Spuren

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Raimund Lauber

Spuren

Der abenteuerliche Weg einer bayerischen Familie

vom 30jährigen Krieg bis zum Ende des Nationalsozialismus.

(1632 – 1947)

Roman

In meinem früheren Leben, als ein geachteter Bürger, war es für mich und alle, die von mir wussten, undenkbar gewesen, dass ich mich einst in einer Gefängniszelle wieder finden würde. Trotzdem überraschte es mich nicht, als sie kamen um mich abzuholen. Denn nie hatte ich mich der Illusion hingegeben, dass mich ihr Hass vergessen könnte. Zu schreckliches ist geschehen.

Allein mit mir in der Zelle, eine schwarz verhüllte Zukunft vor Augen, überschwemmt mich das ganze Ausmaß meiner Misere. Auf Gnade oder gar Gerechtigkeit darf ich nicht hoffen und das Trost spendende Gebet ist mir verschlossen. Dunkelste Phantasien wetteifern mit zermürbender Ratlosigkeit über das Schicksal, das ich zu erleiden haben werde. Nur quälend langsam befreien sich meine Gedanken aus dem kreisendeden Mahlwerk fruchtloser Grübelei und machen sich auf die Suche nach etwas, das mir Halt und Zuversicht geben könnte. Bei meiner Familie werden sie fündig.

Schon als Kind genoß ich das wärmende Gefühl des liebevollen Geborgenseins, das sie mir gab, später das Wissen in allen denkbaren Nöten einen bedingungslos zuverlässigen Zufluchtsort zu haben und bis heute erfüllt es mich mit Stolz dieser, meiner Familie anzugehören. Alles Gute hat seinen Preis. Die Familie erwartet von ihren Mitgliedern die Verinnerlichung ihrer Maßstäbe, bei allem was sie gibt und was sie fordert. Sich auf angemessene Weise durchs Leben zu bringen, gehört dazu, und auch, sich in den Wechselfällen des Lebens als tapfer zu erweisen, so wie die Ahnen es uns immer wieder vorlebten.

Wie ich sinnend durch das Gitterfenster in den nächtlichen Sommerhimmel blicke, weicht die Enge der Zelle und ich betrete das weite Feld der Geschichte und Geschichten meiner Familie.

Als erstes tritt der Zimmermann Hanns aus der Tiefe der Zeit hervor.

I. Kapitel

Wie mitten im 30jährigen Krieg der Altgeselle Hanns Lauber,

allen Widrigkeiten zum Trotz, doch noch Meister wurde.

Es ist das Jahr 1632 und der 30jährige Krieg hat seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Da hat Hanns schon 42 Jahre auf dem Buckel und verdient sein Brot als Altgeselle in der Werkstatt des ehrenwerten Zimmermeister Lorenz Schober zu Thürsenreuth.

Kein Ort im ganzen Stiftsland kam damals Thürsenreuth an Bedeutung gleich, auch jetzt nicht, da der Krieg seine Hand schwer auf die Stadt legte. Handel und Handwerksfleiß hatten ihr soliden Wohlstand beschert. Den zu mehren war der ganze Stolz seiner Bewohner. Der Ausbruch des Krieges erinnerte die Bürger daran, dass Wohlstand keine Garantie für Sicherheit und schon gar nicht für Glück ist. Im Gegenteil, der Krieg lockt unliebsame Besucher an, wie der Honigtopf die Fliegen. Jahr für Jahr kamen irgendwelche Söldner aus dem katholischen oder protestantischen Lager und sie alle entwickelten eine beachtliche Phantasie in ihren Methoden, die Bürger so gründlich wie möglich zu schröpfen. Derzeit lag eine Besatzung aus Wallonen in der Stadt, die ihnen der zwielichtige General Johann Philipp Cranz Graf von Scharpfenstein als Hilfe gegen die räuberischen Sachsen von jenseits der Grenze geschickt hatte. Bald mussten die Thürsenreuther feststellen, dass es sich bei den Wallonen samt ihrem deutschen Befehlshaber Hauptmann Lackner, um ein ganz besonders rohes und feiges Pack handelte. Lackner erhob für die Verpflegung seiner Leute unmäßige Forderungen. Die Söldner hielt es nicht ab, trotzdem erbarmungslos zu plündern und die Bürgersfrauen zu belästigen. Mit dem ehedem geruhsamen Bürgerleben war es vorbei. Die Frauen blieben in ihren Häusern mit den festen Riegeln und wenn ein Geschäft sie vor die Türe zwang, schlichen sie sich ängstlich den Mauern der engen Gassen entlang. Die ständige Bedrohung und die unsichere Zukunft lasteten bleiern auf der Stadt. Aber die Thürsenreuther waren wackere Leute. Sie trotzten den schlimmen Zeitläufen in der Zuversicht, dass es einmal wieder anders werden würde, ohne Besatzung und ohne Feind vor den Mauern. Nicht mehr lange, so hofften sie nun seit mehr als einem Jahrzehnt, und alles würde wieder werden wie es vordem war. Bis dahin versuchten sie dem Leben seinen gewohnten Gang zu bewahren, so gut es die Verhältnisse eben zuließen. So hatten es schon die Väter und Vorväter gehalten und Thürsenreuth war immer wieder auf die Beine gekommen.

