Read the book: «Geschwistergeschichten», page 8

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24 Caroline Schnyder-Wyttenbach, um 1930.

So bleibt das Bild der begnadeten Pädagogin und liebenden Mutter in allen Familiendarstellungen eigenartig rein von pfarrfraulichen Beschäftigungen, ihr Arbeitsumfeld wurde erst nach genauem und mehrmaligem Lesen der Quellen und unter Einbezug familienexterner Quellen sichtbar. Ob dies daran lag, dass Caroline Schnyder-Wyttenbachs Aufgabe als Pfarrfrau mit dem frühen Tod des Gatten endete? Zehn Jahre ihres Lebens war sie Lehrerin, 20 Jahre wirkte sie als Pfarrfrau und Mutter, 30 Jahre lang war sie Mutter und blieb die verwitwete Frau Pfarrer im Städtchen.

Der Tod Johannes Schnyders 1901 rief für die Familie, im Besonderen aber für Caroline eine existenzielle Krise hervor. Die Amtswohnung musste aufgegeben werden, das Einkommen wurde schmal, der Status als öffentliche Figur in einem öffentlichen Amt – dem der Pfarrfrau – endete offiziell durch den Tod des Gatten. Da das Pfarrhaus direkt mit dem Amt des Pfarrers zusammenhing, musste es mit dem Tod des Pfarrers für den nächsten Beamten frei gemacht werden. Dies bedeutete für die Familie einen aufwändigen Umzug: Zum Haushalt gehörten die Kinder Walter, 4-jährig, Paula, 10-jährig, Gertrud, 12-jährig, Karl, 13-jährig, Martha, 14-jährig, Rosa, 16-jährig, und Lilly, die 27-jährige Lehrerin. Zusätzlich im Haus wohnten Tante Julie, Meieli, die Köchin sowie ein Zimmermädchen. Das waren elf Personen, sechs Kinder, drei erwachsene Frauen und zwei Hausangestellte. Dieser grosse Haushalt zog nun in eine Mietwohnung. Als «männliche Stütze» übernahm Hans in Bischofszell das Amt des Posthalters.160 Das Hauswesen Carolines, zeitweise unterstützt durch ihre Schwester Rosa, war ein von Frauen bestimmter Raum. Die erwachsenen Töchter, von welchen regelmässig zwei bis drei zu Hause weilten, unterstützen das Bild eines fast ausschliesslich durch Frauen geprägten Haushaltes.

Caroline Schnyder blieb in engem Kontakt mit der neuen Pfarrfamilie und wurde weiterhin von vielen Bischofszellern als «Frau Pfarrer Schnyder» für Rat und seelsorgerische Hilfeleistungen gefragt. In ihrer Wohnung führten die Töchter Turnstunden für Arbeiterinnen durch,161 hier auch wurden Weiterbildungskurse angeboten. Obwohl der Tod ihres Mannes den Verlust des prestigeträchtigen Hauses bedeutete, blieb Caroline Schnyder selbst eine Respektsperson.

GEBURT UND TOD ALS MASSGEBENDE ERLEBNISSE

Die beiden Frauen von Johannes Schnyder brachten sechs respektive acht Kinder zur Welt. Geburten waren für sie prägende und einschneidende Erlebnisse. Die Geburt war freudiges Ereignis und bedrohliche Situation zugleich. Geburt und Tod lagen als Erfahrungen eng beieinander, wie es die Folge der Wochenbetten von Sophie Schnyder in der Beschreibung ihres Mannes sichtbar macht: «Segenszeiten ganz besonderer Art waren für uns beide ihre zwei langen Krankheiten vom April bis im Juli 1875 nach der Geburt Hedwigs und wieder von Hans. Beide Male war sie am Rand des Grabes, von den Ärzten aufgegeben, beide Male empfing ich sie von den Toten wieder aus der Hand Gottes, der da hilft und auch vom Tode errettet. Wir hättens nicht für möglich gehalten, dass wir uns lieber gewinnen könnten und doch kam in dieser Trübsal noch ein innigeres Zusammenleben als je zuvor zu Stande und verlebten wir in der Züchtigung selige Stunden, an die wir uns später nie anders als mit Freude und Dank erinnerten. [...] Entgegen der bestimmten Aussage der Ärzte wurde sie wieder völlig gesund und war überglücklich, als ihr ein zweiter, so recht gesunder Knabe, Hans, geschenkt wurde, am 29. August 1877, dessen liebliches Aufblühen und dessen herzliche Fröhlichkeit waren ihr unendlich viel Freude.»162

