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Wildfell Hall

Anne Brontë

Inhaltsverzeichnis

Erster Theil.

An Lord Halford Esq.

Erstes Kapitel. Eine Entdeckung.

Zweites Kapitel. Eine Zusammenkunft.

Drittes Kapitel. Eine Controverse.

Viertes Kapitel. Die Gesellschaft.

Fünftes Kapitel. Das Atelier.

Sechstes Kapitel. Fortschritte.

Siebentes Kapitel. Die Excursionen.

Achtes Kapitel. Das Geschenk.

Neuntes Kapitel. Eine Schlange im Grase.

Zehntes Kapitel. Ein Kontrakt und ein Zank.

Elftes Kapitel. Wieder der Vikar.

Zwölftes Kapitel. Ein tête-à-tête und eine Entdeckung.

Dreizehntes Kapitel. Die Rückkehr zur Pflicht.

Vierzehntes Kapitel. Ein Straßenanfall.

Fünfzehntes Kapitel. Eine Begegnung und ihre Folgen.

Sechzehntes Kapitel. Die Wanderungen der Erfahrung.

Zweiter Theil.

Erstes Kapitel. Weitere Warnungen.

Zweites Kapitel. Das Portrait.

Drittes Kapitel. Ein Ereigniß.

Viertes Kapitel. Beharrlichkeit.

Fünftes Kapitel. Ansichten.

Sechstes Kapitel. Freundschaftsstückchen.

Siebentes Kapitel. Erste Ehewochen.

Achtes Kapitel. Der erste Zank.

Neuntes Kapitel. Erste Abwesenheit.

Zehntes Kapitel. Die Gäste.

Elftes Kapitel. Ein Vergehen.

Zwölftes Kapitel. Vaterliebe.

Dreizehntes Kapitel. Der Nachbar.

Vierzehntes Kapitel. Häusliche Scenen.

Dritter Theil.

Erstes Kapitel. Gesellige Vorzüge.

Zweites Kapitel. Vergleichungen. — Zurückgewiesene Mittheilungen.

Drittes Kapitel. Zwei Abende.

Viertes Kapitel. Schweigen.

Fünftes Kapitel. Herausforderungen.

Sechstes Kapitel. Einsamkeit zu Zweien.

Siebentes Kapitel. Wieder der Nachbar.

Achtes Kapitel. Der betrogene Mann.

Neuntes Kapitel. Ein Fluchtplan.

Zehntes Kapitel. Ein Mißgeschick.

Elftes Kapitel. Die Hoffnung sproßt ewig in der menschlichen Brust auf.

Zwölftes Kapitel. Eine Besserung.

Vierter Theil.

Erstes Kapitel. Die Grenzlinie ist übersprungen.

Zweites Kapitel. Das Asyl.

Drittes Kapitel. Die Aussöhnung.

Viertes Kapitel. Freundschaftliche Ratschläge.

Fünftes Kapitel. Ueberraschende Nachrichten.

Sechstes Kapitel. Weitere Nachrichten.

Siebentes Kapitel. Da nun ein Platzregen fiel, und kam ein Gewässer und wehten die Winde und stießen an das Haus, da fiel es und that einen großen Fall.

Achtes Kapitel. Zweifel und getäuschte Erwartung.

Neuntes Kapitel. Ein unerwartetes Ereigniß.

Zehntes Kapitel. Schwankungen.

Elftes Kapitel. Schluß.

Erster Theil.
An Lord Halford Esq.

Lieber Halford.

Als wir das letzte Mal beisammen waren, theilten Sie mir eine ausführliche und höchst interessante Erzählung der merkwürdigsten Umstände Ihres Lebens vor unserer Bekanntschaft mit und forderten mich dann zur Erwiederung des Vertrauens auf. Da ich damals nicht in der Laune zum Geschichten erzählen war, lehnte ich es unter dem Vorwande, daß ich nichts zu erzählen habe, und dergleichen unhaltbaren Ausflüchten ab, die Sie, ganz und gar unstichhaltig ansahen, denn obgleich Sie das Gespräch augenblicklich auf etwas Anderes lenkten, geschah es doch mit der Miene eines sich nicht beklagenden, aber tief gekränkten Mannes und Ihr Gesicht war von einer Wolke überschattet, die es bis zum Ende unseres Gesprächs verdunkelte und vielleicht sogar noch verdunkelt, denn Ihre Briefe haben sich seit jener Zeit durch eine gewisse würdevolle, halb melancholische Steifheit und Zurückhaltung ausgezeichnet, die höchst rührend sein würde, wenn mich mein Gewissen beschuldigte, sie verdient zu haben.

