verständnis zugrunde, das auch Rechtserkenntnisquellen umfassen kann, so sind neben dem Verfassungsrecht (dazu B, Rn. 4 ff.) und den formellen Gesetzen (dazu C, Rn. 8 ff.) vor allem auch europarechtliche Normen (dazu D, Rn. 45 ff.), Verwaltungsvorschriften (dazu E, Rn. 57 ff.) und schließlich das Richterrecht (dazu F, Rn. 65 ff.) zu berücksichtigen. Insbesondere in den drei zuletzt genannten Normbereichen wird die Frage der Einordnung als Rechtsquelle oder als Rechtserkenntnisquelle näher zu beleuchten sein – ein Aspekt, der unter anderem mit der Frage der Bindungswirkung gegenüber dem jeweiligen Rechtsanwender zusammenhängt.

B. Verfassungsrecht

I. Grundgesetz (GG)

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Das Grundgesetz[7] besitzt in mehrfacher Hinsicht strafverfahrensrechtliche Bedeutung[8]: Allgemein begründen die in Art. 1–18, Art. 19 Abs. 4 und Art. 104 GG normierten Grundrechte einen Zulässigkeitsmaßstab für strafverfahrensrechtliche Eingriffe, so etwa für strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen.[9] Bei Fragen der Gerichtsverfassung sind unter anderem die Gewährleistungen des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zu berücksichtigen.[10] Strafverfahrensrechtliche Bedeutung können auch die sonstigen Verfassungsbestimmungen über die Rechtsprechung (Art. 92 ff. GG) – insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)[11] oder der Grundsatz ‚ne bis in idem‘ (Art. 103 Abs. 3 GG)[12] – entfalten.[13]

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Darüber hinaus lassen sich verschiedene strafprozessuale Rechte, Prinzipien und Institute nennen, die nicht explizit einfachgesetzlich normiert sind, die jedoch aus den verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes abgeleitet werden:



Vor dem Hintergrund dieser mannigfaltigen strafverfahrensrechtlichen Bedeutung des Grundgesetzes wird das Strafprozess- bzw. Strafverfahrensrecht zutreffend als konkretisiertes[20] oder angewandtes[21] Verfassungsrecht charakterisiert.

II. Landesverfassungsrecht

1. Regelungen

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Auch in einigen Landesverfassungen finden sich spezifisch strafverfahrensrechtliche Bestimmungen.[22] Zu nennen sind etwa folgende Regelungen:



2. Geltung

7

 

Wie sich aus Art. 142 GG herleiten[33] lässt, bleiben die eben genannten Landesbestimmungen auch unter der Geltung des Grundgesetzes insoweit in Kraft, als sie mit den (mittels Verfassungsbeschwerde geltend zu machenden) Grundrechten und grundrechtsgleichen Gewährleistungen des Grundgesetzes übereinstimmen. Dies kann unter Umständen auch dann der Fall sein, wenn der Schutzbereich eines Landesgrundrechts über denjenigen des entsprechenden Bundesgrundrechts hinausgeht.[34] Allerdings ändert die durch Art. 142 GG angeordnete Weitergeltung der betreffenden Landesbestimmungen nichts daran, dass derartige Regelungen gegenüber dem einfachen Bundesrecht nachrangig sind[35] (Art. 31 GG[36]). Ein landesverfassungsrechtliches Grundrecht, das über die Rechtsgewährungen des Grundgesetzes hinausgeht, entfaltet demnach jedenfalls keine Bindungswirkung für den einfachen Bundesgesetzgeber.[37]

C. Formelle Gesetze

I. Gesetzgebungskompetenz

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Hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz ist zwischen dem Strafverfahrensrecht i.e.S. (Rn. 9 f.) und dem Strafvollzugsrecht (Rn. 11) zu unterscheiden.

