Geträumte Welten - Anthologie fantastischer Autoren

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Daniela Zörner, Michael Haag, Paul M. Belt, Frank W. Werneburg, C. Hennings, Anne K. Ramin, Veronika Bärenfänger, Emilia Lynn Morgenstern, Bjela Schwenk, Yves Patak

Geträumte Welten - Anthologie fantastischer Autoren

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Vorwort

Wunschzauberfluch

Daniela Zörner

Am Ende des Tages

Yves Patak

Fabel

Bjela Schwenk

Loyalität hat keine Grenzen

Michael Haag

Rebecca

Frank W. Werneburg

Der kleine Liebesgott

Emilia Lynn Morgenstern

Neues aus Nian

Paul M. Belt

Unjo

Veronika Bärenfänger

Der Pakt

Anne K. Ramin

Alpentraum

C. Hennings

Impressum neobooks

Impressum


Anthologie fantastischer Autoren



Rechtliches:

© 2018 auf das Gesamtwerk

Alle Rechte vorbehalten


- Gemeinschaftlich herausgegeben von den mitwirkenden Autorinnen und Autoren der Anthologie -


Die Rechte der einzelnen Texte liegen vollständig bei den jeweiligen Verfassern. Jede Verwertung ist ohne deren Zustimmung unzulässig.

Besonders Vervielfältigung, Übersetzung oder öffentliche Zugänglichmachung kann zur Anzeige gebracht werden.


Autorinnen und Autoren im Einzelnen:

Daniela Zörner, Michael Haag, Frank W. Werneburg, Yves Patak, Emilia Lynn Morgenstern, Paul M. Belt, Bjela Schwenk, C. Hennings, Veronika Bärenfänger, Anne K. Ramin


Coverkonzept und Gestaltung:

© 2018 Stefan Andlar

Bildauszug: Eclipse-II © Jie Ma

Schriften: Galeria Coruna, Castellar, Riesling

Alle Rechte bei den Urhebern


Kontaktdaten:

Daniela Zörner, Hobrechtsfelder Chaussee 170a, 13125 Berlin, presse.ratio@t-online.de

Vorwort



Oftmals verlieren sich Ideen unbeachtet in der Zeit – doch manchmal verführt uns eine mitreißende Idee, ein neues Werk zu erschaffen, neuen Geschichten fantasievolles Leben einzuhauchen. Deshalb versammelten sich zehn Erzählende hier in dieser Anthologie.

Sie erschufen kurze Geschichten, die verfasst mit großer Leidenschaft, vor allem eines wollen – gelesen werden.


Unsere „Geträumte Welten“ unterscheiden nicht zwischen urbaner Fiktion, mittelalterlichen Welten mit magischem Glanz, fabelhaften Wesen, unheilvollen Zusammenkünften, unnatürlichen Wandlungen oder göttlichen Vorhersehungen.

Denn Fantasie ist grenzenlos, für Lesende wie Schreibende, ob auf Erden oder weit jenseits davon.


Taucht ein in unsere Anthologie, lernt neue Autorinnen und Autoren kennen, entdeckt ihre Werke und genießt ihre erschaffenen Welten.


In diesem Sinne wünschen wir eine fantastische Lesezeit!

Wunschzauberfluch

von

Daniela Zörner



Ein dunkler Schatten fiel durch die offen stehende Küchentür herein. „Das Kind gehört den Göttinnen. Sein Schicksal ist besiegelt“, murmelte die Dorfhexe und humpelte davon.

Am späten Abend ihres von allen Menschen vergessenen 16. Geburtstags sitzt Birgit mal wieder bei weit geöffnetem Fenster bibbernd auf der harten Fensterbank. Im Zimmer herrscht völlige Finsternis. Sie hält Ausschau nach Orion, ihrem Lieblingssternbild, und, aber das würde sie angesichts ihres nun fortgeschrittenen Alters keinesfalls zugeben, linst nach Sternschnuppen.

Diese insgeheim besondere Nacht ihres Lebens führt jedoch etwas viel Bedeutenderes als Sternschnuppen herbei. Die Sterne selbst scheinen Birgit einen Schicksalsfaden hinab zu senden, dem die Elbe Elin folgt.