Betrachten wir die Zeitspanne von Sophies und Johannes’ Ehe, um die schnelle Folge der Geburten sichtbar zu machen: Nach der Hochzeit 1872 wurde die junge Pfarrfrau bald schwanger und brachte 1873 Ernst zur Welt, nur ein Jahr später die Tochter Lilly und noch einmal ein Jahr später, 1875, Hedwig. Von dieser Geburt erholte sich Sophie nur schwer. Nach drei Jahren fast dauernder Schwangerschaft wurde ihr nun eine Pause von einem Jahr gegönnt, bevor sie wieder schwanger wurde und 1877 Hans gebar, nach dessen Geburt die nun 33-jährige Frau wieder knapp dem Tod entrann. Interessant ist, dass die Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn Hans im Zusammenhang mit ihrer schweren Krankheit besonders betont wurde. Die Berichterstattung des Gatten hebt generell vor allem die Geburten der Söhne hervor. Die lange Reihe von Geburten wurde nur durch die schwere und lange Krankheit Sophies unterbrochen. Mit der von Johannes Schnyder als «Züchtigung» beschriebenen Prüfung, die im pietistischen Sprachverständnis die Prüfung Gottes meinte, die dem jungen Paar auferlegt wurde und durch welche sie sich noch näher kamen, mag auch ganz direkt die Züchtigung der körperlichen Lüste gemeint gewesen sein. Ehe und Fortpflanzung bildeten im bürgerlichen Kontext gottgegebene Gesetze, die untrennbar verbunden waren. Eine Pause von einem Jahr, die Sophie auch nach dem langen und problematischen Wochenbett von Hans nötig gehabt hätte, wäre einem Entgegenkommen des Mannes gleichgekommen, der seine Triebe in dieser Zeit hätte zügeln müssen.163 Von Sophies Bindung zu diesem fünften Kind, dem dritten Mädchen, das nur ein Jahr nach Hans zur Welt kam und dessen Geburt offensichtlich unproblematisch verlief, wird in den Quellen des Vaters gar nichts erwähnt. Die Quellen, auf die ich mich hier wie auch im Folgenden hauptsächlich stütze, sind die Aufzeichnungen Johannes Schnyders sowie die des Sohnes Ernst Schnyder, da sich keine schriftlichen Quellen der Frauen zu diesem Thema finden. Aus den Quellen werden das Leben, die Geburten und der Tod der Frau und Mutter sichtbar, wie sie der Gatte und der Sohn darstellten.

GEBURTEN

«Doch war sie oft recht in Sorgen wegen des bevorstehenden Wochenbetts und durchzuckten auffällige Todesahnungen ihre Seele: ‹Mama, wenn gohsch du ins Chilegräbeli?› frug der kleine Hans in letzter Zeit wiederholt, ohne erklärliche, äussere Veranlassung.»164

Johannes Schnyder beschrieb die Ängste der zum sechsten Mal vor einer Geburt stehenden Hochschwangeren durch die Worte ihres kleinen Knaben. Das vor einer Geburt aufkommende Todesahnen, das manche Frau befallen konnte, ist verständlich. Betrachten wir die Statistik, so starben im Kanton Aargau 1880 28 Frauen am Kindbettfieber.165 Ebenda starben im gleichen Jahr 370 Kinder vor vollendetem erstem Lebensmonat.166 Die Fälle, in welchen entweder das Kind oder die Mutter oder beide bei der Geburt umkamen, waren zahlreich. Für Sophie, die schon zweimal nach einer Geburt fast gestorben war, war die nahe Geburt eine grosse Sorge.

Bei der um 14 Tage verzögerten Geburt des sechsten Kindes war es der Frau des Pfarrers möglich, bei ihm Nähe zu suchen. So beschreibt Johannes, dass seine Frau noch am Vortag der Geburt bei ihm in der Studierstube ruhte, um in seiner Nähe zu sein. Als die Wehen einsetzten, wurde der Arzt gerufen.167 Der Verlauf dieser Geburt wurde von Johannes im Erinnerungsbild an seine Frau genau beschrieben. Dies wohl auch, um den Schock über den Verlust der Frau und des Kindes zu überwinden:168 Die Beschreibung der Ereignisse gibt einen guten Einblick in den Umgang mit dem Ereignis Geburt.

