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Armin Thurnher

Seinesgleichen

Politische Kommentare aus dem FALTER 1998-2018

FALTER VERLAG

© 2019 Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.

1011 Wien, Marc-Aurel-Straße 9

T: +43/1/536 60-0, E: bv@falter.at, W: www.falter.at

Alle Rechte vorbehalten. Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub: 978-3-85439-652-9

ISBN Kindle: 978-3-85439-645-1

ISBN Printausgabe: 978-3-85439-628-4

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2019

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Teil I

Bis zur Wende

Teil II

Eine Wende und die Folgen

Teil III

Die rot-schwarze Hängepartie

Teil IV

Endspiel und erneute Wende

Namensregister

Über den Autor

Endnoten

Vorwort

„Seinesgleichen geschieht“ heißt eine Kolumne, die unter diesem Titel seit 1983 in der Wiener Wochenzeitung Falter erscheint. Der Titel ist von Robert Musil entlehnt, aus „Der Mann ohne Eigenschaften“, dem österreichischen Roman schlechthin. Er spielt darauf an, dass alles, was geschieht, eben geschieht. Und darauf, dass man meint, alles, was geschieht, schon einmal gelesen zu haben. In der Tat könnte man manches vor 18 Jahren Geschriebene mit geänderten Namen heute wieder veröffentlichen.

Die vorliegende Auswahl beschränkt sich auf die beiden österreichischen Wendezeiten, also auf die Vorbereitung der ersten blau-schwarzen Koalition im Jahr 2000 bis zu deren Scheitern. Das rot-schwarze Zwischenspiel erwies sich nur als Vorbereitung auf die zweite, weitaus besser vorbereitete Wende 2017. Weitgehend ausgeblendet bleiben internationale Themen, Europa, Sport, Kultur und Polemik, mit denen sich die Kolumne ebenfalls auseinandersetzt.

Obwohl vom Herausgeber des Falter geschrieben, ist „Seinesgleichen geschieht“ kein Leitartikel, der das Programm der Zeitung Falter vorgäbe. Ebenso wenig ist die Kolumne eine private Äußerung oder gar ein Hobby. Sie ist vielmehr der Versuch, öffentlich selbst zu denken und dieses Denken literarisch zu formulieren. Getreu der Einsicht, dass der beste Inhalt, unangemessen ausgedrückt, die Sache verfehlt.

Der österreichische Kommandojournalismus kümmert sich weder um Form noch um Fakten, ihm liegt vor allem am ökonomischen Wohl der jeweiligen Herausgeber. Diese Kolumne ist ein Manifest gegen solchen dienstfertigen Journalismus. Sie kritisierte ihn von Anfang an. „Seinesgleichen geschieht“ setzte sich die Wiedergeburt der Medienkritik zum Ziel, allerdings ohne die Absicht, Öffentlichkeit zu zerstören, wie es das Kampfwort „Lügenpresse“ beabsichtigt. Vielmehr möchte die hier geübte Journalismuskritik Öffentlichkeit retten oder wiederherstellen.

Die Medienkritik von „Seinesgleichen geschieht“ tritt in dieser Auswahl weitgehend zugunsten von Zeitgeschichte zurück. Von 1994 bis 2014 endete die Kolumne mit dem Satz „Im Übrigen bin ich der Meinung, die Mediaprint muss zerschlagen werden“. Er richtete sich gegen das wider jedes Kartellrecht zustande gekommene Oligopol von Kronen Zeitung und Kurier, und später, in der Formulierung „Mediamil-Komplex“, gegen die Fusion von Mediaprint und News-Gruppe.

Dieser „letzte Satz“ machte den Verfasser bekannt als „den Mann, der sich so etwas zu schreiben traut“. Den Rest brauchte man nicht mehr zu lesen. Damit war der Satz von einer Widerstandsgeste zu einem Markenzeichen von Einverständnis geworden. Zudem lenkte er ab von neuen Kommunikationsverhältnissen. Die digitale Sphäre, von vielen als egalitäres demokratisches Eldorado begrüßt, erwies sich mit Datenextraktion und Verhaltensüberschuss als die Vorhölle von etwas, das man digitalen Totalitarismus nennen könnte. Mit dieser Gefahr lässt sich die lähmende Wirkung eines nach wie vor bestehenden österreichischen Print-Oligopols nicht vergleichen.