„Du wirst dich erkälten.“

Angesichts der fremden, nahen Stimme in ihrem Zimmer dreht Birgit sich so ruckartig um, dass sie von der schmalen Fensterbank fällt und schmerzhaft auf den grauen Filzboden knallt. „Aaah, aua.“ Ihre Gedanken sprießen derweil ins sinnfreie Kraut, ihre Augen glotzen, ihr Mund öffnet sich ungebeten bis zum Gähnweitenanschlag. Die Erscheinung neben ihrem Klapptisch sieht aus wie Barbie im Hochzeitskleid für Fortgeschrittene. „Ist das ein Mensch? Eine zu groß geratene Fee?“ Birgit versucht ihr Gedächtnis zu durchwühlen. „Eine weiße Hexe? Eine echte Zauberin? Oder – etwa ein Engel ohne Flügel? Dann wäre die einzig mögliche Erklärung: Ich muss gerade gestorben sein.“ Birgit runzelt die Stirn. „Nein, das wüsste ich dann bestimmt.“

Vielleicht 30 Sekunden später erfasst Birgit das absolut Fantastische an der überwältigenden Erscheinung: „Si-ie leu-leuchtet!“

„Mein Name ist Elin. Ich bin eine Elbe.“ Ebenso nüchtern hätte sie sagen können: „Das Wetter bleibt frostig.“

Das darauf folgende Schweigen dauert gefühlt so lange wie die große Pause in der Schule. So sehr sich Birgit bemüht, das ganze Gesicht des fremden Wesens zu erfassen, sieht sie einzig die seltsamsten Augen, in die sie je geblickt hat. Weder feindliche noch freundliche Augen. „Irgendwie komisch unergründlich“, denkt Birgit, während ihr Hinterkopf nach einer logischen Erklärung für die fantastische Szenerie sucht. „Ich muss auf der Fensterbank eingeschlafen sein.“ Gleichzeitig flirrt durch ihre Gedanken: „So merkwürdige Augen.“

„Du, Kind, trägst Sternenlicht in dir.“

Birgits Verstand merkt auf. „Das ist bloß wieder ein Albtraum über meine doofe Mutter!“ Niemand sonst nennt sie ausschließlich Kind anstatt Birgit – oder, na ja, Igitt, in der Schule.

Wäre in dem Augenblick ein höchst selten vorkommender Halbelb anwesend, der ein winziges bisschen über Elben weiß, so könnte jener Halbelb das Mädchen warnen: „Elin verfolgt mühelos all die unausgesprochenen Gedanken in deinem Kopf.“ Doch niemand klopft an die Zimmertür, um Birgit über die peinliche Tatsache aufzuklären. Und die anwesende Elin hält derlei Offenbarung für überflüssig. Elben geben höchst ungern Geheimnisse preis. Auch sonst sind die Lichtgeschöpfe sehr zugeknöpft.

Gerade weist besagte Elbe mit ausgestrecktem Leuchtarm auf die noch herunter geklappte Arbeitsplatte. Buchstäblich aus dem Nichts erscheint dort im schemenhaften elbischen Licht ein Gegenstand. Birgit japst. Gleichzeitig flammt die Deckenlampe auf.

Mäßig erstaunt, da sie fest an einen Traum glaubt, fragt Birgit: „Ein Buch?“

„Ein Geschenk für dich.“

„Ein Geschenk? Für mich?“, wiederholt das Mädchen fassungslos. Selbst für einen Traum ist das ein unvorstellbares Ereignis. Ihre hartherzige Mutter macht Birgit grundsätzlich keine Geschenke, egal ob zum Geburtstag oder an Weihnachten oder auch nur ein Osterei. Deshalb wünscht Birgit sich von erhaschten Sternschnuppen manchmal Dinge wie einen kleinen Fernseher für ihr winziges Zimmer. Im Wohnzimmer, dem Herrschaftssitz ihrer Mutter, befindet sich selbstverständlich ein Fernsehgerät. Doch beides ist für die zähneknirschend geduldete Tochter tabu. „Geh sofort auf dein Zimmer“ und „sei leise“ sind die meist gehörten – halt, nein, es fehlt noch „räum die Küche auf“ – und beinahe einzigen Verlautbarungen der Mutter.

Die Elbe unterbricht ihre abschweifenden Gedanken. „Du solltest jetzt schlafen. Wir unterhalten uns morgen früh weiter.“

„Aber das geht nicht!“, protestiert Birgit viel zu laut. Erschrocken schlägt sie sich die Hand vor den Mund. Hoffentlich hat ihre Mutter das nicht gehört, sonst setzt es ein fieses Donnerwetter. Leise erklärt Birgit: „Samstags muss ich die gesamte Wohnung putzen.“

 

Doch die Elbe ist bereits verschwunden. Kurz starrt Birgit auf die Stelle ihrer Entscheinung. Dann siegt die Neugier. Rasch rappelt sie sich vom Fußboden auf und greift nach dem Buch. „Oh!“ Auf dem kostbaren weißen Ledereinband ist das Symbol Ying und Yang eingraviert. „Wie wunderschön!“ Behutsam streicht sie mit den Fingern darüber, bevor sie das Buch aufschlägt. Nichts als leere Seiten. „Etwa ein dämliches Kleinmädchen-Tagebuch?“ Also tatsächlich alles nur ein Albtraum. Tief enttäuscht geht sie zu ihrem viel zu kurz gewordenen Kinderbett, faltet ihre Beine unter die Decke und schläft umgehend traumlos ein.

