Das schwarze Herz

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Sechstes Kapitel

Zwei Stunden später saßen Bentheim und Krosick wieder im Büro ihres Vorgesetzten im ehemaligen Palais des Oberfeldmarschalls von Grumbkow. Gideon Horlitz ließ sich auf den aktuellen Stand der Dinge bringen. Dabei hockte er asketenhaft auf seinem Sessel, die Füße übereinandergekreuzt wie ein buddhistischer Mönch aus dem fernen, bunten Indien. Seine Rechte fuhr durch seinen Bart. Dann und wann vernahm Julius jene undefinierbaren Grunzlaute, die der Kommissar von sich zu geben pflegte, wenn er angestrengt nachdachte.

Die Minuten verstrichen, ohne dass sich Horlitz auch nur einmal zu Wort meldete. Julius beobachtete ihn insgeheim und fragte sich, was in seinem Hirn vorgehen mochte. Die Leichtigkeit, mit welcher der erfahrene Horlitz seine Schlussfolgerungen zog, überschritt den Horizont seines Denkprozesses. Bentheim blickte noch einige Zeit auf den Zettel mit den vielen Zahlen, den sie bei dem Toten gefunden hatten, bevor er entnervt den Kopf schüttelte und den Kommissar und Albrecht alleine zurückließ, um sich beim Gasthof ums Eck ein Bier und eine Brezel zu gönnen. Die beiden würden das Problem schon lösen.

30 Minuten später erwartete ihn ein ausgewechselt wirkender Kommissar. Er hatte sich eine Pfeife angezündet, deren beißenden Qualm er genussvoll inhalierte. Auch Krosick lächelte bis über beide Ohren.

»Sie haben doch nicht …?«

Gideon Horlitz nickte freudig. Fassungslos blickte Bentheim ihn an. Vollkommen ratlos, wie seine Freunde es geschafft hatten, den Code zu knacken, beugte er sich über das Papier. Noch bevor er etwas fragen konnte, hielt ihm der Kommissar ein weiteres Blatt entgegen, auf dem er in markanter Schrift seine Überlegungen notiert hatte.

»Sehen Sie, Julius, es ist doch ganz einfach. Sie müssen nur die richtigen Schlüsse aus den gegebenen Fakten ziehen, um ans Ziel zu gelangen. Cäsar, der allseits bekannte römische Feldherr, hatte zum Beispiel eine eigens für ihn entwickelte Geheimschrift, die ebenso einfach wie effektiv war: An die Stelle des A trat das D, an die Stelle des B das E und so weiter. Das nennt man gemeinhin monoalphabetische Verschlüsselung. Die alten Römer haben die Buchstaben ihres Klartextes einfach um drei Stellen verschoben. Der Name Cäsar wurde also, wenn ich mir das im Kopf so auf die Schnelle richtig zusammenreime, in seiner lateinischen Variante wie folgt geschrieben: Fdhvdu. Bei unserem Code verhält es sich ähnlich. Statt Buchstaben hat der Codierer einfach Zahlen verwendet. Eine 1 steht demnach für den ersten Buchstaben des Alphabets, das A. Die 2 steht für das B, die 3 für das C. So zieht es sich das ganze Alphabet hindurch fort. Bis hin zum Z, das der Zahl 26 entspricht.«

Bentheim wusste um die Komplexität zahlreicher mathematischer oder sprachlicher Codes. An der Friedrich-Wilhelms-Universität hatte er ein Seminar besucht, das sich mit den Kommunikationsmitteln des organisierten Verbrechens befasst hatte. Ausgefeilt und schwer zu knacken waren sie gewesen, jene Kassiber, Mordaufträge und Ganoven-Befehle, die meisten im Rotwelsch geschrieben, manche im Grypsera, einige wenige im Lotegorischen. Ihnen allen war jedoch gemein, dass man im Besitz des spezifischen Codes sein musste, um aus der Nachricht erst eine Information werden zu lassen. Dass Albrecht und Horlitz bloß ein paar Minuten für die Dechiffrierung gebraucht hatten, machte Julius sprachlos.

Der Kommissar seufzte lautstark.

»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen, mein Freund«, sprach er und hielt Julius den Zettel mit dem codierten Text entgegen. »Schauen Sie doch nur einmal die Nummer 20185661621141120 an. Sehen Sie genau hin. Nach der Acht kommt eine Fünf, gefolgt von zwei Sechsen. Stellen Sie die Acht und die Fünf zusammen, so erhalten Sie die Zahl 85. Hierzu gibt es aber keinen entsprechenden Buchstaben. Auch für die folgenden Zahlen 56, 66 und 61 gibt es keine Buchstaben, die man ihnen zuordnen könnte. Die Fünf und die beiden Sechsen müssen einzelne Zahlen sein. Womit wir schon ein wenig auflösen können: 2018eff1621141120.