Der Zimmermann Hanns Lauber stand mit den Leuten von Thürsenreuth auf gutem Fuß und sie mit ihm. Man achtete ihn und sein Meister konnte sich die Arbeit ohne den erfahrenen Altgesellen gar nicht mehr vorstellen. Sein Vertrauen zu ihm war so vollkommen, wie es nur aus einer langjährigen, guten Zusammenarbeit erwächst. Hanns lebte unter des Meisters Dach wie in einer Familie und so würde es voraussichtlich auch bleiben, bis er für die Arbeit zu alt geworden ist. Was dann kommt, daran mochte Hanns nicht denken. Aber vielleicht würde ihn der Meister im Haus behalten, ausgeschlossen war das nicht.

Obwohl er schon ins fünfte Lebensjahrzehnt eingetreten war, hatte Hanns es weder zum Meister, noch zu einer eigenen Familie gebracht.

Man würde ihm aber nicht gerecht, wenn ungesagt bliebe, dass es nicht in seiner Person lag, dass er Weib und Kinder noch nicht um sich geschart hatte. Zwar sahen die Thürsenreutherinnen in ihm bestimmt nicht das, was sie einen schönen Mann genannt hätten und das, obwohl ihre Ansprüche ohnehin nicht zu hoch gesteckt sein durften, aber es gab schon welche unter ihnen, die den großen, schlanken Mann mit seinem kantigen, wettergegerbten Gesicht und dem Grübchen im markanten Kinn, auf eine herbe Art anziehend fanden. Bei Mann wie Weib gleichermaßen sympathisch machte ihn sein offener Blick, wie man ihn manchmal bei Männern findet, die sich wie selbstverständlich ihrer Mitte gewiss sind. Dass er zwei Finger der linken Hand dem Beruf geopfert hatte, störte kaum jemanden, am wenigsten ihn selbst. Sein Herz hing nicht an Äußerlichkeiten, nur mit seiner Kappe machte er ein Wesen. Sie bestand aus fest mit dickem, rotem Garn zusammengenähten, birnenförmigen Ledersegmenten, die oben in einem Lederknopf zusammenliefen. Farbe und Alter dieses Erbstückes waren nicht mehr bestimmbar. Je nach Beleuchtung changierte das Leder zwischen grün-braun und schwarz-grau. Niemand erinnerte sich daran, Hanns jemals ohne diese Kappe gesehen zu haben. Wer ihn fragte, warum er sie nie abnehme, bekam zur Antwort, das wäre nicht mehr möglich, sie sei ihm im Laufe der Zeit am Kopf festgewachsen. Dabei blitzte es verdächtig in seinen grauen Augen. Da diese Erklärung nicht allen Thürsenreuthern genügte und Hanns sich zu keiner weiteren Auskunft bereit fand, konnte es nicht ausbleiben, dass die wildesten Gerüchte ins Kraut schossen.

In der Bürgerschaft blieb es natürlich nicht unbemerkt, dass Hanns auch vor den gestrengen Obrigkeiten, den weltlichen, wie den geistlichen, den Kopf nicht entblößte. Angeblich habe er sich dieses Privileg erworben, indem er glaubhaft machte, es wäre für alle Anwesenden besser, wenn er die Kappe da ließe, wo sie ist. Ansonsten laufe man Gefahr, dass das darin hausende Ungeziefer in Mengen entweichen würde, was niemand wünschen könne. Den älteren Thürsenreuthern war die Kappe nicht einmal mehr ein Lächeln wert, aber die jungen Leute, namentlich die männlichen, sahen in Hanns einen Verbündeten in ihrem trotzigen Aufbegehren gegen jede herkömmliche Autorität und sie bewunderten ihn dafür. Trotz dieser kleinen Eigenheit galt Hanns als ein vernünftiger Mann, der wusste was er wollte und worauf es ankam. Außerdem konnte man sich auf ihn verlassen. Das achteten die Männer und gefiel den Frauen. Aber heiraten durfte er trotzdem nicht. Seine mächtige Zunft mutete allen Gesellen zu, so lange ledig zu bleiben, bis sie eine frei gewordene Meisterstelle übernehmen konnten. Die aber waren so dünn gesät wie Schwalben im Winter. Früher konnte man leichter in eine vakante Meisterstelle nachrücken, aber die Anzahl der Gesellen stieg rasch und die Zunft, um das Auskommen der Meister besorgt, ließ keine neuen Meisterstellen zu. So wuchs die Zahl der Gesellen, die nicht zum Zuge kamen und mit ihr die Unzufriedenheit.