Unsichtbar steht die Elbe Elin, einer Statue gleich, am Fenster und wacht über das auserwählte Menschenkind.

Kaum ist Birgits Mutter am Samstag pünktlich um 7 Uhr 30 zur Apotheke aufgebrochen und hat ihre Tochter daraufhin erleichtert tief Luft geholt, steht die Elbe weiß leuchtend in der Küche.

Zwar widerstrebt es Elin, die grobe Menschensprache auch noch laut auszusprechen. Elben unterhalten sich grundsätzlich von Gedanke zu Gedanke in ihrer eigenen melodischen Sprache. Dennoch sagt sie höflich: „Sei gegrüßt.“

„W-was?“ Birgit will nicht. Nicht in ihrer geliebten samstäglichen Ruhe gestört werden und schon gar nicht verrückt geworden sein. Sie knallt ihre Fäuste auf den Küchentisch. „Autsch!“ Wütend blickt sie die Elbe an. Wütend kann Birgit richtig gut – wenn auch nur innerlich, dafür hat ihre Mutter gesorgt. „Du bist bloß ein Albtraum. Ich will, dass er jetzt auf der Stelle endet.“

„Sei bitte nicht kindisch.“

Statt einer frechen Antwort springt Birgit auf, flüchtet ins Bad, verriegelt die Tür und setzt sich auf den Toilettendeckel. Drei Möglichkeiten stehen in ihrem aufgewühlten Kopf zur Auswahl: „Ich träume noch immer, ich bin durchgeknallt, Mutter hat mir etwas Giftiges in meinen Früchtetee getan.“ Beharrlich drängen Tränen aus ihren Augen hervor. „Ich will aufwachen“, schluchzt sie verzweifelt. Dickköpfig schiebt Birgit laut nach: „Kindisch benehme ich mich? Eben noch war ich ja auch ein Kind!“ In ihrem Hinterkopf erklingt: „Aber jetzt bist du 16 Jahre alt.“ Der schwergewichtige Gedanke löst etwas Neues in ihr aus. Stoisch wischt Birgit die Tränen ab, steht auf und geht, über sich selbst erstaunt, zurück in die Küche.

Die Elbe hat sich anscheinend keinen Zentimeter vom Fleck bewegt.

„Setz dich her und frühstücke. Du bist viel zu dürr.“

Birgit blickt in den leeren Brotkorb. Da nimmt sie eine Bewegung im Augenwinkel wahr. Mitten auf dem Küchentisch steht jetzt ein fremder Teller voll mit merkwürdigen Schnittchen. Fragend blickt sie die Elbe an.

„Das sind Sandwiches.“

Mit spitzen Fingern greift Birgit zu, knabbert ein Eckchen ab, kaut und schluckt mit Verwunderung hinunter. „Hmmh!“ Drei Happen und das erste Sandwich ist verputzt. Ungeniert greift sie zum zweiten, zum dritten. „Richtig satt machen Ihre Schnittchen aber nicht.“ Dabei angelt sie sich forsch das vierte von dem Teller. „Haben Sie das gezaubert? Können Sie auch leckeren Kakao zaubern?“

Ein großer Becher mit herrlich duftendem Kakao taucht vor Birgit auf. „Ich träume das.“

„Nein.“

„Dann bin ich wirklich verrückt geworden?“

„Nein.“

Ängstlich presst Birgit den dritten Versuch hervor: „Tot?“

„Nein.“

„Aber?“

Die Elbe setzt sich auf den zweiten Küchenstuhl. „Ein Teil deiner Seele stammt von uns Elben ab.“

„Das ist doch ein Märchen“, protestiert Birgit.

„Muss es deshalb falsch sein?“

Das Menschenkind schaut Elin unsicher an. „Märchen sind für Kinder.“

„Was du nicht mehr bist. Dennoch sitze ich hier ganz real.“

„Kein Traum?“

„Nein.“

„Aber – woher kann ich das wissen?“

„Was sagt dir dein Herz, dein Gefühl?“

„Mein …?“ Das ist die seltsamste Frage, die ihr je gestellt wurde. Verwirrt lauscht Birgit versuchsweise dem Gefühlschaos in ihrem Innern. Minuten verstreichen.