Machen wir nun weiter, Julius. Am Ende dieser Verschlüsselung stehen eine Zwei und eine Null. Die Null entspricht aber keiner Zahl, da das Alphabet mit A, also 1 beginnt. Wir haben also eine 20 am Ende, ebenso am Anfang. Also können wir auch schreiben: T18eff16211411t.

Setzen wir nun für die ersten beiden Zahlen, die Eins und die Acht, ihre entsprechenden Buchstaben ein, so erhalten wir den Wortteil Taheff-, was eindeutig ein Fehler ist. Ziehen wir aber die Eins und die Acht zu einer 18 zusammen, so verschmelzen die schon vorhandenen Buchstaben zum Wortteil Treff-, was die Sache ziemlich erleichtert. Lösen wir auch noch die restlichen Zahlen auf, so kommen wir von Treff16211411t zum leicht verständlicheren Wort Treffpunkt.«

Bentheim blieb beinah die Luft weg.

»Sie sind ein Genie«, stammelte er.

Horlitz aber winkte ab und meinte bescheiden: »Genug der schmeichelnden Worte, Julius. Lassen Sie uns jetzt darangehen, das Rätsel vollständig zu lösen.«

Und so geschah es denn auch.

Die drei Ermittler saßen über dem Kryptogramm, tüftelten Buchstaben- und Zahlenkombinationen aus, bis erneut ein Wort dechiffriert war. Sie überlegten angestrengt, konzentrierten sich auf die Chiffren, die vor ihnen lagen, doch kaum war der eine so weit, eine Lösung vorzuweisen, kam ihm der andere bereits zuvor. Krosick warf einen Vorschlag ins Feld, dann wiederum Bentheim, dann wieder der Kommissar, bis sie es schließlich geschafft hatten. Gideon Horlitz atmete erleichtert auf und zündete sich aus einem Gefühl des Triumphes heraus erneut seine bereits zum zweiten Mal gestopfte Pfeife an. Vor ihnen lag des Rätsels Lösung:

Auftrag:

Töte den Diener.

Treffpunkt:

Was hat sieben Häute

und beißt alle

Menschen?

Ihre anfängliche Freude und Albrechts kindlicher Übermut schwanden sogleich, als die drei Ermittler den Inhalt des Textes erfasst hatten.

»Schon wieder ein Rätsel!«, entfuhr es Krosick zornig. »Wollen die uns zum Narren halten?«

»Keineswegs«, meinte Bentheim. »Wir müssen bildlich denken, Albrecht. Der Tote hatte also den ehrlosen Auftrag, den Kammer- und Hausdiener des verblichenen Herzogs von Gerolstein umzubringen. Nach begangener Tat hätte er sich mit einer dritten Person treffen sollen, sehr wahrscheinlich mit dem Auftraggeber des schändlichen Vorhabens.«

»Wieso hat der Mandant des Killers den Zettel nicht einfach in Klarschrift ausformuliert?«, warf Albrecht ein.

»Wahrscheinlich ist das damit zu erklären«, überlegte Horlitz, »dass pure Zahlenkombinationen bei einer Handschriftenanalyse fast keine Anhaltspunkte bieten. Wie dem auch sei … Das Rätsel ist so allgemein gestellt, dass sich die beiden Verschwörer wahrscheinlich in der näheren Umgebung verabredet hatten. Was also hat sieben Häute?«

»Eine Schlange?«, schlug Albrecht vor. »Vielleicht treffen Sie sich auf dem Gelände der alten Fasanerie?«

»Im Zoologischen Garten?«

Der Kommissar überlegte kurz, schüttelte dann aber langsam den Kopf.

Albrecht insistierte: »Weshalb keine Schlange? Sie häutet sich mehrmals und beißt alle Leute. Genau wie beschrieben.«

»Ich dachte erst auch in diese Richtung. Leider gibt es in unserem Zoo keine Schlangenterrarien. Es hat Volieren für Adler, Eulen und Raben, und gerade haben die Arbeiten für die neuen Hirschreviere begonnen, die in ein paar Monaten zur Besichtigung freigegeben werden. Nein, hier ist etwas anderes gemeint.«

Krosick und Horlitz überlegten fieberhaft, ohne auf eine adäquate Lösung zu kommen. Während sie vor sich hin grübelten, beäugte sie Julius gespannt. Mit durchdringenden Blicken sah er sie an und räusperte sich schließlich lautstark. Er, der sich schwärmerisch mit seinem Sohn abgab und in seinem Bekanntenkreis immer wieder nach Kinderliedern, lustigen Reimen und Versen suchte, kannte längst die Antwort.