Bisher hatte Hanns mit seinen Bewerbungen kein Glück gehabt. Anfangs nahm er das noch gelassen hin, aber mit zunehmendem Alter wurde ihm die Zeit knapp. Wenn er sich nicht bald eine Meisterstelle sichern konnte, musste er seine Hoffnung auf eine Zukunft mit einer eigenen Familie begraben. Er wusste, dass die späten Jahre bitter schmecken, wenn man alleine ist und er sah sich schon den trostlosen Weg in ein einsames Alter gehen.

Hanns war ein frommer, gottesfürchtiger Mann und hatte seine verarbeiteten Hände nicht nur ein Mal im Gebet um eine Meisterstelle gefaltet, aber die Resonanz war enttäuschend. Da wurde er der Ungewissheit überdrüssig und suchte, in der Hoffnung etwas über seine Zukunft zu erfahren, für gutes Geld Rat bei einer alten Zigeunerin am glosenden Feuer. Sie prophezeite ihm, er würde sein Glück finden, aber nur, wenn er sieben Prüfungen bestünde. Hanns hielt die irrlichtigen Worte für ein gutes Omen und schenkte ihnen gerne Glauben. In jener Nacht aber unterlief der Alten eine kleine Ungenauigkeit. Lag es am Mond oder dem Quäntchen Fliegenpilz, das sie ihrem Fusel manchmal beisetzte oder an beidem? Nachts bleibt der gelbäugigen Eule kein Geheimnis des Waldes verborgen, doch die schweigt, wohlweislich. Die Sieben war nicht die einzige der magischen Zahlen, die sich für diesen besonderen Fall angeboten hatte. Die Zwölf und die Siebzehn standen auch bereit, wurden aber übergangen. Das rächt sich. Wie viele Prüfungen Hanns tatsächlich zu bestehen hat, wir werden es sehen. Ich will den Ereignissen nicht vorgreifen. Viel mehr werde ich versuchen, chronologisch säuberlich geordnet und vor allem wahrheitsgetreu zu berichten, was sich damals, seit den Vorkommnissen des 1.März im Jahre 1632 nach der Fleischwerdung Gottes, an Erzählenswertem ereignet hat.

 

Eine Ohrfeige mit Folgen

Montag, der 1. März

An diesem denkwürdigen Vorfrühlingstag fügte es sich auf wunderbare Weise, dass das Leben des Hanns Lauber eine ganz erstaunliche Wendung nahm. Angefangen hatte der Tag so wie jeder andere auch, den der Herr werden ließ, es sei denn, es war Sonntag oder ein Feiertag, dann ruhte die Arbeit, auch in der Werkstatt von Meister Schober. An solchen hohen Tagen schlüpfte Hanns in seinen besten Rock und folgte mit der Familie des Meisters dem feierlichen Ruf der Glocken zur heiligen Messe. Trat er dann geläutert aus dem Hause Gottes, war es zum „Bräu“ nicht weit. Denn auch in der oberen Pfalz gehören Kirche und Wirtshaus zusammen wie Leib und Seele.

Heute aber war ein ganz gewöhnlicher Werktag. Hanns, der Meister und der verschlafene Lehrbub Andres verließen schon in der Dämmerung die erwachende Stadt und machten sich auf den Weg zur Prößlmühle, einer niedergebrannten Mühle außerhalb der Stadt. Die hatten sächsische Soldaten auf dem Gewissen, sofern die nach Jahren des Söldnerlebens noch über ein solches verfügten. Die Nacht war klar und kalt gewesen und die vereisten Pfützen knirschten unter ihren schweren Stiefeln. Das Werkzeug hatten sie sich unter die Achseln geklemmt und die Hände in die Taschen versenkt. In ihren dunklen Mänteln hoben sich die Drei hart gegen den Schnee ab und wirkten wie der Schattenriss einer kleinen Bußprozession, die bedächtig ihrem heilspendenden Ziel zustapft. „An Kunigund kumbt Wärm von unt’“, klammerte sich Andres an eine geheimnisvolle Bauernweisheit und wiederholte mit Bestimmtheit, gleichsam als Beschwörung: „Übermorgen ist der Tag der heiligen Kaiserin Kunigunda!“ so, als könne eine Heilige, die noch dazu Kaiserin war, ihn besser vor der Kälte schützen, als eine ganz gewöhnliche Heilige. „Wärm von oben wär’ mir lieber“ versetzt darauf griesgrämig der Altgeselle. Er dachte an die Arbeit oben am First des Dachstuhls, wo die schneidende Kälte immer noch rötend in das erstarrte Gesicht biss. Sogar das Nasentröpferl an seiner stattlichen Nase fror manchmal fest, noch bevor es seinen Weg nach unten in den dunklen Bart antreten konnte. Trotzdem war Hanns froh aus der Stadt zu kommen. Es ging ihm gewaltig gegen den Strich mit anschauen zu müssen, wie eine überhebliche Soldateska klirrend durch die Stadt stolzierte, als wären sie die Herren der Welt.