1. Strafverfahrensrecht i.e.S.

a) Konkurrierende Gesetzgebung

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Das Strafverfahrensrecht i.e.S. fällt grundsätzlich in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung.[38] Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG spricht zwar nicht explizit vom Strafverfahrensrecht (oder vom Strafprozessrecht), nennt jedoch „die Gerichtsverfassung“ und „das gerichtliche Verfahren (ohne das Recht des Untersuchungshaftvollzugs)“. Da das gerichtliche Verfahren in diesem Sinne auch das „unmittelbare Vorfeld des gerichtlichen Verfahrens“ implizieren soll[39], erfasst die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG auch das strafprozessuale Ermittlungsverfahren.[40] Ebenso fallen die Regelungen zur Strafvollstreckung (als Ausprägung des gerichtlichen Verfahrens) und zu den Vollstreckungsorganen (als Bestandteil der Gerichtsverfassung) unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.[41]

b) Landesrechtliche Regelungsbereiche

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Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Legislativbefugnis allgemein nur, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht Gebrauch gemacht hat (Art. 72 GG). Tatsächlich ist das Strafverfahrensrecht jedoch überwiegend bundesgesetzlich geregelt.[42] Eine landesrechtliche Legislativbefugnis bleibt in diesem Bereich nur bestehen, soweit die bundesrechtlichen Regelungen nicht abschließend sind.[43] Ein Beispiel für eine solche fehlende Abgeschlossenheit bilden etwa die folgenden Öffnungsklauseln, Regelungsvorbehalte bzw. Ermächtigungen[44]:


§ 9 EGGVG, der unter anderem normiert, dass die zur Zuständigkeit der Oberlandesgerichte gehörenden Entscheidungen in Strafsachen in einem Bundesland, in dem mehrere Oberlandesgerichte existieren, durch Landesrecht einem der Oberlandesgerichte oder dem Obersten Landesgericht zugewiesen werden können.
§ 6 Abs. 2 Nr. 2 EGStPO, der die Landeskompetenz aufrechterhält, das Verfahren bei Zuwiderhandlungen gegen bestimmte Vorschriften über die Erhebung öffentlicher Abgaben und Gefälle gesetzlich zu regeln.

Eine landesrechtliche Legislativbefugnis ergibt sich zudem aus §§ 58 Abs. 1, 74d Abs. 1, 78 Abs. 1, 121 Abs. 3[54], 153 Abs. 4 S. 1 GVG und aus § 10 Abs. 1 EGGVG.

2. Strafvollzugsrecht

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Einen Sonderfall bildet das Strafvollzugsrecht, das allerdings überwiegend nicht zum Strafverfahrensrecht i.e.S., teilweise aber zum Strafverfahrensrecht i.w.S. gerechnet wird.[55] Das Strafvollzugsrecht wurde im Zuge der Föderalismusreform 2006 aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gestrichen[56], sodass die Gesetzgebungskompetenz für diese Materie mittlerweile bei den Ländern liegt.[57] Art. 125a Abs. 1 GG sieht hierzu ein Übergangsregelung vor, wonach das Bundesrecht so lange fortbesteht, bis es durch Landesrecht ersetzt wird. Das zum Strafvollzugsrecht Gesagte gilt für die Rechtsmaterie des Untersuchungshaftvollzugs[58] entsprechend.[59]

II. Katalog gesetzlicher Rechtsquellen

1. Zentrale Rechtsquellen

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Zentrale gesetzliche Rechtsquellen des Strafverfahrensrechts sind die Strafprozessordnung (Rn. 13 f.) und das Einführungsgesetz hierzu (Rn. 15), die Europäische Menschenrechtskonvention (Rn. 16 ff.), der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Rn. 22), das Gerichtsverfassungsgesetz (Rn. 23) sowie das entsprechende Einführungsgesetz (Rn. 24) und schließlich das Strafgesetzbuch (Rn. 25 ff.).

a) Strafprozessordnung (StPO)

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Die StPO[60] ist die bedeutsamste Rechtsquelle des Strafverfahrensrechts. Das Gesetz ist in acht Bücher unterteilt, deren Systematik jedoch verbesserungsbedürftig ist.[61] Regelungsgegenstände der StPO sind unter anderem:


Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen (§§ 22 ff. StPO).
Fristen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§§ 42 ff. StPO).
Zeugenbeweis (§§ 48 ff. StPO), Sachverständigenbeweis (§§ 72 ff. StPO), Augenscheinsbeweis (§§ 86 ff. StPO), Urkundenbeweis (§§ 249 ff. StPO).
Ermittlungs- und Zwangsmaßnahmen (§§ 94 ff. StPO).
Verteidigung (§§ 137 ff. StPO).
Ablauf des Strafverfahrens in erster Instanz (§§ 151 ff. StPO).
Rechtsmittel (§§ 296 ff. StPO).
Wiederaufnahmeverfahren (§§ 359 ff. StPO).
Beteiligung des Verletzten im Strafverfahren (§§ 374 ff. StPO).
Besondere Strafverfahrensarten (§§ 407 ff. StPO), wie z.B. Strafbefehlsverfahren, Beschleunigtes Verfahren.
Strafvollstreckung (§§ 449 ff. StPO).
Kosten des Strafverfahrens (§§ 464 ff. StPO).
Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht (§§ 474 ff. StPO).

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An einigen Stellen verweist die StPO auch auf andere gesetzliche Rechtsquellen: So normiert etwa § 1 StPO, dass die sachliche Zuständigkeit der Gerichte durch das GVG[63] bestimmt wird. Verschiedentlich werden auch die Regelungen der ZPO[64] in Bezug genommen, so etwa in § 37 StPO (hinsichtlich des Verfahrens bei Zustellungen), in § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO (zur Bestimmung der notwendigen Auslagen eines Beteiligten) und in § 464b StPO (bezüglich der Kostenfestsetzung).[65] Eine Konkretisierung der StPO findet sich in der Verwaltungsvorschrift RiStBV (vgl. hierzu unten Rn. 58 ff.).

b) Einführungsgesetz zur Strafprozessordnung (EGStPO)

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Das EGStPO[66] normiert unter anderem den sachlichen Anwendungsbereich der Strafprozessordnung (§ 3 EGStPO)[67] und Mitteilungspflichten bei Strafverfahren gegen Parlamentsabgeordnete (§ 8 EGStPO).[68] Darüber hinaus enthalten die §§ 11–13 EGStPO Übergangsregelungen, die für bestimmte Gesetzesänderungen gelten.

c) Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)

aa) Rechtsnatur und innerstaatliche Geltung

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Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag[69], der im Jahre 1950 von den Regierungen der Mitgliedstaaten des Europarates unterzeichnet wurde und der 1953 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten ist.[70] Gemäß Art. 1 EMRK ist die Bundesrepublik verpflichtet, allen ihrer Jurisdiktion unterstehenden Personen die in Art. 2–18 EMRK niedergelegten Rechte und Freiheiten zuzusichern.[71] Mittlerweile wurde die EMRK durch diverse Zusatzprotokolle ergänzt bzw. modifiziert.[72]

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Innerhalb der Bundesrepublik steht die EMRK prinzipiell im Rang eines einfachen Bundesgesetzes[73] (Art. 59 Abs. 2 GG).[74] Allerdings lässt sich aus einer Gesamtschau der Präambel[75] und verschiedener Vorschriften des Grundgesetzes[76] das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung herleiten.[77] Im Hinblick auf die EMRK folgt hieraus das grundsätzliche Gebot einer konventionsfreundlichen Auslegung deutschen Rechts.[78] Der Bundesgerichtshof konkretisiert dies dahin gehend, dass die „Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den EGMR […] bei der Anwendung des deutschen Strafprozessrechts zu berücksichtigen“ ist.[79] Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beeinflussen die Gewährleistungen der EMRK sowie die Rechtsprechung des EGMR auch die Auslegung der Grundrechte und rechtstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes, sofern dies nicht zu einer Beschränkung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt.[80] In der Görgülü-Entscheidung aus dem Jahre 2004 stellte das Bundesverfassungsgericht präzisierend fest: „Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des […] [EGMR] als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische ‚Vollstreckung‘ können […] gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen“.[81] Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung wird in der Literatur nachvollziehbar von einem faktisch gegebenen „‚weichen‘ Vorrang der EMRK vor deutschem Verfassungsrecht“[82] gesprochen.