»Die Lösung ist eine Zwiebel.«

Seine Augen glänzten, und er blies triumphierend den Rauch von Gideons Pfeife weg.

»Sie machen sich über mich lustig.«

»Keineswegs«, entgegnete Bentheim. »Das ist eine Scherzfrage, ein bekanntes Rätsel aus der Vorschule oder den Kinderbewahranstalten. Eine Zwiebel hat sieben Häute und beißt auch alle Menschen. Natürlich im übertragenen Sinn.«

Horlitz lachte auf.

»Und wo, bitte schön, sollen wir nun eine Zwiebel finden? Wollen Sie die Marktstände und Gemüseläden bewachen lassen, nur weil sich vielleicht der Auftraggeber in der Nähe einer Zwiebel befindet? Das ist schlicht grotesk und zudem einfach lächerlich.«

»Sie haben nicht ganz verstanden«, sagte Julius. »Ich meine sicherlich keine richtige Zwiebel. Sie müssen bildlich denken. Wo finden wir diese Gemüsepflanze, wenn nicht auf Marktständen?«

Nun ging seinen Freunden ein Licht auf.

»Natürlich! Das ist es!«, rief Albrecht aus. »Der Kirchturm der evangelischen St.-Peter-und-Paul-Kirche am Wannsee besitzt ein Zwiebeldach. Dort also wollten sich die beiden Halunken treffen.«

»Exakt! Und die Person, welche die Notiz geschrieben hat, wird uns noch vor Ort in die Fänge gehen.«

»Wie meinst du?«, fragte Albrecht überrascht. »Wir kennen den Zeitpunkt des Treffens nicht.«

»Doch, doch, das tun wir«, sprach Julius, der nun stetig selbstsicherer wurde. »Halte die Notiz gegen das Licht.«

Albrecht tat, wie ihm geheißen, streckte das Papier der flackernden Funzel ihrer Zimmerlampe entgegen und entdeckte ein kleines, aber dennoch gut sichtbares Wasserzeichen.

»Was siehst du?«

»Ich erblicke ein großes T«, gab der Fotograf zur Antwort.

»Sehr gut!«, meinte Julius. »T ist der 20. Buchstabe des Alphabets. Wir werden also unseren mysteriösen Unbekannten um die 20. Stunde in der St.-Peter-und-Paul-Kirche erwarten. Spätestens dann wird sich herausstellen, wer hinter diesen Morden steckt.«

 

Siebtes Kapitel

Eine Viertelstunde vor acht Uhr abends fanden sich Julius Bentheim und Albrecht Krosick auf Nikolskoe am Wannsee ein. In Steinwurfweite von der Kirche, die nördlich der Königsstraße zwischen der Pfaueninsel und dem Park Klein-Glienicke im Düppeler Forst gelegen war, floss die Untere Havel vorbei.

Gideon Horlitz wartete bereits auf seine zwei Gehilfen und besaß einen etwas ungeduldigen Gesichtsausdruck.

»Da sind Sie ja!«, begrüßte er sie grantig, wobei er einen demonstrativen Blick zur Turmuhr in der blau-weißen Rosette warf. Auch Bentheim sah hoch, doch die Dunkelheit machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er konnte nicht einmal die Zeiger erkennen. »Gerade rechtzeitig«, fuhr der Kommissar ungerührt fort. »Von unserer Kontaktperson ist noch nichts zu sehen, was auch gut ist. Gehen wir hinein.«

Bentheim und Krosick kamen weder zu Wort noch konnten sie ein freundliches »Guten Abend« von sich geben, so schnell hatte der Kommissar sie begrüßt und förmlich überrumpelt. Er zog sie hinter sich her, und seine schnellen Schritte zielten auf die Kirche hin, die Friedrich Wilhelm III. seiner Tochter zuliebe, der Zarin Alexandra Fjodorowna, nach dem Stil russisch-orthodoxer Gotteshäuser hatte erbauen lassen. Die Wandflächen waren glatt, einzig ein Gesims teilte den kubischen Baukörper in zwei gleich hohe Abschnitte. Der obere Teil war von Arkaden durchbrochen. Ein zierlicher Turm – der einzige Kirchturm des Gebäudes – endete nach russischem Vorbild in einer Zwiebelkuppel.