Dem Mühlgraben entlang waren die trockenen Halme des Vorjahres mit Rauhreif überzuckert, aber bei der maroden Mühle angekommen, schob sich die Sonne gerade über die glitzernden Baumwipfel und ließ das Weiß des nicht enden wollenden Winters triumphal erstrahlen. Nicht mehr lange und die Wärme würde die Äcker dampfen lassen. Hanns atmete tief ein. Kein Zweifel, die Luft roch schon nach Frühling und was ihm die Nase sagte, das sangen ihm auch die Hochzeitslieder der Vögel. Eine aufgeplusterte Amsel jubilierte so unverdrossen gegen das Sägen und Klopfen der Zimmerer an, als könnte sie alles übertönen. „Du hast es leicht“, brummt Hanns, „bei unsereiner ist mit singen allein nichts zu machen“. Gegen Mittag zu näherte sich eine junge Frau der Baustelle, die schwer an einer Last trug. Hanns erkannte schon von weitem dass es Anna war, die einzige Magd, die den Schobers verblieben war. Sie stellte den schweren Korb auf einem Baumstumpf ab und atmete erleichtert auf. Getreidebrei, schwarzes Roggenbrot und hausgemachtes Bier für drei Mann, das hatte schon sein Gewicht. Anna zählte neunzehn Jahre, stand fest im Fleisch ohne wirklich fett zu sein und wirkte, weil sie sich wegen ihres Hohlkreuzes sehr gerade hielt, größer als sie in Wirklichkeit war. Sie strotzte vor Energie und guter Laune und man merkte es ihr nicht an, dass das Leben es ihr nicht ganz leicht gemacht hatte. Ihre Mutter war vor Jahren bei der Geburt des fünften Kindes gestorben. Anfangs half sie die jüngeren Geschwister zu versorgen. Als aber der Vater wieder heiratete, ging sie als Magd ins Haus der Schobers.

Anna blickte sich neugierig auf der Baustelle um. „Gut geht’s vorwärts“. „Wir müssen doch was Ordentliches hinstellen, damit die Anderen wieder was zum niederbrennen haben“, gab Hanns gallig zurück, fügte dann aber, auf die frisch zugehauenen Balken weisend, versöhnlicher hinzu, „bald kommt der Dachstuhl hinauf, dann feiern wir Hebauf!“ „Dann fall’ nur nicht runter“, lachte die Magd, dass ihre braunen Augen funkelten und fügte, mit einem bedeutungsvollen Blick noch an „man braucht dich vielleicht noch“ und machte sich auf den Rückweg zur Stadt. Alle im Haus mögen die Anna und der Hanns vielleicht noch etwas mehr. Es ist ihm nicht recht wohl dabei, wie er sie so allein mit wiegenden Hüften zur Stadt zurückgehen sieht. Nachdenklich blickt er dem hellbraunen Zopf nach, wie er im Takt zu Annas Gang lustig hin und her pendelte. Die meisten Soldaten sind zwar zu einem Streifzug zur Grenze nach Böhmen ausgerückt, aber eine Stammbesatzung bleibt immer in der Stadt zurück.