„Das macht mir Angst“, piepst sie kläglich. „Da ist eine Stimme oder ein Gefühl oder ich weiß auch nicht. Jedenfalls sagt die, Sie sind wirklich. All das hier ist wirklich.“

„Du musst deiner Herzensstimme reiner Wahrheit vertrauen. Sie kann dich leiten, dir helfen, wenn dein Kopf versagt.“

Für ein zustimmendes Nicken fehlt es Birgit noch an Mut und wirklichem Verstehen. Stattdessen fragt sie die mysteriöse Lichtgestalt schüchtern: „Wenn Sie so etwas Ähnliches wie ein Engel sind, wo sind dann Ihre Flügel?“

„Uns Elben wurden keine Flügel gegeben.“

In den blaugrauen Elbenaugen entdeckt Birgit eine frische Spur von Traurigkeit. Plötzlich ist ihr der Heißhunger vergangen.

Elin wechselt abrupt das Thema. „Deine lockigen Haare gefallen dir nicht. Richtig?“

Unbewusst zwirbelt Birgit seit Minuten mit dem Zeigefinger in ihren haselnussbraunen Locken herum. Pausenlos beneidet sie die Mädchen mit seidig glatten Haaren an ihrer Schule. Der Groschen fällt. In freudiger Erwartung reißt Birgit die Augen auf. „Könnten Sie …?“

„Geh zum Badspiegel“, befiehlt Elin.

Aufgeregt spurtet das Menschenkind ins Bad, guckt in den Spiegel und – „Iiiiih! So sehe ich mit glatten Haaren aus?“

Die Elbe tritt hinter Birgit und befindet trocken: „Ebenso gut könntest du dir gleich einen Fluch an den eigenen Hals wünschen.“ Scharf blickt sie Birgits Spiegelbild an. „Was lernst du daraus?“

„Erst genau überlegen vor dem Wünschen?“, flüstert Birgit eingeschüchtert.

„Das wäre ein Anfang.“

Nach der unglaublichen Peinlichkeit mit ihren Haaren verspürt Birgit den dringenden Wunsch, ihren leuchtenden Gast schnell loszuwerden. „Ähem, ich muss jetzt wirklich die Wohnung putzen.“

„Eure Wohnung ist geputzt.“

Der Badspiegel blinkt plötzlich fast wie neu, das Waschbecken glänzt, die Badewanne sieht aus wie poliert und der Fußboden ist streifenfrei gereinigt. Mit offenem Mund marschiert Birgit durch den perfekt gereinigten Flur in die Küche. Kein noch so winziger Krümel verunziert den blanken, leer geräumten Esstisch.

„Aber wieso – was tun Sie da?“, ruft Birgit halb entsetzt und halb begeistert angesichts echter Magie. Wobei ihre Gedanken unentwegt flüstern: „Ich träume. Ich träume. Ich träume.“

„Zaubern nennt ihr Menschen das.“

„Ja, ja. Aber warum?“

„Damit wir heute genügend Zeit finden, in dir ebenfalls solch eine lichtmagische Fähigkeit zu erwecken.“

„Lichtmagisch?“ Birgit ist vollkommen verwirrt. „Aber was soll das sein?“

„Wie ich gerade sagte“, seufzt Elin, „nennt ihr Menschen es Zauberei.“

„Aber wer sind Sie überhaupt?“

Langsam ist Elin mit ihrer Geduld am Ende. „Eine Elbe, wie ich dir bereits gestern Abend erklärte.“

An eine Erklärung kann sich Birgit keineswegs erinnern. „Aber woher kommen Sie so plötzlich und warum klingeln Sie nie?“

„Das erfährst du später. Nun haben wir Wichtigeres zu tun“, versetzt die Elbe.

„Aber …!“

„Entweder du reißt dich jetzt zusammen und konzentrierst dich auf das Wesentliche, oder ich nenne dich ‚Miss Aber‘“, droht Elin.

Wie in der blöden Schule“, denkt Birgit, „bloß keine Fragen stellen.“ Übellaunig setzt sie sich erneut an den Küchentisch. Gesenkten Hauptes schaut sie auf ihre gefalteten Hände. „Ich will wieder allein sein, so wie vor meinem Geburtstag. Nie hat sich irgendwer für mich interessiert. Und jetzt habe ich hier zuhause solch eine Oberlehrerin am Hals.“

Die Elbe zieht eine Augenbraue hoch, verkneift sich jedoch einen scharfen Kommentar zu den aufmüpfigen Gedanken ihrer Schülerin.