Vom ersten Juni an wartete die Familie auf die Niederkunft. Noch am 13. Juni hiess es, Sophie sammle Kräfte: Sie ging zur Kirche, liess sich Bibelverse vorlesen, machte einen grossen Sonntagsspaziergang mit ihren fünf Kindern und dem Mann. Am Tag darauf begann die Geburt. Wie der Gatte beschrieb, halfen Gebete, die Schmerzen zu ertragen.

Während der Geburt wurde die Frau von ihren Schwestern und Freundinnen begleitet. Der Mann war nicht anwesend.169 Wie sehr die Geburt als bedrohliches Ereignis durch Bibelsprüche und direkte Anrufung Gottes unterstützt wurde, beschrieb Johannes Schnyder eindrücklich: «Montag Morgen blieb sie liegen; mit besonderer Zärtlichkeit empfing sie mich, den zur Berufspflicht Weggehenden: ‹Hast du keine Angst?› fragte sie. Als Antwort las ich ihr Psalm 91, sowie auch die Losung: ‹Ich will über sie wachen, zu bauen und zu pflanzen, spricht der Herr› (Jer. 31, 28) und: Dein Volk ergibt sich deinen treuen Händen/sieh, es liebt dich; wollst dich zu ihm wenden/wache – unter unserm Dache!› Das stärkte sie. Nachher bat sie die Freundin, ihr noch Luk. 15 zu lesen und einige Gedichte aus den Maiblumen, die sie sehr liebte. [...] Bald stellten sich Schmerzen und ein befremdendes Frösteln ein. Erstere wurden gegen Mittag so heftig, dass der Arzt gerufen wurde, der gleich bedenklich wurde, die Schmerzen für die beginnende Geburt erklärte. ‹O Herr hilf, o Herr, hab Erbarmen› waren die Seufzer in den bangen Stunden. Um 3 Uhr wurde nach unendlich schwerem Ringen ein grosser Junge geboren, der die Namen Paul Georg tragen sollte. Mit welcher Freude begrüssten wir den Kleinen, den wir schon gefürchtet hatten, nicht lebend zu sehen. Die Schmerzen waren sehr, sehr gross.»170

Die freudige Begrüssung des schon tot geglaubten Kindchens und die grosse Leidensfähigkeit der Frau waren Auszeichnungen der Güte Gottes und des tiefen Glaubens an Gott, der durch Gebete und Sprüche aufrechterhalten und gestärkt wurde.171 Obschon das Kind bei der Geburt gross und stark schien, nahm es schnell ab und starb schon am ersten Tag nach seiner Geburt: «Das sonst so kräftige Knäblein hatte über der Geburt zu arg leiden müssen und es sollte eine himmlische Mission erfüllen und seiner Mama den Weg durchs dunkle Todestal erleichtern, indem es voranging. Um 8½ Uhr fanden wir es entschlafen, um droben aufzuwachen zu einem schönern Leben. Die liebe Kranke bewegte es tief; lange hielt sie das kleine Wesen im Arm und sprach sich selbst Trost zu mit dem Liede: ‹Wenn kleine Himmelserben etc.› »172

TOD

Der Tod des Neugeborenen bewegte die Mutter tief, wie Johannes Schnyder beschrieb. Sie hielt das tote Kind im Arm und tröstete sich selbst mit geistlichen Liedern. «Auch wenn es sozusagen an der Tagesordnung war, ein Kind zu verlieren, scheint die kollektive Erfahrung den individuellen Schmerz keineswegs gemildert zu haben.»173 Der Vater erklärte sich den frühen Tod damit, dass das Kind eine Mission zu erfüllen hatte: Es war eine Art Zeichen Gottes, und es bereitete der Mutter den Weg in den Tod vor. Entsprechend wurde die Leiche des toten Paul während des Kindbettfiebers von Sophie im Haus behalten. Am Donnerstag, zwei Tage nach dem Tod des Kindes, verlangte die Mutter die Leiche noch einmal zu sehen: «Dann wünschte sie noch einmal die kleine Leiche zu sehen. Sie streichelte das kleine, liebe Gesichtchen und sagte: ‹Wie gerne möchte ich Abschied nehmen von dir, aber ich bin so matt; lebe wohl. Auf Wiedersehen im Himmel!› »174 Die Sterbende tröstete sich an der Anwesenheit ihres toten Kindes. Wenigstens mit diesem würde sie nun bald im Himmel vereint sein.