Nach Feierabend blieb der Meister noch auf einen Schwatz beim Müller sitzen und schickte Hanns mit Andres voraus in die Stadt. Den allzeit hungrigen Lehrbub zog es direkt in die Küche der Meisterin und Hanns kehrte zu einem Dämmerschluck beim „Schwanen“ ein. Selbst die Unmengen Bier, die an die Soldaten geliefert werden mussten, hatten dort die Vorräte nicht erschöpfen können. Es war immer noch etwas von dem hausgemachten Dunklen übrig, das mehr schwarz als braun aus dem Krug schaute. Nur wenn der Wirt ein volles Glas gegen eine Kerze hielt, verlor der süffige Trank sein Schwarz und leuchtete rötlich-braun vor dem Licht. Mindestens einmal musste der Wirt nachschenken und manchmal tat Hanns ihm auch die Ehre und trank einen dritten Holzkrug aus. Hätte Hanns aus dem Fenster auf die Straße vor dem Wirtshaus geschaut und nicht in seinen Krug, dann hätte er sehen können, wie ein Soldat mit seinem Kauderwelsch auf Anna einredete und ihr einen der beiden Wassereimer abnötigte, die sie gerade vom Brunnen geholt hatte. Er hätte auch sehen können, dass in einigem Abstand zwei weitere wallonische Söldner ihrem Kameraden und der verstörten Anna zum Schoberschen Anwesen folgten. So aber trat er geruhsam vor das Gasthaus und rülpste wohlig. „Hat’s geschmeckt?“ fragte eine Stimme aus dem Hausschatten. „Kennst’ mich nimmer? Der Freislederer!“ Hanns hatte den langen Kerl sofort an seiner hohen Stimme erkannt. Aber auch sonst war er unverwechselbar, wie er so lässig da stand, mit seinen hängenden Augenlidern und dem Mund, der es fertig brachte trotz der leicht herabgezogenen Winkel immer zu lächeln. Der Freislederer Wolf hatte damals, als es noch reichlich Arbeit gab, bei Meister Schober die Lehre gemacht. Beliebt war er dort nicht gewesen. Dem Meister gefiel es nicht, dass er ein bisschen zu oft den Weibsleuten nachschaute, anstatt zu arbeiten und die anderen mochten ihn nicht, weil er mit seiner Rechthaberei und Streitsucht Unfrieden in der Werkstatt stiftete. Nur ein einziges Mal hatte er für Heiterkeit gesorgt, allerdings nicht ganz freiwillig. Weil die alte Elsbeth nicht mehr so richtig konnte, war die Anna gerade frisch als Magd in den Haushalt der Schobers aufgenommen worden, da glaubte der freche Kerl sich schon eine grobe Unverschämtheit gegen Anna herausnehmen zu können. Doch da hatte er sich gründlich verrechnet. Die Anna bekam einen hochroten Kopf, holte aus und gab dem überraschten Lehrbub, bevor er sich wegducken konnte, eine saftige Ohrfeige, dass es nur so schallte, nannte ihn einen dürren Hänfling und Rotzlöffel, der erst einmal trocken hinter seinen ungewaschenen Ohren werden solle, bevor er sich gegen die Weibsleut was traut. Am Schluss ihrer Schmährede rief sie noch triumphierend, „hast’ vielleicht gedacht, ich lang nicht hinauf zu dir, du langer Lackel, da hast’ dich aber sauber täuscht!“ Die Gesellen lachten, dass ihnen die Tränen über die rauhen Wangen liefen und die Lehrbuben ergriffen die Gelegenheit, den Geohrfeigten ordentlich zu hänseln. Der jüngste unter ihnen, der kleine Niclas Ibelacker, riss ihm die Kappe vom Kopf und warf sie dem Bärtl, dem dritten Lehrling zu. Als Freislederer sie zurückforderte, riefen sie ihm spöttisch zu, „hol’ sie dir doch!“ und als er dann nach seiner Kappe greifen wollte, warfen sich die Lehrlinge das Beutestück gegenseitig zu und riefen, „fang’s doch, wenn’st kannst!“ Das ging solange, bis Freislederer aufgab. Alle grinsten, nur der Freislederer war weiß wie ein Leintuch geworden. Die Abdrücke von Annas fünf Fingern leuchteten rot in seinem schmalen Gesicht und er schaute so giftig drein, wie eine Kreuzotter, der man auf den Schwanz getreten hat. Dabei zischte er etwas in der Art, dass die Anna das nicht umsonst getan habe und er es allen noch zeigen werde. Da wurde er noch mehr verlacht. Um dem ein Ende zu machen schickte ihn Hanns an die Arbeit, nicht ohne ihm die Mahnung mitgegeben zu haben, „lass’ die Anna in Ruh’ Wolf, sonst fangst’ von mir auch noch eine.“ Die Anna aber war etwas blass geworden und hat auch nicht mehr mitlachen können. Jetzt fürchtete sie den Freislederer. Als der endlich so weit war, dass er auf die Wanderschaft gehen musste, sah man ihn gerne ziehen. Nach langen Wanderjahren kehrte er nach Thürsenreuth zurück, hatte damals aber gar nicht erst versucht, bei Meister Schober wieder einzustehen. Schließlich war ein unsteter Geselle aus ihm geworden, der immer wieder aus der Stadt verschwand. Tauchte er dann unerwartet doch wieder auf, war er meist abgerissen. Manchmal aber war er so gut mit Gulden bestückt, dass seine Geldkatze spannte. Kurz gesagt, Freislederer war niemand, mit dem sich Hanns gerne sehen ließ. Da Hanns auf die Anrede stumm geblieben war, versuchte es der Freislederer noch einmal und lud ihn zum Bier ein. „Zum Gedenken an die alten Zeiten bei Meister Schober“, grinste er schief. „Mir langt’s“, schlug Hanns das Angebot aus und wandte sich zum Gehen. „Du kommst sowieso zu spät, da kannst’ ruhig noch was trinken“ hörte er noch nachrufen, hämisch, wie ihm schien, aber er gab nichts darauf. Die unliebsame Begegnung hatte Erinnerungen an frühere Zeiten in ihm geweckt. Was mag wohl aus der Belegschaft von damals geworden sein? Zu sechst waren sie in der Werkstätte gewesen, den Meister nicht mitgezählt. Einer fiel ihm auch ohne großes Nachdenken sofort wieder ein, der 14jährige Niclas, der so früh hatte sterben müssen. Eines Mittags hatten sie ihn nach der Brotzeit reglos unter dem Gerüst am Haupttor gefunden, an dem sie gerade arbeiteten. Es war noch Leben in ihm, als sie ihn zum Spital trugen, ist aber dort gestorben, ohne nochmals zu sich zu kommen. So erfuhr niemand, was er allein auf dem Gerüst zu suchen gehabt hatte. Weiter kam Hanns mit seinen Erinnerungen nicht. Denn als er in die Straße zur Zimmerei einbog, bekam er gerade noch mit, wie ein Soldat die widerstrebende Anna durch die kleine Pforte im Tor zur Zimmerei schob und hinter ihr hinein schlüpfte. „Sakrament“ entfuhr es dem Altgesellen, wie immer, wenn ihm etwas nicht geheuer schien. Drinnen hatte der Soldat Anna mit einem bunten Band vor der Nase herumgewedelt und sie dabei lüstern angegrinst. Der Magd kam es so vor, als wäre sich der Eindringling sicher, dass sie ihm jetzt, weg von den Blicken der Leute, zu Willen sein würde, für das Band, das er immer noch vor ihr baumeln ließ. Als der geile Kerl versuchte sie an sich zu ziehen, war er von Annas Gegenwehr sichtlich überrascht. Sie stieß ihn so heftig zurück, dass einer der beiden Eimer umkippte. Zu ihrer eigenen Überraschung verspürte Anna noch ein Bedauern über das verschüttete Wasser, als sie versuchte, über die steile Treppe an der Torwand nach oben zu entkommen. Durch den Widerstand angestachelt, war der Soldat erst recht entschlossen sein Vorhaben, komme was da wolle, zu Ende zu bringen. Er versuchte der jungen Frau nachzusetzen, glitt aber in dem vergossenen Wasser aus, wobei der Tölpel, der brünftige, auch noch den anderen Eimer zum Überschwappen brachte. Wild mit den Armen rudernd, wie ein ungeübter Schlittschuhläufer, verlor er schließlich völlig die Balance und knallte in die sich immer weiter ausbreitende Wasserpfütze. Das brachte der fliehenden Anna einen kurzen Vorsprung, wurde aber doch noch an der letzten Stufe am Fuß erwischt, stürzte, schrie, wollte sich wieder aufrappeln, da war aber der Wallone schon über ihr und beendete ihr verzweifeltes Beißen, Kratzen und Treten mit einem harten Schlag ins Gesicht.