Schämen Sie sich nicht, alter Junge — bei Ihrem Alter noch dazu — und nachdem wir einander so lange und so vertraut gekannt und ich Ihnen bereits so viele Beweise von Offenherzigkeit und Vertrauen gegeben und Ihre vergleichsweise Verschlossenheit und Schweigsamkeit nie gerügt habe? — Da wird wahrscheinlich aber der Haase im Pfeffer liegen. Sie sind von Natur nicht mittheilsam und glaubten, daß Sie bei jenem denkwürdigen Anlasse — welchen Sie ohne Zweifel mit feierlichen Schwüren für den letzten dieser Art erklärt haben, große Dinge gethan und einen Beweis ohne Gleichen von freundschaftlichem Vertrauen gegeben hätten — und Sie meinten, daß die geringste Vergeltung, welche ich Ihnen für eine so ungeheure Gefälligkeit zu Theil werden lassen konnte, die sei, Ihrem Beispiele, ohne mich einen Augenblick zu bedenken, nachzufolgen.

Nun, nun! — ich habe die Feder weder in die Hand genommen, um Ihnen Vorwürfe zu machen, noch mich zu vertheidigen, noch um für vergangene Sünden um Entschuldigung zu bitten, sondern um wo möglich dafür zu entschädigen.

Es ist ein regnerischer, nasser Tag, die Familie macht Besuche, ich befinde mich allein in meiner Bibliothek und habe gewisse moderige, alte Briefe und Pariere durchgesehen und über alte Zeiten nachgesonnen, so daß ich mich selbst ganz in der gehörigen Geistesverfassung befinde, Sie mit einer Geschichte aus alter Zeit zu unterhalten — und nachdem ich meine halb gebratenen Füße vom Kamine weggezogen, meinen Stuhl an den Tisch herumgerollt und die obigen Zeilen an meinen brummigem alten Freund aufgesetzt, bin ich im Begriffe, ihm eine Skizze, — nein, nicht eine Skizze — einen vollständigen und treuen Bericht über gewisse Umstände, die sich auf das wichtigste Ereigniß meines Lebens — wenigstens vor meinem Bekanntwerden mit Jack Halford, zu geben — und wenn sie diesen gelesen haben, so beschuldigen Sie mich der Undankbarkeit und der unfreundlichen Zurückhaltung, wenn Sie können.

Ich weiß, daß Sie sich gern lange Geschichten erzählen lassen und eben so sehr, wie meine Großmutter, auf ausführlicher Darstellung der Umstände bestehen; ich will sie daher nicht schonen und die einzigen Grenzen sollen meine eigne Geduld und Muße sein.

Unter den Briefen und Papieren, von denen ich sprach, befindet sich ein gewisses altes, verblichenes Tagebuch von mir, dessen ich erwähne, um sie zu versichern, daß ich mich nicht auf mein Gedächtniß allein verlasse — so zähe es auch ist — damit Ihre Leichtgläubigkeit nicht zu sehr auf die Probe gestellt wird, wenn sie mir durch die einzelnen Umstände meiner Erzählung folgen.

Ich beginne also mit dem ersten Kapitel — denn es soll eine vielkapitelige Erzählung werden.

Erstes Kapitel.

Eine Entdeckung.

Sie müssen mit mir zum Herbste des Jahres 1827 zurückkehren

Mein Vater war, wie Sie wissen, ein wohlhabender Landwirth in der Grafschaft — und ich folgte ihm auf seinen ausdrücklichen Wunsch in demselben einfachen Geschäfte, wenn auch nicht sehr gern, denn der Ehrgeiz trieb mich zu etwas Höherem und die Eitelkeit versicherte mir, daß ich dadurch, daß ich seiner Stimme nicht gehorche, meine Talente vergrabe und mein Licht unter den Scheffel stelle.

Meine Mutter hatte ihr Bestes gethan, um mich zu überreden, daß ich großer Thaten fähig sei, aber mein Vater, der den Ehrgeiz für den sichersten Weg zum Ruin und Veränderung nur für ein anderes Wort für Untergang hielt, wollte auf keinen von allen meinen Plänen zur Verbesserung meiner Lage oder der meiner Mitmenschen hören. Er versicherte mit, daß alles dies nichts wie Unrath wäre, und ermahnte mich mit dem letzten Hauche noch, auf dem guten, alten Wege zu bleiben, seinen Schritten und denen seines Vaters vor ihm zu folgen und es meinen höchsten Ehrgeiz sein zu lassen, ehrlich durch die Welt hinzugehen, weder zur Rechten, noch zur Linken zu schauen und die väterlichen Aecker auf meine Kinder in wenigstens eben so blühendem Zustande, als wie er sie mir hinterließ, zu überliefern.