Elin hat sich die Aufgabe, einen störrischen Teenager zu unterrichten, ebenfalls nicht ausgesucht. Doch als pflichtbewusste Dienerin unter den Elben erfüllt sie seit ungezählten Jahrhunderten klaglos jeden Auftrag. Mehrere Jahrzehnte verschlang allein ihre Suche nach dem besonderen Kind.

Laut verkündet Elin: „Genug für heute. Wir treffen uns morgen nach dem Frühstück am Springbrunnen im Stadtpark.“

„Aber …“ Verdutzt schaut sich Birgit in der leeren Küche um. „Ja! Mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Endlich allein.“ Bestens gelaunt geht sie in ihr Zimmer, um es sich mit einem spannenden Buch aus der Leihbücherei am putzfreien Samstag gemütlich zu machen. Doch ihr Hinterkopf echot beharrlich: „Lichtmagisch.“

Am Abend erhält der denkwürdige Tag einen schier unvorstellbaren Abschluss. Kopfschüttelnd betritt Birgit ihr Zimmer, während sie denkt: „Mutter hat wahrhaftig zum ersten Mal kein mauliges Wort über schlampig ausgeführte Putzarbeiten verloren.“ Zum ersten Mal, seit sie alt genug dafür ist, muss Birgit am Sonntagmorgen nicht nachputzen.

Um 7 Uhr deckt Birgit, wie immer sonntags, den Frühstückstisch. Aus heiterem Himmel fällt ihr die unfreiwillige Verabredung ein. „Da gehe ich keinesfalls hin. Das alles habe ich vergangene Nacht bloß geträumt.“ Nein, sie würde gleich in ihrem tollen Roman weiterlesen und den Sonntag genießen. Punkt.

Kaum hat es sich Birgit auf ihrem Bett gemütlich gemacht und vier, fünf Seiten gelesen, passiert das Unausweichliche: Die Elbe steht vor dem Bett.

„Warum lässt du mich am Springbrunnen warten?“

Birgits Gedanken verknoten sich, das ist zu viel des Albtraumhaften. „Bitte – nein - ich – äh …“

„Zieh dich warm an, draußen herrscht Frost.“

„Verschwinden Sie! Lassen Sie mich in Ruhe!“, platzt es aus Birgit heraus. Tränen rinnen aus ihren Augen hinab. „Ich verstehe das alles nicht. Gehen Sie endlich!“

Doch Elin setzt sich auf die Bettkante und betrachtet das Mädchen. „Welch hoffnungsloser Fall“, geht ihr durch den Kopf. „Wäre die Angelegenheit von weniger schicksalhafter Bedeutung, würden meine Sternschwestern das unbedarfte Kind sicher in Ruhe lassen.“

Der Stadtpark liegt verlassen vor ihnen. Obwohl die Elbe ein flottes Tempo vorgegeben hat, schlottert Birgit in ihrer fadenscheinigen Winterkleidung vor Kälte. Elin jedoch trägt allein ihr weißes, langes Kleid und, wie Birgit unterwegs irritiert bemerkt hat, keine Schuhe. Wüsste das Menschenkind obendrein, dass die Elbe für niemanden, ausgenommen es selbst, sichtbar ist, wäre es garantiert zum ersten Tobsuchtsanfall seines Lebens gekommen. Das Auftauchen und Verschwinden der elbischen Erscheinung mitsamt einer Vielzahl anderer schwergewichtiger Fragen verdrängt Birgit meisterlich. Stattdessen zappeln ihre Gedanken unentschieden zwischen Märchen, Albtraum und Schauerroman wie eine Spinnenbeute am klebrigen Schicksalsfaden.

Mit Raureif überzogene Pflanzen glitzern in der Morgensonne. Die üblichen Gassigeher haben den Park bereits verlassen. Elin steuert auf den zugefrorenen Springbrunnen zu. Trotz dünner Eisschicht ist das Glitzern der vielen hinein geworfenen Glücksmünzen zu sehen. Als die Elbe ihre Hand ausstreckt, liegen darauf sechs Pfennigstücke.

„Sie gehören dir.“

Birgit bekommt einen knallroten Kopf. „Ab – aber woher …?“

„Die richtige Frage lautet eher, was das soll“, versetzt Elin. Zugleich hebt sie abwehrend ihre Hände. „Erspare uns bitte den Kinderkram.“

Trotzig dreht Birgit sich um.

„Hier geblieben!“

„Sie haben mir gar nichts zu befehlen. Mit Fremden soll man ohnehin nie mitgehen.“

„Und was tust du dann verbotenerweise hier?“, verlangt die Elbe mit hochgezogenen Augenbrauen zu wissen.