Zwei Soldaten, die draußen vor dem Tor auf ihren Kameraden warteten, versuchten dem anstürmenden Hanns den Weg zu vertreten. Da waren sie schlecht beraten. Rote Wut und schwarzes Bier ließen in Hanns keinen Raum für Bedenken, was daraus werden könnte, wenn er, der Handwerker, sich an den Soldaten seines Kurfürsten vergriff. Dazu ging auch alles viel zu schnell. Er fegte die beiden Wachen beiseite, bevor sie zu ihren Waffen greifen konnten und stürzte die Treppe hinauf. Bevor Annas Peiniger überhaupt wusste, wie ihm geschah, hatte Hanns ihn schon von der weinenden Anna gerissen. „Gehst’ runter vom Nannl, du welsche Drecksau, du verkommene!“, keuchte er, hob den kreischenden Wüstling hoch und stürzte ihn, die Augen weit aufgerissenen, wie eine Puppe kopfüber die steile Treppe hinunter, seinen Kameraden entgegen, die ihm mit gezogenen Degen zu Hilfe eilen wollten. Es war ein wilder Sturz in einem sich drehenden Knäuel aus Leibern und Waffen, der erst zwischen den Wassereimern am Fuße der Treppe endete. Oben aber stand schwer atmend Hanns, den Arm schützend um die schluchzende Anna gelegt und sah voll grimmiger Genugtuung auf sein Werk hinunter. Zwei der Angreifer kamen mühsam wieder auf die Beine, der Dritte lag auffallend ruhig und merkwürdig verrenkt da unten. Aus Nase und Ohren sickerte wallonisches Blut. Seine Kumpane schleppten ihn unter wilden Drohungen und unverständliche Flüche ausstoßend vom unrühmlichen Schlachtfeld. Inzwischen war durch den Lärm das ganze Haus zusammengelaufen. „Der schaut nicht gut aus“ kommentierte Andi noch mit vollem Mund den wallonischen Rückzug. „Unsere Treppen halten eben mehr aus, als wallonische Köpf!“ So spaßig fand das der Meister auch wieder nicht, wenn in seinem Haus drei kurfürstlich-bayerische Soldaten zu Schaden kamen und gab dem Lehrbuben eine Maulschelle. Das machte Andi nichts aus, denn er hatte heute seinen Helden gefunden. In dieser Nacht bekam Anna Besuch in ihrer Kammer. Als in dem Handgemenge alles drunter und drüber ging, war ihr Mieder verrutscht. Da hatte Hanns, ganz kurz nur, etwas erhascht, was er sich gerne etwas genauer beschaut hätte.