Der Tod seiner Frau wurde von Johannes Schnyder als «das schwerste Opfer» angesehen, das Gott von ihm gefordert hatte und das ihm nicht erlassen wurde. Er betrachtete dies als eine Strafe, die er verdient hatte.175 Gott, der seinen Diener strafte und zurechtwies, indem er ihm das Liebste wegnahm, wurde dadurch zum gerechten Richter. Der Tod von Sophie erhielt einen tieferen Sinn. Er wurde zur Glaubensprüfung des Pfarrers. Johannes Schnyder schrieb seine Erinnerungen an den Tod seiner Frau, als er selbst todkrank war und nicht wusste, ob er wieder gesund würde. Der Text ist durchtränkt von Bibelzitaten, Kirchenliedern und Sprüchen. Die Kraft der Worte sollte dem Tod und dem Glauben Sinn verleihen und dadurch über die Trauer hinweghelfen. Die zitierten Stellen mussten nur angedeutet werden, da die Verse bekannt waren: « ‹Warum leidet man auch so ungern?› Fragte sie nach einer schlaflosen, peinvollen Nacht ihre Schwester Meta und lohnte die Antwort: ‹Unter Leiden prägt der Meister etc.› »176

Der Trost wurde durch den Vergleich mit dem Martyrium von Christus zur köstlichen religiösen Erfahrung erhoben. Dies entsprach dem philosophisch-psychologischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, «in welchem beispielsweise die Gebärfähigkeit von Frauen mit einer natürlichen Prädestination für grössere Leidensfähigkeit gleichgesetzt wurde. Dieser biologistischen Argumentation wurden oftmals religiös konnotierte Bilder der Frauen als demutsvolle Dienerinnen Gottes [...] beigesellt.»177 Dass diese Rolle bis hin zum Tod ertragen und als Weisung Gottes betrachtet werden musste, war eine Prüfung auf dem Weg zum erlösten Christ. «Dieses fatalistische Annehmen von Schicksalsschlägen – wie wir es heute vielleicht formulieren würden – beinhaltet die Unterwerfung unter Gottes Wille und Führung. Kein Aufbegehren gegen dieses Leid, im Gegenteil: ein Durchkosten.»178 So suchte auch zum Schluss der verzweifelte Johannes nicht nur Trost über ihren Tod bei Gott zu finden, sondern auch seine eigene Furcht vor dem Tod in Gottes Hand zu legen: «Den 23. Psalm wiederholte sie noch mit uns und betonte mit besonderem Nachdruck: ‹Und ich werde bleiben im Hause des Herrn ewiglich.› Auf den über ihr gesprochenen apostolischen Segen sprach sie als letztes noch das Amen und dann eilte sie hinweg im Feuerwagen Elia (während eines furchtbaren Gewitters!), um bei ihrem Herrn zu sein allezeit. Wir schauen aber hinweg über Grab und Verwesung zu dem, der abwischen wird alle Tränen von unseren Augen und bitten Ihn: Mein Gott, ich bitt durch Christi Blut/Machs nur mit meinem Ende gut!»179