Die Texte wurden, wenn überhaupt, nur geringfügig verändert und mit kurzen erklärenden Einleitungen, Fußnoten und einem Namensregister versehen.

Armin Thurnher

Wien, Jänner 2019

Teil I 1998 bis zur Wende
Viktor Klimas letzter Satz

Oktober 1998: Im Burgtheater präsentierten die Gebrüder Fellner1 ein neues Magazin: Format. Bundeskanzler Viktor Klima2 (SPÖ) assistierte.

Neulich, im Burgtheater, bei der Präsentation des neuen Nachrichtenmagazins Format. Der Kanzler stand auf dem Podium, sprach den Satz „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam“ und fügte hinzu, er finde das Zerschlagen nicht so gut, ihm seinerseits gefielen die Fellners, die seien mehr fürs Aufbauen. Ich verstand sofort, merkte aber gleich, dass Umstehende und Freunde unsicher über die Bedeutung dessen waren, was sie gerade gehört hatten.

Die erste Bedeutung war leicht zu kapieren. Der Kanzler sprach auf einem Medien-Fest. Das gehört zu jenen Sitten und Gebräuchen der Alpenrepublik, die man anderswo nicht versteht. Hier glaubt man, nur mit den Medien gemeinsam regieren zu können, weil man hier alles nur mit allen gemeinsam machen kann (außer mit dem einen, dessen Ablehnung aber ebenfalls wieder allen anderen gemeinsam ist3). Dass der abgewählte Helmut Kohl4 zum Beispiel seine Spiegel-Feindschaft bis zuletzt pflegte, hat ihm bei seiner Wählerschaft nicht geschadet; im Gegenteil, es hat ihm Kontur verliehen. Hierzulande hingegen werden bereits Präsentationen neuer Produkte von den Polit-Medienakteuren zelebriert wie Staatsakte, für die vorzugsweise Staatstheater zur Verfügung gestellt werden. Die zweite Bedeutung: Der Kanzler kanzelte mich ab. Wirklich? Das hätte vorausgesetzt, ich meinerseits wäre fürs Zerschlagen im Sinne von Zerstören. Mein nunmehr staatsaktfähiger letzter Satz geht aber bekanntlich darauf aus, dass durch gesellschaftsrechtlich korrektes Zerlegen (=Zerschlagen) eines in Österreich übermächtigen Medienverbundes Bedingungen eines fairen Wettbewerbs für alle anderen Marktteilnehmer hergestellt werden.

Ein Schelm, der beim Wort „zerschlagen“ anderes denkt. Der letzte Satz ist eine Forderung für faire mediale Wettbewerbs-Rahmenbedingungen. Mehr als einmal hatte ich die Ehre, dies hier klarzustellen und das staatliche Gewaltmonopol in Erinnerung zu rufen. Denkt man die Sache zu Ende, hat mich Klima in Wirklichkeit durch die Zitierung nicht nur hervorgehoben, sondern sogar bestärkt. In der Folge sagte er zum Beispiel: „Wettbewerb ist etwas, das Österreich verstärkt braucht, auch im Bereich der Medien!“

D’accord, darum geht’s. Realistisch betrachtet, geht es nur mehr darum, gleiche Bedingungen für den Wettbewerb deutscher Medien im Protektorat Österreich herzustellen. Österreichische Medien wird es im Printbereich kurzfristig, im elektronischen mittelfristig nicht mehr geben. In zweiter Linie wird es darum gehen, dem österreichischen Personal eine faire Mitsprachechance zu sichern (obwohl man sich um Medienösterreicher unter Deutschen angeblich wenig Sorgen machen muss). Drittens wird es Weltmarktbedingungen brauchen, damit internationales Medienkapital gegen deutsches antreten kann. Guten Morgen, Herr Gates5. Guten Morgen, Herr Murdoch6.