Noch im Gehen, als sie die fünf Stufen zur Eingangspforte nahmen, offenbarte der Kommissar seine Pläne: »Sie, Julius, setzen sich in eine der hintersten Reihen dieser Holzbänke und beobachten sorgfältig das Geschehen. Sie, Albrecht, machen dasselbe auf der anderen Seite, während ich mich in einen der unbenutzten Beichtstühle begebe, von wo aus ich ebenfalls eine günstige Übersicht genieße. Falls eine verdächtige Person auftaucht, knien Sie einfach nieder und täuschen ein Gebet vor. Alles andere überlassen Sie mir.«

Die Tür krachte hinter ihnen ins Schloss, einen lauten und dumpfen Nachhall hinterlassend. Ein leichtes Gefühl von Unbehagen ergriff Julius. Obgleich er weder fleißiger Kirchgänger noch gläubiger Mensch war, missfiel es ihm, hier, im Hause Gottes, auf Verbrecherjagd zu gehen und die Ruhe dieser ehrwürdigen Einrichtung zu stören. Albrecht, welcher aufrührerischen und revoltierenden Gedankengängen aus Prinzip nie abgeneigt war, blickte ihn verwundert an. Und auch Horlitz, dessen rein logisch und pragmatisch denkender Geist die Existenz höherer Mächte als jener der Naturgesetze stets infrage stellte, solange sie nicht bewiesen waren, musste das Missbehagen in Bentheims Gesicht bemerkt haben.

Sich dem Tatortzeichner zuwendend, raunte er: »Falls Gott existiert, ist es sein Wille, dass wir die Morde an dem Herzog und dem Unbekannten aufdecken, selbst wenn wir dies in seinem Hause tun sollten. Wieso auch nicht? Was spricht dagegen, der Wahrheit Tür und Tor zu öffnen?«

Julius Bentheim seufzte ergeben. Neben dem Eingang stand ein Weihwasserbecken, was ungewöhnlich war für eine evangelische Kirche, aber womöglich etwas mit dem orthodoxen Vorbild zu tun hatte. Bentheim tippte den Finger ins Nass und bekreuzigte sich, bevor er die düstere Halle durchschritt. Die Balkendecke flach, die Emporen schlicht gehalten – alles hier atmete den Hauch des Klassizismus.

Wenige Meter weiter, bei einer der hintersten Reihen, setzte sich Julius nieder, während Albrecht es ihm gleichtat und der Kommissar einen der Beichtstühle aufsuchte. Außer ihnen waren zwei weitere Personen anwesend: eine junge, einnehmend hübsche Frau, die ein schlichtes schwarzes Kleid trug und gerade dabei war, an einem Kerzenständer einige Lichter zu entfachen, sowie ein beleibter Kleriker, der gedankenverloren vorn im Chorraum kniete und zum Altar hin betete. Unter dem Saum seiner Kutte schauten die abgewetzten Sohlen seiner Hanfsandalen hervor.

In einer katholischen Kirche hätte Bentheim pro forma einen Rosenkranz hervorgezogen und ihn mechanisch zwischen den Fingern hin und her wandern lassen. Hier jedoch fehlte dieses Utensil zur perfekten Scharade. Er faltete also lediglich die Hände, ließ den Kopf ein wenig sinken und beobachtete aus den Augenwinkeln heraus den Raum. Offensichtlich war die gesuchte Person noch nicht aufgetaucht.

Nach einiger Zeit erhob sich der beleibte Ordensbruder. Er ordnete den Faltenwurf seiner Kutte und wälzte sich schwer atmend durch den Kirchgang. An den Säulengängen, welche linker und rechter Hand die Emporen hielten, waren ein paar Leuchten angebracht, die alles in dunkles Rot tauchten – ein Teufelsrot, wie Julius meinte, das eine gespenstisch-dämonische Atmosphäre hervorrief.

Er spähte dem Dicken nach, während sich bei der offenen Kniebank auch Albrecht nach ihm umblickte. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Augen, und der Tatortfotograf zuckte fragend mit den Schultern.

Wo blieb der gesuchte Mittelsmann?

Bentheim sah noch einmal in die Richtung der eleganten Dame in Schwarz – offenbar eine Witwe – und ließ dann den Blick gemächlich durch die Kirche schweifen. Falls jemand eintreten sollte, so würde das laute Ächzen der Eingangstür sein Kommen schon ankünden.