Die Bedeutung der Lieder, Sprüche und Bibelverse war existenziell. Das Ritual des wiederholten Zitierens in unbegreiflichen Situationen war Stütze und Trost, es scheint, als bannten die Worte den unbenennbaren Schmerz und Schrecken. Die Zitate aus diesem Text, der etwa ab 1885 regelmässig am Todestag von Sophie gelesen und später als Abschrift an alle Kinder verschickt wurde, tauchen in sämtlichen Quellen der Geschwister Schnyder wieder auf. Sie dienten in Tagebüchern und Briefen als Stütze und Trost und wiesen den Weg in unerklärlichen, ungerecht erscheinenden Situationen, aber auch im unerwarteten oder als unverdient angesehenen Glück. Das Schreiben eines Nachrufes, in dem akribisch das vorbildliche Sterben einer gläubigen Christin, eines gläubigen Christen beschrieben wird, hat Tradition im Pietismus. Mit einem Gebet auf den Lippen zu sterben, mit dem Tod eins sein waren feste Bestandteile dieser Schilderungen. Auch diese Stilisierungen bedeuteten eine Möglichkeit, den Tod einer nahen Person zu verarbeiten.180 Beim Tod eines Neugeborenen vermittelte der protestantische Glaube nicht nur die Botschaft von der Ergebung in den Willen Gottes und die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung im Jenseits, sondern hielt durchaus Formeln und Riten bereit, um mit diesem schweren Ereignis umgehen zu können.181


25 «In cruce spes.» Grab von Frau Pfarrer Schnyder-Peyer und ihrem Sohn Paul in Zofingen.

Wie bereits oben erwähnt, blieb das tote Kind bis zum Tod der Mutter im Haus. Die Leichen wurden in einen gemeinsamen Sarg gelegt. In seinen Memoiren schrieb Ernst über die Beerdigung der Mutter: «Ich erinnere mich noch gut, wie ich an der Hand meines tief gebeugten Vaters zum Friedhof hinauswanderte. Und oftmals in den folgenden Jahren nahm uns der Vater mit an das Grab unserer Mutter und wir sangen dort das Lied: ‹Der Pilger aus der Ferne, zieht seiner Heimat zu.› »182

Der Gang zum Grab und das Singen des immer gleichen Liedes wurden zu einem wichtigen Ritual für die ganze Familie. Nicht nur gaben sie dem Einzelnen Trost, sondern sie schufen auch ein Gefühl der Verbundenheit mit den Geschwistern und mit der Verstorbenen. So schrieb Hedy mit 15 Jahren aus Môtiers, wo sie in Pension war, an ihren älteren Bruder Ernst, der in Neuenburg sein Theologiestudium begonnen hatte: «Am 17. Juni ist der Todestag von Mama, weisst Du’s noch, ich schicke wenn ich kann einen Kranz oder Blumen heim für aufs Grab. Das ist das erste Mal, dass ich an dem Tage nicht zu hause bin und nicht auf das Grab gehen kann. Das macht mich traurig, ein ganzes Jahr das Grab nicht zu sehen. Wie oft bin ich letztes Jahr wenn ich traurig war oder wenn Lilly mir fehlte auf das Grab gegangen und habe mich ausgeweint und wenn ich zurück kam fühlte ich mich wieder gestärkt. Hier wollte ich manchmal, ich hätte ein Grab um mich zu trösten. Wie gern wollte ich unsere liebe l. Mama lebte noch; aber es ist vielleicht besser so und wir haben wieder eine so liebe Mama die uns so treulich liebt und für uns sorgt, dass es unrecht wäre, sich zu beklagen, es kommen mir nur manchmal solche Gedanken, die sich dann verfolgend ausbreiten, besonders Abends im Bett.»183

Hedwig war beim Tod ihrer Mutter fünfjährig. Für sie waren die älteren Geschwister und das vertraute Umfeld, in welchem sie sich zumindest noch am Grabe mit der Mutter austauschen konnte, wichtiger Identifikationspunkt und Überlebensstrategie in der immer grösser werdenden Schar der Stiefgeschwister. Mit der Platzierung im Welschland war sie weit entfernt vom Grab der Mutter, für welches sie nur noch «einen Kranz oder Blumen» senden konnte. Die Sehnsucht nach den fehlenden Geschwistern konnte sie nur mit Briefen stillen.