 

Anna war nicht schwer zu trösten und legte Hanns auch keine unüberwindbaren Hindernisse in den Weg, als er bei ihr nach dem „etwas“ suchte, das er sich gerne näher angeschaut hätte. Vielleicht war sie ihm sogar ein bisschen behilflich, beim Suchen. Noch vor Morgengrauen klaubte Hanns seine sieben Sachen zusammen und wollte aus der Kammer schlüpfen, bevor Anna aufwacht. Die hatte aber nicht schlafen können, weil ihr soviel im Kopf herum ging, und hielt ihn fest, als er sich davon schleichen wollte. „Nannl, ich muss fort, es wird gleich hell!“ „Hanns, was wird aus uns?“ flüstert sie bang. Jetzt war sie heraus, die Frage, die sie die halbe Nacht umgetrieben hatte und eigentlich für sich hatte behalten wollten. Was soll aus ihnen werden, wo sie sich doch so lieb haben und doch nicht beieinander sein durften? „Ich weiß ja nicht einmal was aus mir wird, wo ich doch den kurfürstlichen Soldaten die Treppe hinunter geworfen habe.“ „Versteck dich Hanns, bis Gras über die Sache gewachsen ist, und dann kommst zurück zu mir.“ „Ich habe nichts Unrechtes getan, brauche mich nicht zu verstecken, und das mit uns beiden, du weißt so gut wie ich, dass kein Geselle von der Zunft die Erlaubnis zum Heiraten erhält, wenn er keine Meisterstelle übernehmen kann und eine Meisterstelle habe ich nicht, sonst wäre ich nicht immer noch hier beim Schober. Also gibt es keine Hochzeit. So schaut es aus mit uns! Das ist zwar eine Riesensauerei, aber nicht zu ändern“, fügte dann aber zögernd an, „es gäb’ schon eine Möglichkeit, dass wir heiraten könnten, aber dazu müssten wir auswandern.“ Anna war gleich Feuer und Flamme und sagte, sie wolle mit Hanns überall hin gehen, wenn sie nur zusammen wären. Hanns war zurückhaltender und das hatte einen schwerwiegenden Grund. „Nannl, wir müssten nach Franken ziehen. In der freien Reichsstadt Nürnberg dürfen auch Gesellen heiraten.“ „Nach Nürnberg!“ jubelte Anna und war ganz aufgeregt, „in die schöne, reiche Stadt, da bin gleich dabei!“ „Nicht so schnell, Nannl, in Nürnberg ist man lutherisch.“ „Jesus, Maria und Joseph! Um deiner und meiner ewigen Seeligkeit willen, zu den Lutherischen geh ich niemals nicht!“, rief Anna voll echtem Entsetzten. „Das habe ich mir schon gedacht Nannl, aber bedenke, wenn es nicht der Münchner gewesen wäre, der die Oberpfalz einkassiert hat, sondern einer von den lutherischen Fürsten, dann wäre auch deine und meine Konfession die lutherische geworden, so aber sind aus uns Calvinisten brave Katholiken geworden. Da könnten wir leicht auch noch lutherisch beten lernen.“ Anna bekreuzigte sich rasch. „Hanns, jetzt hast du von dieser Nacht schon zwei Sachen zum beichten, ich nur eine, und für die bete ich die zehn ‚Gegrüßt seist Du Maria‘ und ‚Vaterunser‘ gern als Buße.“ „Du kennst dich ja bei den Tarifen für die Sünden recht gut aus“ grinste Hanns. „Das weiß ich nur von der alten Elsbeth, nicht was du schon wieder meinst!“ Hanns wurde wieder ernst. „Wenn wir nicht nach Franken gehen, muss ich nach wie vor auf eine Meisterstelle warten und das kann dauern.“ „Ich bin jung, ich kann warten.“ „Aber ich nicht. Und da ist noch etwas. Viele Meisterstellen werden erst frei, wenn der Meister stirbt.“ „Ich weiß schon“ unterbrach ihn die Anna und vollendete, was eigentlich Hanns hatte sagen wollen. „Und wer die Stelle haben will muss meistens die Witwe heiraten, damit die versorgt ist. Das ist nichts Neues.“ Hanns war überrascht wie gleichmütig Anna das gesagt hatte und erwiderte fast vorwurfsvoll: „Aber wenn es so kommt, dann schaut es mit uns beiden schlecht aus!“ „Überhaupt nicht“, freute sich die Anna und lachte. „Ich gehe dann als Magd zu euch und wenn die Meisterin recht alt ist ...“ Anna ließ den Satzes unvollendet in der Luft hängen, aber Hanns konnte sich auch so zusammenreimen, was in Annas Köpfchen vor sich ging. Das wurde ihm jetzt doch zu viel. „Ich geh jetzt und schau, was wegen dem Soldaten passiert und du schaust auch, dass du langsam in deine Socken kommst!“