Ganz kurz habe ich den Satz des Lateiners Klima noch weitergedacht. Zerstören wollte der alte Cato Karthago. Warum wollte er das? Weil sich Rom von aufstrebenden, annähernd gleich starken Stadtstaaten im Mittelmeerraum bedroht sah: In Italien von Capua und Tarent, in Afrika vom aggressiven Karthago. Mit der karthagischen Macht wurden die anderen beiden Städte in einem Aufwischen weggefegt, ihre Bürger versklavt, ihr Eigentum verteilt. Die Basis des römische Weltreichs entstand auf den Trümmern dreier Städte. Zerstören ist Aufbauen.

Klima hielt also ein Plädoyer für Karthago, für den Mut, etwas Neues entstehen zu lassen, Elefanten über die Alpen zu schicken. Hannibal Klima? Das hieße doch: Cato ist Dichand7, die Mediaprint Rom. Der Kanzler hat gar nicht mich gemeint. Vielmehr rief er Cato zu, er solle seine aufstrebenden Konkurrenten nicht ruinieren! Er solle ablassen von seinem destruktiven Weltmachtstreben! In Wahrheit hat der Kanzler die Mediaprint kritisiert. Für diesen Mut ist ihm zu danken.

Er kann ja ernsthaft weder den Falter noch mich gemeint haben. Wir bauen schließlich selber auf. In unserer beharrlichen kontinuierlichen Weise haben wir es mit null Anfangskapital zu einem Verlag gebracht, der fünfzig Arbeitsplätze schafft und heuer hundert Millionen Schilling umsetzt; mit Zerschlagen allein wäre das schwerlich gegangen. Es stärkt uns aber sicher und ermuntert uns in unserer weiteren Arbeit, dass sich das offizielle Österreich hinter uns stellt!

In diesem Zusammenhang noch eine Anmerkung. Aus der Debatte um die Dummheit von Regierenden habe ich mich herausgehalten. Nun ist es Zeit für eine kleine Fußnote. Vor kurzem fand ich folgenden Satz von Goethe: „Es sind nur wenige, die den Sinn haben und zugleich zur Tat fähig sind. Der Sinn erweitert, aber lähmt, die Tat belebt, aber beschränkt.“ In der Tat! Je sensibler, kunstsinniger, empfindlicher einer ist, desto schwerer wird er sich tun, seinen Machersinn geradlinig zum Zug kommen zu lassen. Tatmenschen müssen zumindest in dem Sinn dumm sein, als sie bei ihren Taten den Feinsinn ausblenden, um den Barbaren in sich handeln lassen zu können. Melancholisches Grübeln, saturnisches Zögern gehen mit Zupacken, mit Machen schwer zusammen.

Es wäre ein Missverständnis, Tatmenschen deswegen für dumm zu halten: Sie folgen nicht ihrem Kunst-, sondern ihrem Machtsinn und könnten von ihrem Standpunkt aus mit gutem Recht jeden Künstler dumm nennen, was sie sich aus purer Machtintelligenz aber nicht gestatten. Genau diese Machtintelligenz blitzte in Klimas karthagisch-kathartischem Statement auf. Im Übrigen bin ich der Meinung, die Mediaprint muss zerschlagen werden.

Falter 41/98 vom 7.10.1998

Dr. Haiders Pressestunde

April 1999: Der Erfolg des FPÖ-Chefs Jörg Haider8 scheint unaufhaltsam. In einer ORF-„Pressestunde“ präsentierte er sich als kommender Machthaber.

Jetzt ist der Mann also Landeshauptmann von Kärnten und wird es bleiben. Sagt er. Niemand glaubt es ihm auch nur eine Sekunde lang. Denn es ist längst egal, was Haider sagt. Er hat schon so viel gesagt. So viel gesagt, was dem von ihm anderswo Gesagten widerspricht, dass es seine Gesprächspartner nicht einmal mehr der Mühe wert finden, es ihm vorzuhalten. Und wenn er einen Notariatsakt anlegte, dass er nichts mehr werden will: desto schlimmer für die Notare.

Was man über ihn sagt, hat also nie den Charakter einer Bilanz, höchstens den eines Zwischenresümees. Zu oft wurde er verabschiedet, zu oft ist er wieder aufgetaucht. Eines wird bei seinem Aufstieg gern übersehen: Nicht Haider ist in die Mitte der Gesellschaft gerückt, die gesellschaftlichen Koordinaten haben sich nach rechts verschoben. Nicht dass er sich gemäßigt hätte und jetzt kein Faschist mehr wäre. Nein, er hat sich modernisiert, und die Politik ist so weit nach rechts gedriftet, dass ihr auch moderne Faschisten in höchsten Ämtern kein Skandal mehr sind. Desto schlimmer für die Politik.