Bevor Birgit sich auf die Zunge beißen kann, flutscht ihr heraus: „Lichtmagie.“

„Verrate mir zunächst einmal, was du dir sehr ernsthaft wünschen würdest, wenn du wüsstest, dass deine Wünsche tatsächlich in Erfüllung gehen.“

Obwohl Birgit sich denken kann, dass sie die absolut falsche Antwort gibt, sprudelt sofort aus ihrem darbenden Herzen: „Ich möchte furchtbar gerne ein Bücherregal in meinem Zimmer, voll mit meinen Lieblingsbüchern. Auch einen kleinen Fernseher. Außerdem möchte ich zuhause anständiges Essen bekommen – und überhaupt eine richtige Mutter.“ Grübelnd legt sie den Zeigefinger an ihre Unterlippe. „Ja, richtiges Taschengeld und so schicke Anziehsachen, wie es andere Mädchen in meiner Klasse haben. Dann bessere Schulnoten, am besten ohne Schularbeiten erledigen zu müssen. Oh, und ein Fahrrad!“ Treuherzig, mehr noch erwartungsvoll blickt Birgit die Elbe an.

Während die egoistischen Wünsche an Elin abgeprallt sind, hat sie etwas Erstaunliches bemerkt. „Das Menschenkind wünscht sich keine Freunde.“ Wie tief muss es sich in seiner jahrelangen, von der schwarzseeligen Mutter erzwungenen Einsamkeit vergraben haben. Denn offenbar betrachtet es die Einsamkeit als seine einzig denkbare Freundin. „Nie im Leben kann das kleine Mädchen eine Prophezeiung von schicksalhafter Bedeutung für die Menschheit erfüllen. Was haben sich meine Sternschwestern nur dabei gedacht?“ Elin schüttelt innerlich den Kopf. „Bleibt zu hoffen, dass das Kind an der Aufgabe, seine lichtmagische Begabung zu erwecken, scheitern wird.“ Seufzend gibt die Elbe laut von sich: „Ist dir nie in den Sinn gekommen, deine Wünsche könnten funktionieren, sobald sie keinem egoistischen Eigennutz entspringen? Wenn sie aus reinster Seele und reinstem Herzen kommen?“

 

„Ich habe meiner Mutter mal eine fette Warze an die Nase gewünscht. Auch das hat nicht geklappt.“

„War das ein herzensreiner Wunsch?“, fragt Elin tadelnd.

Entrüstet gibt Birgit zurück: „Er kam aus tiefstem Herzen!“

Folgerichtig verbringt das ungleiche Gespann die nächste dreiviertel Stunde auf dem Brunnenrand sitzend damit, den gewaltigen Unterschied zwischen reinem und tiefem Herzen abzustecken.

Wie in der Schule“, seufzt Birgit manches Mal zwischendrin.

Daher beschließt Elin, die offensichtliche Unwilligkeit des Kindes mit weiteren Geschenken zu zähmen.

Montag spät abends, Birgit sollte längst schlafen. Sie kann sich aber unmöglich von ihrem spannenden Buch trennen. Das Mädchen liebt Bücher über alles. Schon aus der Leihbücherei ihrer Grundschule lieh sie sich fast immer Märchenbücher aus. Ihrer Begeisterung für Zauberer mit spitzen Hüten, die mit Zauberei in allerbester Absicht fürchterliches Unheil anrichten, ist Birgit als Teenager treu geblieben. Geschichten über düstere Hexen hingegen sind ihr ein Gräuel. Die erinnern sie zu stark an ihre eigene Mutter.

Elin steht mitten im Zimmer. „Nun, hast du über die gestrige Lektion nachgedacht?“ Nebenbei lässt sie vor ihren nackten Füßen einen kleinen Karton erscheinen.

Birgit stiert. „Was ist da drin?“

„Bücher für dich, die ich lichtmagisch herbeigeholt habe.“ Im selben Moment wird der Elbe bewusst, einen Riesenfehler fabriziert zu haben.

„Bücher? Für mich?“ Birgit springt aus dem Bett und kniet sich vor den Karton. Ehrfürchtig hebt sie das erste Buch heraus. „Irische Sagen“, liest sie vor. Sofort greift sie nach dem zweiten Buch. „,Der kleine Hobbit‘. Bestimmt ein Märchen.“

„Wie man es betrachtet“, kommentiert die Elbe.

Birgit überhört die Bemerkung, weil sie bereits den nächsten Buchdeckel begutachtet. Sie runzelt die Stirn. „Einführung in die nordische Mythologie?“

„Wenn du magst, werden wir das Buch später gemeinsam lesen.“

Auch das überhört Birgit geflissentlich. „Noch einmal Tolkien, ‚Der Herr der Ringe‘. Ich liebe dicke Bücher“, verkündet sie mit leuchtenden Augen. „So viele Geschenke!“

„Wäre es dir möglich, die übrigen Bücher später auszupacken?“, bringt Elin mühsam beherrscht heraus.