Dienstag, der 2. März

Was Signor Poggibonsi mit Bürgermeister Stiermayr zu bereden hat.

Eine Gewalttat gegen kurfürstliche Soldaten musste die Obrigkeit auf den Plan rufen. Die vier Bürgermeister der Stadt trafen sich noch in der gleichen Nacht, denn sie befürchteten, dass sich aus dem Vorfall politische Verwicklungen ergeben könnten. Schnell waren sie sich einig geworden, dass die leidige Angelegenheit am Besten bei einem geschulten Juristen aufgehoben sei. Da traf es sich gut, dass der einzige Jurist unter ihnen, der Stadtrichter Christoph Stiermayr, turnusgemäß gerade das Amt des regierenden Bürgermeisters inne hatte. Ihm schoben sie die Sache zu.

Am Morgen holten zwei Gerichtsdiener Hanns ab. Die Büttel legten ihm keine Fesseln an und als sie mit ihm vor Schobers Haus traten, stießen sie ihn nicht mit ihren Spießen vorwärts, wie sie das sonst bei missliebigen Verhafteten gerne taten. Man schien die Sache nicht unnötig dramatisieren zu wollen. Die wenigen Gaffer verschonten ihn mit Schmähreden und nur ein Knirps gönnte sich das Vergnügen und warf einen gefrorenen Rossbollen nach ihm, verschwand aber blitzschnell hinter der nächsten Ecke, als Hanns zu ihm hinüber schaute. Sonst geschah nichts bis sie das wuchtige Rathaus mit seinem markanten Erker erreichten. Erleichtert bemerkte Hanns, dass er zu der Treppe geführt wurde, die aufwärts zu den Amtsräumen führte. Der Kerker wurde ihm also erspart, vorläufig jedenfalls. Im zweiten Stock bedeutete man ihm, er solle warten bis der Richter käme. „Da hockst’ ja sauber in der Scheiße“, meinte der eine von der Stadtwache noch mitfühlend, bevor er die schwere Eichentüre hinter Hanns schloss. In all den Jahren, die ins Land gezogen sind, seit ihn seine Mutter, Gott hab sie selig, in diese Welt gesetzt hatte, war er noch nie, oder um der Wahrheit die Ehre zu geben, fast nie, mit der gestrengen Obrigkeit aneinander geraten, bis heute. Er hoffte inständig, dass der vergangene Abend nichts daran ändern würde. Immerhin, gestand er sich ein, hatte er sich mit kurfürstlichen Soldaten angelegt und mindestens einen übel zugerichtet, aber „um die wallonische Drecksau, die verderbte, ist es nicht schad“, brauste er trotzig auf und fügte plötzlich unsicher geworden hinzu „Ist doch so, oder!?“ Langsam dämmerte ihm, dass die Angelegenheit vielleicht doch nicht ganz so einfach war, wie er gehofft hatte. Es beschlich ihn ein ungutes Gefühl, das umso stärker wurde, je länger er allein in dem schmalen Raum ausharren musste. In seiner Not stützte er den Kopf in die Hände und fing an zu beten. Er flehte darum, den vergangenen Tag oder, wenn das nicht möglich ist, wenigsten den Abend ungeschehen zu machen. Ihm wollte aber partout der Heilige nicht einfallen, der für ein derartiges Ersuchen zuständig war, und so kam es, dass sein Anliegen höheren Ortes nicht gehört wurde.