Die Politik, nicht die Gesellschaft ist nach rechts gerückt. „Die Gesellschaft“ gibt es sowieso nicht, höchstens Teilöffentlichkeiten. Wenn es so etwas wie gemeinschaftliche Einstellungen gibt, dann eher auf der Ebene von Reflex und Gespür und von Gefühlen. Das Feingefühl einer Gesellschaft beurteilt die Glaubwürdigkeit, die Intensität der politischen Leidenschaft eines Politikers ganz genau; was der dann will, ist sekundär. Haider will etwas. Das spüren die Leute und das billigen sie, denn sie sind der politischen Routineakte müde. Dass Haider die Macht will und die Demokratie gerade noch als Mittel gelten lässt, diesen Zweck zu erreichen, kümmert sie nicht. Desto schlimmer für die Demokratie.

Wo sind sie, ihre leidenschaftlichen Verteidiger? Sie haben sich in Kaninchen verwandelt, die in der „Pressestunde“ sitzen oder „Pressestunde“ schauen. Dort drin sitzt der Doktorhaider und tut so, als wäre er ein Staatsmann, nur weil er ein Hauptmann geworden ist. Was er tut und was er sagt, waren aber immer schon zwei Paar Schuhe: „Wir werden“, sagt er, „ihnen zeigen, wie man Wohnbaupolitik macht! Die Roten haben fünfzig Jahre lang Wohnbaupolitik gemacht, dann haben sie das Wohnbauressort fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.“ Sie sitzen und sie sagen nicht: Aber in Niederösterreich, da hat die FPÖ doch schon gezeigt, wie man Wohnbaupolitik macht, unter Ihrem Bundesvorsitz, Herr Doktor Haider! Erinnern Sie sich noch an Herrn Rosenstingl?9 Haben nicht Sie diesen Herrn und andere Fürsten der Wohnbaupolitik fallen lassen wie eine heiße Kartoffel?

Niemand sagt es. Desto schlimmer für die Journalisten.

Der Doktor Haider kündigt noch vieles an. Er pfeift zwar auf die EU, wird aber alle EU-Mechanismen nützen, um den Bund zur Raison zu bringen. Überhaupt alle demokratischen Mechanismen. Es gebe nämlich, erklärt Doktor Haider, ein einfaches demokratisches Prinzip in der EU: „Ober sticht Unter.“ Und das gefällt ihm, denn er ist jetzt Ober. Und wenn er wo mal Unter ist, dann erklärt er sich einfach zum Trumpf. Dann sticht halt Unter Ober. So sind sie, das Leben, das Kartenspiel und die Politik.

Und, wie gesagt, die Demokratie. Medien, heißt es, gehören auch dazu. Manche bekommen Presseförderung, damit sie ihr demokratisches Geschäft, die Bürgerschaft unabhängig zu informieren, besser erfüllen können. Daran kann man vieles kritisieren, dass hier die Falschen und auch die Reichen gefördert werden, dass nur Tageszeitungen viel Geld kriegen und so weiter. Doktor Haider sieht das pragmatischer. „Wenn Medien den Kinderscheck“ - sein teures Wahlzuckerl - „nicht unterstützen, werden wir uns bei der Presseförderung etwas einfallen lassen! Sie können ruhig gegen mich schreiben, aber sie brauchen nicht Mittel meines Landes dafür zu verwenden.“ Wer zahlt, schafft an. Dagegen immerhin meldete ein Diskutant, Profil-Chef Christian Rainer, Widerspruch an. Da wurde Haider deutlich. Er halte es für falsch, dass Bundeskanzler und Landeshauptmann „in die Redaktionsstuben hineinfördern“. Vor allem, wenn sie nichts herausbekommen. Lieber rede er, Haider, über Arbeitsplatzförderung. Und er halte es für „obszön, wenn Journalisten 250.000 Schilling verdienen und Kindern 5000 Schilling vorenthalten werden sollen“.