Die St.-Peter-und-Paul-Kirche war ein Ort, den man gemeinüblich mit dem Attribut »seltsam« äußerst trefflich beschreiben konnte. Ziel und Nutzung der Kirche waren zwar dieselben wie bei allen anderen Kirchen auch, doch trat sie drastisch aus der Ansammlung von Gotteshäusern hervor. Man konnte sie gar als Panoptikum für einen Kunsthistoriker ansehen. Form und Ausstattung des Bauwerks waren nur schwer in die Kategorien und Epochen der Kirchenarchitektur einzuordnen. Hauptschiff und die beiden Seitenschiffe waren theoretisch gleich hoch. Doch die Emporen, die durch tiefer gelegene Bogen miteinander verbunden waren, ließen zumindest optisch eine Dreiteilung erahnen. Ein riesiges Gewölbe schmückte das Chorhaupt, vor dem links auf vier achtkantigen Pfeilern mit korinthischen Kapitellen eine hölzerne Kanzel stand. Die über dem Altar angebrachten Fensterrosen spendeten zu wenig Licht, als dass es die vorherrschende Dunkelheit durchbrochen hätte.

Julius fragte sich gerade, wie herrlich wohl die Orgel klingen musste, die mit zehn Registern und einem Manual der berühmten Firma Turley gebaut worden war, als sich einige Bänke vor ihm etwas bewegte.

Die Frau war aufgestanden und schritt nun Richtung Ausgang. Langsam kam sie an Bentheim vorbei, und er konnte in ihren Augen eine Träne erblicken, die sie verstohlen wegwischte. Mit zitternden Händen klammerte sie sich an einer beutelartigen Pompadour-Tasche fest. Ihre Brosche, ein in einer silbernen Fassung eingelegtes Obsidian-Herz, das sie über der linken Brust an ihr Kleid geheftet hatte, reflektierte den Kerzenschein.

Armes Geschöpf, dachte Bentheim, als sie so verloren an ihm vorbeiging, um die Kirche zu verlassen. Noch immer trauerte er Filine nach, Edwins Mutter und seine der Schwindsucht erlegene Gattin, und er fühlte mit der jungen Witwe.

Wiederum ein lautes Krachen, und die Tür fiel ins Schloss.

Da hörte Bentheim den Kommissar, wie er fluchend und blaffend auf Albrecht und ihn zugeschossen kam: »Himmel! Was haben wir falsch gemacht? Eine geschlagene Stunde sind wir schon hier und haben noch immer kein Zeichen von unserem Mittelsmann. Wo bleibt der Kerl bloß, zum Teufel noch mal!«

»Gideon!«, fuhr Julius seinen Freund und Vorgesetzten an. »Wir sind in einer Kirche.«

Nur schwerlich beruhigte sich Horlitz. Dann aber vergewisserte sich der Kommissar leicht beschämt, ob nicht doch noch jemand Zeuge seines Benehmens geworden war, und atmete erleichtert auf.

Enttäuscht verließen sie die Kirche. Versonnen ging Horlitz vor Krosick und Bentheim her. Sie gingen den Pfad zum Nikolskoer Weg hoch, dem sie eine Zeit lang in einvernehmlichem Schweigen folgten. Bald darauf konnten sie einen zufällig vorbeifahrenden Dogcart heranwinken. Sie bestiegen die Kutsche und ließen sich in die Stadt fahren. Das Gefährt holperte über den Weg, bog in rasantem Tempo nach rechts um die Kurve in die Königstraße ein, wo es über die Glienicker Brücke weiterging. Schließlich ließen sie vor den ersten Patrizierhäusern halten.

Bentheim verabschiedete sich von seinem Freund und ihrem älteren Kollegen, der seinen Gruß regungslos, fast schon apathisch quittierte. Gideons Gedanken mochten wohl um die seltsamen Umstände kreisen, die bisher zu zwei Todesfällen geführt hatten, und so war es für Julius nicht weiter verwunderlich, dass er von der Verabschiedung keine große Notiz mehr nahm.

Während Bentheim sich darauf freute, zu seinem Sohn zurückzukehren, um mit ihm, der jetzt schon schlafen mochte, die wenigen Stunden trauter Gemeinsamkeit zu genießen, ging sein Mentor gänzlich in seinem Beruf auf. Seit Claras Hinscheiden war die Arbeit seine Braut, und seine Besessenheit, was obskure, beinah schon ins Fantastische hinauslaufende Begebenheiten anging, ließ ihm gar keine Zeit übrig für solch »banale Dinge wie Balztanz und erneute Brautschau«. Zumindest waren dies seine Worte.