„Ach nein“, quengelt Birgit. „Warum denn?“

„Nachdem ich dir Bücher geschenkt habe, möchte ich, dass du mir ebenfalls ein Buch schenkst. Und zwar, indem du es lichtmagisch herbeizauberst.“

Das Mädchen fängt an zu prusten. „Ich? Im Ernst?“

„Konzentriere dich bitte! Schließe deine Augen und spüre deinen Zauberwunsch tief in deiner Seele.“

Minuten verstreichen, bis Birgit aufhört zu kichern. Und weitere, bis sie bei geschlossenen Augen ruhig atmet.

Leise spricht die Elbe, als ginge es hier um die selbstverständlichste, einfachste Sache der Welt: „Suche in deiner Seele nach dem magischen Licht. Tauche hinein. Führe dir deinen Wunsch vor Augen.“

Birgits Wecker tickt leise vor sich hin. Der Minutenzeiger dreht Runde um Runde um Runde. Elin wartet vergeblich auf ihr Geschenk. Das Menschenkind ist eingeschlafen.

Drei Wochen später. Der schmale, eintürige Kleiderschrank hat sich in eine Geschenktruhe verwandelt. Sämtliche Dinge, die Birgit sich sehnlichst gewünscht und nun von der Elbe erhalten hat, liegen darin verstaut. Vor allem Bücher, Bücher und noch mehr Bücher. Dazu schicke Pullover, Blusen, Cordhosen und Ledergürtel. Natürlich darf ihre Mutter die Geschenke auf gar keinen Fall entdecken. Deren Antrieb, das Zimmer ihrer Tochter zu betreten, ist jedoch verschwindend gering. Es sei denn, die Mutter müsste dringend ein Donnerwetter mit angehängter Forderung loswerden.

Das Verrückte ist“, denkt Birgit, als sie ein weiteres Buch aus dem Schrank nimmt, „je mehr sich anhäuft, desto stärker wird das Gefühl, auch ohne all die Geschenke leben zu können.“

Die ungeschönte Wahrheit dahinter besteht aus riesigem Frust. All die wunderschönen Kleidungsstücke liegen nutzlos im Schrank. Denn Birgits Plan, sie heimlich in ihrer Schultasche aus der Wohnung zu schmuggeln und sich dann vor dem Unterrichtsbeginn rasch umzuziehen, zerplatzte, kurz bevor die Nähte ihrer Schultasche rissen.

So verlor die Wunschzauberei nach und nach ihren Reiz. Zumal Birgit bisher keinen noch so winzigen Gegenstand lichtmagisch herbeischaffen kann. Die zweite schonungslose Wahrheit lautet: Jeden einzelnen der vergangenen 21 Abende ist Birgit über der vertrackten Wunschaufgabe eingeschlafen.

„Der Elbenkrieg“, liest sie den Titel des hervor geholten Buches ab. „Das klingt eher nicht so nach meinem Geschmack.“ Dennoch macht sie es sich mit dem Buch auf ihrem Bett bequem. Ein unbestimmtes Bauchgefühl sagt ihr, dass auch dieser Titel absichtlich von der Elbe ausgewählt wurde. Lesend vergisst das Mädchen die Zeit.

„Guten Abend, Birgit.“

„Guten Abend – äh – Elin.“ Die Elbe zu duzen, wie sie es neuerdings wünscht, fällt Birgit schwer. Für eine Freundin ist sie nun wirklich zu alt. „Wie alt eigentlich? Vielleicht 25 Jahre?“

Elin schmunzelt innerlich über Birgits naive Altersvorstellung. Ihre spontane Schätzung greift unzählige Jahrhunderte zu kurz. „Wir machen jetzt einen Ausflug, zieh dich an.“

„Aber – wenn meine Mutter …“

„Keine Sorge. Ein Zauber wird sie davon abhalten, dein Zimmer betreten zu wollen.“

„So etwas könnte ich mir wünschen?“ Zumindest theoretisch offenbaren sich gerade ganz neue magische Möglichkeiten für Birgit. Sie grinst – aber nur kurz.