Wie stark der Tod der ersten Frau Johannes Schnyders sich auch auf die Kinder aus zweiter Ehe auswirkte, kann nur erahnt werden. Es ist sicher, dass Caroline Schnyder-Wyttenbach eine sehr gute und nahe Beziehung zu ihren Stiefkindern pflegte. Gleichzeitig scheint die Beziehung des Vaters zur neuen Frau im Schatten der ersten Liebe gestanden zu haben. Dies wurde bereits in der Darstellung der Rolle Carolines als Mutter gezeigt. Sophie, die erste Tochter aus zweiter Ehe, gewichtete die Tatsache schwer, dass sie den Namen der ersten Frau trug: «Ich bin am 19. Dez. 1882 in Zofingen als das erste Kind aus zweiter Ehe meines Vaters Johannes Schnyder mit Caroline Wyttenbach, Lehrerin von Bern geboren. 5 kleine Kinder aus erster Ehe nötigten ihn fast, sich bald wieder zu verheiraten und so glaube ich, dass meine Mutter zu Anfang wohl öfters empfand, dass mein Vater noch viel an seine erste Frau dachte, deren Namen ich erhielt. Diesem Umstand schreibe ich es in der Hauptsache zu, dass ich von klein auf nie recht das Gefühl hatte, als ob meine Mutter mich liebte und ich habe mit meinem heissen liebehungrigen Herzen viel darunter gelitten.»184

Sowohl die zweite Gattin als auch deren erste Tochter litten unter einem Liebesentzug, der mit dem Tod der ersten Frau zusammenhing. Während Caroline sich wohl gewünscht hätte, ihr Mann würde sich ihr mehr zuwenden, und das kleine Mädchen, das nun mit dem Namen der Verstorbenen eine Art Wiedergeburt darstellte, vielleicht beneidete, litt Sophie unter dieser Missgunst ihrer leiblichen Mutter, während sie das grosse Vertrauen ihres Vaters genoss.

Starb eine Frau nicht bei der Geburt und das Kind überlebte die ersten heiklen Wochen, so war die Chance immer noch gross, es an einer Krankheit zu verlieren. Das zweite Kind Carolines, das wie sein verstorbenes Brüderlein auf den Namen Paul getauft wurde, starb mit nur zwei Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung. Das Kind wurde auf dem Friedhof in Zofingen beigesetzt, und wieder fand die Familie Trost im Gesang am Grab: «Furchtbar schwer trug unsere Mutter und mit ihr das ganze Haus am Krankenlager und Tod des zweiten Bübleins, Paul, das 1884 geboren, schon 1886, im Herbst wieder heimgerufen wurde. Mutter hat jahrelang dem besonders herzigen und liebenswürdigen Knaben nachgetrauert und ihn nie vergessen ob dem wachsenden Kindersegen. Die Eltern haben uns oft um des Kleinen Grab versammelt und wir sangen im Chor des befreiten Seelchens Lieblingslied: ‹Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh?›, das der Kleine, ohne den Sinn der Worte zu verstehen, in gesunden Tagen mitgesungen hatte.»185

Die Seele des Kleinen wurde als «befreit» betrachtet, da sie schon im Himmel war und nicht mehr durch das irdische Jammertal gehen musste. Die Mutter litt aber sehr unter diesem Verlust und konnte wenig Trost in dieser Gewissheit finden. Der Umzug der Pfarrfamilie nach Bischofszell wurde für Caroline vor allem der Distanz zum Grab ihres verstorbenen Jungen wegen als besonders schwierig bezeichnet. Erst die Geburt des kleinen Walter in Bischofszell habe sie über das verwaiste kleine Grab in Zofingen etwas getröstet.186

In den Memoiren von Ernst wie auch in den Erinnerungen an den Vater von Lilly und von Sophie wird der Tod des kleinen zweijährigen Bruders auch als schwerer Schlag für den Vater beschrieben. Der Tod des kleinen Bruders war auch für die überlebenden Geschwister ein einschneidendes Ereignis. Sophie, die gemeinsam mit dem Verstorbenen an Lungenentzündung erkrankte, jedoch davon wieder gesund wurde, beschrieb das plötzliche Verschwinden des Spielgefährten als traumatisches Erlebnis: «Ich bekam bald ein Brüderchen, an dem meine Mutter furchtbar hing. Wir wurden beide zusammen krank an Lungenentzündung und er starb, als er etwa 3 und ich 4 Jahre alt war und ich suchte nachher meinen kleinen Spielkameraden im ganzen Haus und meine Mutter wollte sich nicht trösten lassen.»187