Nun! — ein ehrlicher, fleißiger Landwirth ist eines der nützlichsten Mitglieder der menschlichen Gesellschaft, und wenn ich meine Talente auf den Anbau meines Gutes und die Beförderung des Ackerbaues im Allgemeinen verwende, so werde ich dadurch nicht nur denen — die unmittelbar mit mir in Verbindung stehen und von mir abhängen, sondern gewissermaßen auch der Menschheit im Allgemeinen nützen und daher nicht umsonst gelebt haben.

Mit dergleichen Gedanken bemühte ich mich, mich zu trösten, als ich an einem kalten, feuchten, bewölkten Abende gegen das Ende des Oktober vom Felde nach Hause ging.

Der Schimmer eines hellen, rothen Feuers durch das Fenster des Wohnzimmers trug jedoch mehr dazu bei, meine Laune zu erheitern und meine undankbaren Bedauernisse zu tadeln, als alle weisen Gedanken und guten Entschlüsse, zu denen ich meinen Kopf gezwungen hatte — denn Sie müssen bedenken, daß ich damals noch jung — erst vierundzwanzig Jahr alt war und noch nicht die halbe Herrschaft über meinen Geist erlangt hatte, welche ich jetzt besitze, so geringfügig diese auch sein mag.

Ich durfte jedoch in diesen Hafen des Glückes nicht eher einlaufen, als bis ich meine schmutzigen Stiefeln mit reinen Schuhen und meinen rauhen Surtout mit einem anständigen Rocke vertauscht und mich vor anständiger Gesellschaft präsentabel gemacht hatte, denn meine Mutter war bei aller ihrer Güte in gewissen Punkten ungemein eigen.

Als ich nach meinem Zimmer hinaufstieg kam mir auf der Treppe ein hübsches, neunzehnjähriges Mädchen, mit netter gerundeter Gestalt, rundem Gesicht, rothen, blühenden Wangen, glänzendem dichten Locken und kleinen, lustigen, braunen Augen entgegen.

Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß dies meine Schwester Rosa war, ich weiß, daß sie noch eine hübsche Matrone und ohne Zweifel — in Ihren Augen — noch eben so liebenswürdig ist, wie an dem glücklichen Tage, wo Sie ihrer erst ansichtig wurden. Ich ahnte damals nicht, daß sie nach wenigen Jahren die Frau eines Mannes werden würde — der mir damals noch ganz unbekannt, aber bestimmt war, später zu einem engeren Freunde zu werden, als selbst sie, — zu einem vertrautem, als der unmanierliche, siebzehnjährige Bursche, der mich im Hausgange, als ich herabkam, beim Kragen faßte und bei nahe umgeworfen hätte und zum Lohne für seine Unverschämtheit einen schallenden Schlag über den Schädel er hielt, welcher indeß davon keinen ernstlichen Nachtheil erlitt, da er erstlich dicker, als gewöhnlich und zweitens durch einen reichlichen Wulst kurzer, röthlicher Locken geschützt wurde, die meine Mutter kastanienbraun nannte.

Als wir in das Zimmer traten, fanden wir die geehrte Dame auf ihrem Armstuhle am Kamin sitzend und strickend, wie sie gewöhnlich zu thun pflegte, wenn sie nichts zu thun hatte. Sie hatte den Heerd rein gefegt und ein hellloderndes Feuer zu unserm Empfange gemacht, die Magd so eben das Teebrett hereingebracht und Rosa langte die Zuckerschale und die Theebüchse aus dem Kasten in dem schwarzeichenen Buffet, das in der milden Dämmerung des Zimmers wie polirtes Ebenholz glänzte

»Nun, da sind sie Beide,« rief meine Mutter, indem« sie, ohne die Bewegung ihrer geschäftigen Finger und glänzenden Nadeln dadurch verzögern zu lassen, sich nach uns umblickte. — »Nun, macht die Thüre zu und kommt an’s Feuer, während Rosa den Thee bereitete ihr müßt sicher halb verhungert sein, — und erzählt mir, was Ihr den ganzen Tag gethan habt, ich möchte gern wissen, was meine Kinder thun.«

»Ich habe das graue Füllen zugeritten — nichts Leichtes — das Umpflügen der letzten Weizenstoppeln geleitet — denn der Ackerknecht hat nicht soviel Verstand, um es selbst zu thun — und einen Plan zur ausgedehnten und wirksamen Entwässerung der tiefen Wiesen aus geführt.«

»Du bist ein braver Junge! — Und Fergus, was hast Du gethan?«

»Einen Dachs ausgegraben!«

Und nun begann er eine ausführliche Erzählung seiner Jagd und der einzelnen Züge von Tapferkeit, welche der Dachs und die Hunde entwickelt hatten, wobei meine Mutter that, als höre sie mit der tiefsten Aufmerksamkeit zu, und sein beliebtes Gesicht mit einem Vorrathe mütterlicher Bewunderung betrachtete, welchen ich für seinen Gegenstand höchst unproportionirt hielt.