„Nein“, zerstört Elin den Hoffnungsschimmer, „das erfordert eine völlig andere Art von Lichtmagie.“

Enttäuscht greift Birgit nach ihrem schäbigen Mantel. „Aber wie gelangen wir unbemerkt aus der Wohnung?“

„Indem wir unsichtbar werden.“

Birgit schluckt. „Das war ein Scherz.“

„Fertig? Dann lass uns gehen.“

„Aber …“

„Still jetzt!“

Die Elbe nimmt Birgit an die Hand, öffnet die Zimmertür, zieht das Mädchen den kurzen Flur entlang. Birgit schaut an ihrem Körper hinunter. „Doch ein Scherz.“

Im Wohnzimmer ihrer Mutter läuft der Fernseher. Auf Zehenspitzen folgt sie Elin durch die magisch geöffnete Wohnungstür. Draußen auf dem Treppenabsatz japst Birgit geräuschvoll nach Luft. Mahnend legt Elin einen Finger an den Mund. Stumm schleichen sie durch das Treppenhaus bis hinaus auf den Plattenweg.

„Das war doch ein Scherz!“, protestiert Birgit.

„Keineswegs.“

Das Mädchen legt eine Vollbremsung hin. „Entweder Sie erklären mir das jetzt sofort oder ich gehe wieder hinein.“

„Du hast keinen Schlüssel dabei.“

Zornig funkelt Birgit die Elbe an.

„Nun gut. Unterwegs erzähle ich dir ein wenig mehr über elbische Magie.“

Birgit erfährt, während sie Elin widerwillig durch nächtliche Wohnstraßen folgt, dass Unsichtbarkeit gegenüber Menschen bei Elben der Normalzustand ist.

„Leuchten alle Elben?“, fällt Birgit eine ihrer angehäuften Fragen ein.

„Ja.“

„Warum?“

„Ein Schutzzauber wirkt unsere Lichthülle.“ Elin erzählt weiter. Seit ungezählten Jahrhunderten verfolgen Elben das Schicksal der Menschen, und sie überwachen das schwarzmagische Treiben von Dämonen.

„Dämonen?“, krächzt Birgit dazwischen.

Kein elbischer Kommentar.

Einer Prophezeiung zufolge soll einst ein Menschenkind die Erde von dem Dämonfürsten befreien, bevor er sein Ziel, die Menschheit zu unterjochen, erreicht. Hätte Birgit in diesem Moment die ganze Wahrheit um die mysteriöse Prophezeiung erfahren – sie stellt sich dabei eine orakelnde Medusa vor – wäre sie postwendend nach Hause gerannt. Sie wäre zitternd unter ihr Bett gekrabbelt, anstatt sich, wann auch immer, einer globalen Katastrophe entgegen zu stellen.

„Dämonen?“, wiederholt sie hartnäckig.

Nachgiebig erklärt Elin: „Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Elben und Dämonen, ein jedes besitzt ein Gegenstück.“

„Ying und Yang“, flüstert Birgit.

„Sehr gut“, lobt die Elbe. „Zwischen rein und unrein existiert eine Vielfalt an Nuancen. Von weißen Seelen über hellgraue, graue und dunkelgraue bis hin zu völlig schwarzen Seelen. Lediglich den weißen Seelen kann Lichtmagie gegeben werden. Ein großes Geschenk!“

„Und ich? Besitze ich wirklich Lichtmagie?“

„Eine gute Frage. Wir werden sehen.“

Birgit lässt den Kopf hängen. Sie, eine 16-Jährige, passt unmöglich in die fantastisch klingenden Schilderungen der Elbe. „Dämonen!“ Nun verspürt sie keine Lust mehr zu fragen, warum die Elben überhaupt vor angeblichen Urzeiten auf die Erde kamen.

Eine Weile gehen die Zwei schweigend nebeneinander her, jede tief in eigene Gedanken versunken.

„Wohin bringen Sie – du mich eigentlich?“

„Zu einer bitterarmen Familie. Wir sind fast am Ziel.“

In der fremden Straße reiht sich ein altes, heruntergekommenes Mietshaus an das nächste. Rußschwarze Fassaden, abbröckelnder Putz, blinde Fensterscheiben. Aus den Wohnungen fällt kaum Licht auf die Straße.

In Birgit regt sich ein mulmiges Gefühl. Trotzig begehrt sie zu wissen: „Was soll ich hier?“

„Ich möchte, dass du ein Geschenk überbringst. Nutze die Gelegenheit gut, sieh genau hin, wie die Familie lebt.“

„Aber ich kenne die Leute gar nicht!“

„Das spielt keine Rolle“, gibt Elin zurück. Sie bleibt vor einer Haustür stehen, deren ehedem weißer Anstrich nur mehr zu erahnen ist.

Auf der untersten Stufe erscheint ein Karton.

„Hier.“ Die Elbe drückt ihn Birgit in die Arme. „Darin befinden sich Babynahrung und Stoffwindeln.“