Wie gesagt, fand sich Bentheim bei seiner Vermieterin ein. Mit Frau Losch nahm er eine späte Abendmahlzeit zu sich und plauderte mit ihr über den neuesten Klatsch und Tratsch der Hauptstadt. Auch diskutierten sie angeregt die Entwicklung der preußischen Außenpolitik sowie den aktuellen Akzessionsvertrag, durch den der Kleinstaat Waldeck einen Teil seiner Hoheitsrechte an Preußen verloren hatte. Sie tranken Wein – die rüstige Offizierswitwe sogar drei ganze Gläser – und genossen den Abend, bis sie lachend und müde zu Bett gingen.

Achtes Kapitel

Am nächsten Vormittag begegnete Julius dem Kommissar auf dem Flur des Stadtpalais Grumbkow. Ein Lächeln zierte Gideons Gesicht, wie es stets der Fall war, wenn er ein Geheimnis aufgedeckt hatte, doch seine Augen waren diesmal voller Verdruss.

»Hoffe, Sie hatten eine erholsame Nacht«, grummelte er und hastete an seinem Angestellten vorbei in sein Büro, dessen Tür er schwungvoll schloss und Bentheim somit für dieses eine Mal den Zugang zu seinen geheiligten vier Wänden verwehrte. Der Tatortzeichner zog sich in einen anderen Arbeitsraum zurück, wo er ein paar Akten durchforschte, die seine Kollegen angelegt hatten. Albrecht war nirgends zu sehen. Von Theodor Görne, dem hageren Staatsanwalt, der zufällig auf Visite war und kurz ins Zimmer blickte, erfuhr Julius, dass sein Freund schon frühmorgens auf dem Kommissariat gewesen war, aber mit einem Spezialauftrag weggeschickt worden sei.

»Spezialauftrag?«

Görne nickte, wobei seine peinlich-langen Seitenhaare, die er von links über den Glatzkopf gekämmt hatte, gefährlich wippten und zu rutschen drohten. »Ja, so hat Horlitz es genannt: ein Spezialauftrag. Das waren seine Worte.«

»Worum ging es?«

»Irgendwas mit einem fetten Mönch. So genau habe ich nicht hingehört. Jedenfalls hat Ihr Freund den ganzen Tag dafür veranschlagt.«

Bentheim ahnte, worauf dieser Auftrag hinauslief. Sollte sich Horlitz doch in seinem Büro verbarrikadieren, um seine vielen Theorien zu wälzen und seine Vermutungen auf ihre Wahrscheinlichkeit hin zu überprüfen. In der Zwischenzeit sondierte Julius Fingerabdrücke, vertiefte sich in die von ihm selbst angefertigten Skizzen des Tatorts und legte sich seine eigenen Spekulationen über das Motiv des Täters oder der Täter zurecht, in denen einmal der Hausdiener, ein andermal der Einbrecher der Mörder war. Nach geraumer Zeit kreisten seine Gedanken gar um die absurde Idee, der alte Herzog von Gerolstein habe seinem Leben womöglich selbst ein vorzeitiges Ende gesetzt. An diesem Punkt angelangt, platzte ihm der Kragen. Wütend schob der Tatortzeichner den Sessel zurück, stand auf und eilte schnellen Schrittes in Richtung Horlitzens Büro.

Schwungvoll riss er die Tür auf und blickte in das süffisant lächelnde Gesicht seines Vorgesetzten.

»Nun sagen Sie es schon! Was, in drei Teufels Namen, haben Sie herausgefunden?«, fuhr Julius ihn an. Es klang harscher, als er es gewollt hatte, doch der Kommissar schmunzelte zumindest. Bentheim schien es, als ob tatsächlich ein schalkhafter Zug um seine Mundwinkel auszumachen wäre.

»Tja, wie soll ich Ihnen das erklären?«, sprach er und seufzte, als sei es ihm zutiefst zuwider, seinem Untergebenen Rede und Antwort stehen zu müssen. »Seien Sie mir nicht böse, guter Freund, aber ich stelle gerade Überlegungen an, welche die ganze leidige Affäre Gerolstein in ein anderes Licht rücken könnten. Ich wollte Sie keineswegs mit meinen Fantastereien bedrängen und habe Sie deshalb auch nicht eingeweiht, dass ich nebenbei noch einer anderen, auf den ersten Blick verwegen scheinenden Spur gefolgt bin. Leider hat sich meine kühne Theorie bewahrheitet.«

 