Interessant ist die Tatsache, dass die Namengebungen der Kinder Bindungen und Erwartungen mit sich brachten. Diese Tatsache trat beim Weitergeben des Namens eines verstorbenen Menschen besonders stark hervor. So empfand Sophie ihren Namen als Hindernis, von ihrer eigenen Mutter geliebt zu werden. Mit ihrem Namen war sie Trägerin der vergangenen Liebe des Vaters geworden, die für die neue Frau unzugänglich war. Der kleine Junge Paul, der den Namen des verstorbenen Säuglings der ersten Frau erhielt, war die grosse Hoffnung Carolines. Der neue Paul hätte den Gatten über den verstorbenen Paul der ersten Frau wegtrösten können.188 Sein Tod scheint für Caroline zu einer nicht wieder gutzumachenden Tragödie geworden zu sein: Sie wollte sich nicht trösten lassen. Diese Haltung war innerhalb des pietistischen Gedankenguts wenig gläubig, da sie damit nicht den Willen Gottes akzeptierte, sondern ihren Schmerz um den Verlust des Kindes in den Vordergrund stellte. Der untröstliche Schmerz um den Verlust des Kindes mag auch Spiegel der sinkenden Kindersterblichkeitsrate des ausgehenden 19. Jahrhunderts sein. Besonders deutlich zeigt sich dies am Tod des ersten Kindes von Luise und Ernst, dem Ältesten. Es starb 1906, nur wenige Wochen alt, an einer Lungenentzündung. Das kleine Mädchen war eine Frühgeburt, die Überlebenschancen zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch gering, vor allem in den kalten Wintermonaten: «Sie war zu früh gekommen, musste sehr sorgfältig warm gehalten werden. An einem Sonntag, wo der elektrische Strom, ohne dass wir es wussten, abgestellt wurde, erkältete sich das Kind, wurde krank und starb in der Nacht vom 25./26. Dezember. Luise bekam hohe Fieber, der Arzt musste täglich kommen. Das war unsere erste, gemeinsame Weihnacht.»189

Das Kind wurde auf dem Friedhof beigesetzt, nur der Bruder der Gattin Luise und dessen Ehefrau nahmen an der Beerdigung teil: «Willy hatte dasselbe erlebt mit seinem ersten Kind.»190 Das junge Paar stärkte sich mit schon erfahrenen Eltern, die wussten, in welcher Verfassung sich Luise und Ernst befanden. «Die Fortschritte der Kindermedizin, die Aufklärung über die Funktion von Ernährung und Hygiene und nicht zuletzt die sanitarischen Untersuchungen der Schulkinder trugen wesentlich zur sinkenden Kindersterblichkeit des späten 19. Jahrhunderts bei. Im protestantisch-industrialisierten Milieu galten kranke oder sterbende Kinder zunehmend als Hinweis auf ein Versagen der Eltern.»191 Dementsprechend wurde es in Ernsts Beschreibung wichtiger, zu erklären, weshalb sich das Kind erkältet hatte, als Gottes Wille zu betonen. Die Erklärung allerdings mutet eigenartig an: Der elektrische Strom hatte ausgesetzt. Das Versagen des vollkommen neuen technischen Hilfsmittels, das offenbar bereits zur Erwärmung des Frühgeborenen helfen konnte, hatte tödliche Folgen. Inwiefern der Einsatz der modernen Technik zur Erwärmung des Frühgeborenen zu einem besonderen Schuldgefühl führte, kann hier nicht beurteilt werden.192 Auch Hans und Hedwig Schnyder-Häberli auf der Post in Bischofszell hatten den frühen Tod eines kleinen Sohnes zu beklagen. Die jüngste Tochter, Beth Werner-Schnyder, erinnerte sich noch im hohen Alter daran, dass ihre Eltern den Verlust des Sohnes nie verwunden hätten. «Kein Geburtstag und kein Todestag wurden je vergessen.»193

Während der Verlust der Frau oder eines Kindes schmerzhaft war, riss der Tod des Pfarrers eine Lücke, die nicht durch einen angeheirateten Ersatz geschlossen werden konnte, sondern eher durch ältere Geschwister und Verwandte abgefedert werden musste. Der frühe Tod eines Landpfarrers löste allgemein das ganze Familienleben auf. Das Pfarrhaus musste verlassen werden, und die Zukunft war, da kaum Absicherungen für Alte und Hinterlassene existierten, höchst problematisch.194