Abgesehen davon, dass Haider selbst obszön viel verdient und obszön viel davon der Steuer und damit den Kindern vorenthält, abgesehen davon, dass die Idee, statt Presseförderung Arbeitsplatzförderung zu setzen, nur den Konzernen nützen würde, abgesehen von der demagogischen Gesamtsauerei habe ich einen derart unverschämten Angriff auf die Meinungsfreiheit in Österreich noch nicht gehört.

Dass Haider dann der Frage, ob sich Milošević10 mit Hitler vergleichen lasse, auswich, verstand sich fast von selbst. Sich von Hitler öffentlich zu distanzieren ist nicht seine Sache. Da sind andere berufen. Schließlich hatte der Mann auch seine guten Seiten: Beschäftigungspolitik, Presseordnung, Autobahnen, Winterhilfswerk, Kinderscheck …

Den Kinderscheck nehme ich zurück. „Jeder ist historisch einmalig“, sagte Doktor Haider, und ich schließe mich ihm an. Als ich nach dieser „Pressestunde“ mit Freunden darüber redete, fanden sie, Haider habe „Kreide gefressen“. Da musste ich doch etwas schlucken. Die Wahrnehmung und die Sache sind zwei Paar Schuhe, aber wenn die erste versagt, geht auch die zweite drauf. Dennoch sage ich allen Mitwirkenden für diesmal herzlichen Dank, auch Ihnen, lieber Leserinnen und Leser, fürs Dabeisein, leider ist Ihre Lesezeit jetzt um. Im Übrigen bin ich der Meinung, die Mediaprint muss zerschlagen werden.

Falter 15/99 vom 14.4.1999

Land der Rutsche

Sommer 1999. Es riecht so stark nach Machtwechsel in Österreich, dass das Land selbst in Bewegung zu kommen scheint. Die Berge geraten ins Rutschen.

Ist es wirklich erst ein Jahr her, dass sich die steirische Erde öffnete und elf Bergleute verschlang? Dass die Luftblase Gottes angebohrt wurde, darin der Bergmann Hainzl11 saß, zehn Tage jausenlos im Jausenraum überlebend? Ist es wirklich erst ein halbes Jahr her, dass in Galtür die Lawinen niedergingen und ein halbes Dorf begruben? Dass von den Überlebenden die Hälfte News12-Abonnenten waren, die am Handy Auskunft über die Katastrophe gaben? Leckt nicht noch immer der Bodensee hoch an seinen Ufern? Und jetzt Schwaz.

Ist ja nichts passiert, sagen Sie. Alles rechtzeitig evakuiert. Gefahr erkannt, tausend Kubikmeter Gestein vom Eiblschrofen abgestürzt, aber in eine Schneise gepoltert, die am bewohnten Gebiet vorbeiführte. Krisenstab einberufen. Bergrettung ausgeschickt. Landesgeologe mit Hubschrauber aufgestiegen. Keine weitere Gefahr. Bürgermeister untersagt weiteren Abbau von Dolomitgestein … Aha – Abbau! Der Mensch hat den Eiblschrofen durchlöchert, wie er auch den Lassinger Talk untergraben hat; so weit wäre alles klar. Unser prometheischer Übermut wieder einmal. Nur die Galtürer Lawinen hat er nicht ausgelöst, nicht einmal mit dem umfassenden ökokatastrophischen Verdacht erklären wir die ausreichend.

Ich aber sage euch: Lasst euch weder einlullen von denen, die da sagen, der Mensch war es oder gar der Minister ist schuld, noch von denen, die da mahnen „Risikogesellschaft“ oder: „Wer sich unter den Schrofen begibt, kommt darin um.“ Lasst euch nicht beruhigen! Vielleicht geht etwas ganz anderes vor sich: Österreich rutscht weg. Ende der Neunzigerjahre haben wir keine gesellschaftlichen Skandale mehr, oder wir merken es nicht, weil sie Allgemeingut aller Parteien geworden sind.

Die gesellschaftliche Normalisierung hat gegriffen, bald werden wir merken, dass wir Europäer sind, es wird keine zehn Jahre mehr dauern, dass wir uns von liebgewonnenen Eigenheiten verabschieden. Noch spüren wir bloß halbbewusst, dass etwas rutscht, noch klammern wir uns an Sozialpartnerschaft und Neutralität, an Selbstmordrate und Schilling. Damit ist bald Schluss. Dafür haben wir Naturkatastrophen. Sie gewöhnen uns an einen gleitenden Zustand.