»Machen Sie es nicht so spannend!«

Bentheim vermochte seine Neugier fast nicht mehr zu beherrschen, so sehr spannte ihn Horlitz, dieser Sadist des Intellektuellen, auf die Folter. »Was haben Sie ausgebrütet? So sprechen Sie schon, Gideon! Erklären Sie sich.«

Das Gesicht seines Freundes verlor jeglichen jovialen Ausdruck, der nunmehr einem ernsten Blick wich. Kaum merklich den Kopf bewegend, legte Horlitz die Stirn in Falten und griff nach seiner alten Bruyèrepfeife, die vor ihm auf der Tischplatte lag. Ein gräulicher Rauch kringelte sich zur Decke hoch, nachdem er sie angezündet hatte.

»Nun, mein Freund«, begann er ernst seine Ausführungen, »es ist die Aufgabe der Kriminalistik, entweder begangene Verbrechen aufzuklären oder jene sich in Planung befindlichen zu verhindern. Deshalb ist es wesentlich, das Vorgehen des Verbrechers und seine Tat sowie deren Erscheinungsform zu analysieren. Wir Gendarmen suchen Indizien, die zu einer Täterschaft führen, wir erstellen Psychogramme – und wir gehen dabei rein logisch vor. Der erste Schritt, den wir also tätigen müssen, um ein Verbrechen aufzuklären, ist die Abstimmung der gegebenen Umstände aufeinander. Mit folgerichtigem und geordnetem Denken kommen wir zu Lösungen von Problemen, die uns im Alltag gestellt werden; in unserem Fall also die Klärung des Mordfalls Gerolstein.« Er inhalierte rasch, bevor er mit fast schon samtener Stimme weiter dozierte. »Alle uns gegebenen Indizien müssen wir in einer widerspruchsfreien Verknüpfung anzuordnen wissen. Damit kommen wir zu einem Schluss, also zu einer Lösung. Ich habe mich in den letzten Stunden intensiv mit dem Leben des seligen Herzogs und seinem traurigen, gewaltsam herbeigeführten Ableben beschäftigt, Julius, und ich muss Ihnen offenbaren, dass mir dabei einige Unklarheiten ins Auge gefallen sind.«

Bentheim spitzte die Ohren.

Horlitz paffte an seiner Pfeife und fuhr fort: »In der Logik gibt es ein festes Prinzip, nämlich den Satz vom Widerspruch. Dieser besagt, dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist, dass ein und dieselbe Tatsache zugleich sein, aber auch nicht sein kann. Wir wissen, dass es um die wirtschaftliche Lage des Herzogs nicht gerade rosig bestellt war, nicht wahr, Julius? Das haben Sie und Albrecht ja selbst in Erfahrung gebracht.«

Julius nickte.

»Gehen wir die Sache logisch an, mein Freund«, schlug der Kommissar vor. »Der komplexe Satz Der Himmel ist wolkenlos und es regnet besteht aus dem ersten Teilsatz Der Himmel ist wolkenlos und dem zweiten Teilsatz Es regnet. Beide Teilsätze für sich gesehen, geben eine Beschreibung eines Zustandes, den wir nicht als falsch ansehen können. Sehen wir sie aber als Komplex, als Einheit, so widersprechen sie sich. Genau dasselbe passiert auch in unseren Ermittlungen. Bei uns heißen die Sätze einfach Der Herzog war bankrott und Der Herzog lebte ausschweifend. Etwas missfällt mir da wirklich.«

»Aber welcher Satz ist berechtigt?«, fragte Bentheim.

»Hm.« Horlitz zuckte mit den Schultern. »Das müssen wir noch herausfinden«, antwortete er. »Vorerst richten wir unser Augenmerk auf eine ganz andere Sache. Rufen Sie sich das Bild des toten Herzogs in Erinnerung. Fällt Ihnen nichts auf, was vielleicht seltsam oder ungewöhnlich war? Und gab es nichts, was Ihnen sonderbar oder unlogisch erschien?«

Bentheim hatte keine Ahnung, worauf sein Freund aus war. Doch da er um dessen kombinatorisches Ingenium wusste, war es ihm auch diesmal nicht vergönnt, ihm das Wasser zu reichen. Sein Geist sah einfach nicht die Dinge, die der in ganz Preußen berühmte Kommissar Horlitz sah, und so gab er sich geschlagen und ließ das grausame Bild des ermordeten Hausherrn vor seinem inneren Auge Revue passieren.

»Was meinen Sie?«

Horlitz antwortete: »Nun, es gibt einige Punkte, die nicht ins Bild eines Raubmordes passen. Erstens: Wir wissen inzwischen, dass der Herzog um zehn Uhr ermordet wurde. Wieso trug die Leiche Handschuhe – im geheizten Haus? Zweitens: Das Gesicht des Toten war nicht mehr vorhanden; so präzise war der Schuss des Mörders gewesen. Weshalb aber macht sich jemand die Mühe, die Pistole derart nah anzusetzen, wenn es ein einfacher Schuss ins Herz auch getan hätte? Drittens: Als wir das Haus des Ermordeten zum ersten Mal betraten, wurde uns die Tür vom Domestiken geöffnet, dessen zitternde Bewegungen ich auf sein fortgeschrittenes Alter zurückführte. Vielleicht, so dachte ich, laborierte er auch an der Schüttellähmung. Aber als Albrecht und Sie draußen bei Weißensee beim Anwesen des Herzogs auf der Lauer lagen und schließlich den Einbrecher stellen wollten, der sich leider selbst einem höheren Richter übergab, trafen Sie beide wiederum auf den Diener. Nur diesmal, wenn ich Ihren Berichten Glauben schenken darf, hielt er Ihnen ein Jagdgewehr entgegen – mit der kundigen und sicheren Hand eines erfahrenen Jagdschützen. Oder irre ich mich?«

Für eine Sekunde blitzte vor Bentheims innerem Auge die nächtliche Situation auf, und er nickte zustimmend.

Mit einer energischen Kinnbewegung fuhr Horlitz fort: »Hat der greise Hausdiener also etwas zu verbergen, gleichwohl ich ihn anfangs für unschuldig hielt? Viertens: Ihrem Bericht zufolge habe der Lakai erschrocken reagiert, sowie er den Einbrecher in seinem Keller erblickte. Es sei lediglich ein hastiger Blick gewesen, doch er habe genügt, um ihm den Angstschweiß auf die Stirn zu treiben. Kannte er also den Einbrecher? Sie sehen, Julius: Fragen über Fragen, deren rasche Beantwortung unser harrt.«

Bentheim lachte heiser.

»Sie spaßen, Gideon«, entgegnete er. »Wie ich Sie kenne, haben Sie die Rätsel bereits gelöst und werden mir nun voller Enthusiasmus Ihre Auflösung präsentieren. Ist dem nicht so?«

Der Kommissar war geschmeichelt. Leicht verlegen strich er seine Jacke mit einer grazilen Bewegung glatt und antwortete: »Ach, Sie beschämen mich. Aber, ja, ich weiß, wer der Mörder war.«

»Sprechen Sie!«, meinte der Tatortzeichner aufgeregt.

»Nun«, antwortete Horlitz mit langsamer Stimme, »der Mörder war kein Geringerer als der Herzog persönlich!«

»Selbstmord?«, entfuhr es Bentheim.

Der Kommissar schüttelte den Kopf.

»Nein, gewiss nicht. Hören Sie zu! Der Tote war gar nicht der ehrwürdige Herzog, sondern dessen Bediensteter.«

»Dann ist der Diener also der vermeintlich tote Herzog?«

»Exakt.«

»Aber wie …?«

Noch ehe er seine Frage ausformuliert hatte, unterbrach ihn Horlitz: »Ganz einfach: Weshalb trug der Tote Handschuhe? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil Lakaien nun einmal Handschuhe tragen. Und weshalb schoss man dem Toten das Gesicht weg? Natürlich nur, um ihn unkenntlich zu machen. Weshalb zitterte der vermeintliche Diener erst und dann wieder nicht? Weil alles nur gespielt war. Eine Farce, die uns glauben machen sollte, wir hätten es mit einem gebrechlichen Greis zu tun, den wir deshalb nie und nimmer zum Kreis der Verdächtigen gezählt hätten.«

Bentheim pfiff anerkennend, und der Kommissar erklärte: »Es geht hier nicht um einen einfachen Mord, Julius. Da steckt eindeutig mehr hinter der ganzen Angelegenheit. Leider Gottes haben wir jetzt umso mehr Fragen zu beantworten: Weshalb hat der Herzog seinen Domestiken ermordet? Und warum hat er daraufhin seine eigene Ermordung inszeniert? Wer wusste sonst noch um diese leidige Affäre? Denn jemand hat den Herzog ja beschattet. Wer war der unbekannte Einbrecher, der Kaliumcyanid seiner Verhaftung vorzog? Und schließlich: Wer sollte in der St.-Peter-und-Paul-Kirche am Wannsee auf den Attentäter warten?«

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