Mehr Mobilität ist angesagt. Wenn schon die Wirtschaftsmächte nur als Naturmächte erscheinen, es aber nicht sind, so können uns Naturkatastrophen doch zumindest auf Änderungen im verfestigten Befinden einstimmen: einbrechende Wiesen, die sich in klaffende Grundwasserseen verwandeln und Menschen und Häuser schlucken. Zu Tal brausende Schneemassen, die hinstürzen, wo sie noch niemals hingestürzt waren. Hochwässer, die das Land überspülen. Abbrechende Gesteinsmassen, sich öffnende Felsspalten, Berge in Bewegung …

„Wo ist die Behörde?“, rufen empört die Österreicher, die auch noch über die Apokalypse eine Dienstaufsichtsbeschwerde verfassen würden. Eine schwache, aber erprobte Reaktion: Immer sind die Bürokraten schuld. Sie enthalten dem Bürgermeister die Pläne vor, den geologischen Fachmann fordern sie nicht an, den ausländischen Experten schätzten sie gering. Es musste erst Fels stürzen, dass denen jemand zugehört hat.

In Lassing haben sie uns auch im Stich gelassen, noch immer sind die Bergleute nicht geborgen, erst nach den nächsten Wahlen werden sie uns die Wahrheit sagen. Was sind die Skandale am Ende der Achtzigerjahre gegen die Katastrophen der ausgehenden Neunzigerjahre? Damals ging es der Nachkriegszeit an den Kragen, unter Verwerfungen verabschiedete sich eine Epoche. Von AKH bis Noricum, von Glykol bis Lucona, von VÖEST bis Frischenschlager-Reder13 begann der lange Abschied vom Zweiparteienstaat.

Udo Proksch14 wurde verurteilt, Minister erschossen sich oder traten zurück. Illegale Kanonenexporte, Steuerskandälchen, Kleinkorruption und dazu noch Kurt Waldheim15, der katastrophische Wendepunkt der Zeitgeschichte – das war’s mit den Achtzigern. Das konnte man sich erklären. Ein Land wollte zu sich kommen, nicht übermäßig korrupt sein, sich seiner Geschichte stellen. Damit konnte man leben, das alles ließ sich bewältigen und wurde bewältigt.

Aber die Berge, die Böden und die Gewässer, die sind schon etwas anderes. Vor allem, weil sich dieses Land ja nicht über seine politische Öffentlichkeit und schon gar nicht über sein Bewusstsein von Zeitgeschichte definiert, sondern über seine Landschaft. „Das Gebirge ist gegen die Menschen“ (Thomas Bernhard), aber die Menschen sind für das Gebirge. Im sogenannten Symbolhaushalt der Österreicher steht die Landschaft an erster Stelle, und innerlandschaftlich halten – man möchte sagen, naturgemäß – die Berge die Spitze.

Wir Österreicher halten an unseren Bergen fest und besteigen sie, wie wir wollen. Berge sind Kultstätten, Begräbnisstätten, Fotolocations für Politiker und Stätten des Fremdenverkehrs. Dass nun dem fleißigen Völkchen davonrutscht, was es am meisten verehrt, ist nicht besonders gerecht. Auch der Fluss tritt über die Ufer, wenn man es am wenigsten braucht, und der liebliche Bodensee hat seine Anrainer erschöpft, indem er sie das Schöpfen lehrte. Der Berg ist in Bewegung. Kommt jetzt, weil der Prophet nicht zum Berg kommt, der Berg zum Propheten? Wer wäre dieser? Und was würde er uns prophezeien? Der Berg kommt nicht zur Ruhe. Bergbau bleibt ein Risiko, wie das Leben. Aber müssen wir dauernd daran erinnert werden? Die Anrainer artikulieren deutlich ihre Gefühle. Was ist los mit Österreich? Land der Bergrutsche? Im Übrigen bin ich der Meinung, die Mediaprint muss zerschlagen werden.

Falter 28/99 vom 14.7.1999