»Es wird Zeit, daß Du etwas Anderes thust, Fergus,« sagte ich, sobald mir eine momentane Pause in seiner Erzählung ein Wort einzuschieben gestatten.

»Was kann ich thun?« fragte er; »meine Mutter will mich nicht auf die See gehen oder in die Armee treten lassen und ich bin einmal entschlossen, nichts Anderes zu thun, außer so viele Dummheiten, daß Ihr am Ende froh sein werdet, mich, unter welchen Bedingungen es auch sein mag, los zu werden.«

Unsere Mutter streichelte ihm besänftigend die steifen, kurzen Locken. Er brummte und versuchte ein mürrisches Gesicht zu machen, und dann setzten wir uns, der dreimal wiederholten Aufforderung Rosa’s gehorsam, Alle um den Tisch

»Nun, trinkt Euern Thee,«M sagte sie; »jetzt will ich Euch sagen, was ich gethan habe. Ich bin zum Besuch bei den Wilsons gewesen und es ist tausend Schade, daß Du nicht mitgingst, Gilbert, denn Elise Milward war dort.«

»Nun, was solls mit ihr?«

»O nichts! — Ich habe nicht im Sinne, Dir etwas von ihr zu erzählen — nur daß sie ein nettes, amüsantes, kleines Ding ist, wenn sie sich in guter Laune befindet, und ich würde gar nichts dawider haben, wenn Du sie —«

»Still, still, mein liebes Kind, Dein Bruder denkt nicht daran,« flüsterte meine Mutter eindringlich und hielt den Finger warnend in die Höhe.

»Nun,« fuhr Rosa fort, »ich wollte Euch eine wichtige Neuigkeit erzählen, die ich dort gehört habe — das Geheimniß hat mich fast zum Platzen gebracht — Ihr wißt, daß es vor einem Monate hieß, daß Jemand im Begriff sei, Wildfell Hall zu miethen — und — denkt Euch, — jetzt ist es schon seit mehr als einer Woche bewohnt — und wir haben nichts davon gewußt.«

»Unmöglich!« rief meine Mutter.

»Unsinn!!!« schrie Fergus.

»Es ist wirklich so! — und das von einer einzelnen Dame.«

»Guter Gott, Kind, das Haus ist ja eine Ruine.«

»Sie hat zwei bis drei Zimmer in wohnlichen Stand setzen lassen und dort lebt sie ganz allein, außer einer alten Frau, die sie bedient.«

»Du lieber Gott, das verdirbt den ganzen Witz — ich hoffte schon, daß sie eine Hexe wäre,« bemerkte Fergus, während er sich ein zolldickes Butterbrot abschnitt.

»Unsinn, Fergus.«

»Ist es aber nicht sonderbar« Mama?«

»Sonderbar! — ich kann es kaum glauben.«

»Aber Sie können es glauben,« den Jane Wilson hat sie gesehen. Sie ist mit ihrer Mutter hingegangen, die natürlich, sobald sie hörte, daß sich eine Fremde in der Gegend befand, auf Nabeln und Kohlen saß, bis sie bei ihr gewesen war und, so viel sie konnte, aus ihr herausgelockt hatte. Sie heißt Mrs. Graham und ist in Trauer, nicht in Witwentrauer, sondern in Halbtrauer, und sie wäre ganz jung, heißt es — nicht über fünf oder sechsundzwanzig Jahr — aber so zurückhaltend. — Sie versuchten alles Mögliche, um ausfindig zu machen, wer sie sei und wo sie herkommt u. s. w., aber weder Mrs. Wilson mit ihren hartnäckigen, impertinenten, geradezu gestellten Fragen, noch Miß Wilson mit ihren geschickten Manövern, war im Stande, eine einzige zufriedenstellende Antwort, oder auch nur eine beiläufige Bemerkung oder einen zufälligen Ausdruck aus ihr zu bringen, der geeignet war, ihre Neugier zu befriedigen, oder den schwächsten Lichtstrahl auf die Geschichte, die Verhältnisse oder Familie der Dame zu werfen. Ueberdies hat sie sich höflich gegen sie benommen, das war aber auch Alles, denn Jene konnten deutlich sehen, daß es ihr lieber war: Leben sie wohl! zu sagen als: Wie befinden sie sich? — Elise Milward sagt aber, daß ihr Vater beabsichtige, sie bald zu besuchen, um ihr einige geistliche Ratschläge zu ertheilen, deren sie, wie er fürchtet, bedarf, da sie bekanntlich schon vorige Woche in die Nachbarschaft gezogen, dessenungeachtet aber am vergangenen Sonntag nicht in der Kirche erschienen ist, und sie — das heißt Elise — will ihn bitten, mitgeben zu dürfen und ist über zeugt, daß sie etwas aus ihr bringen kann — Du weißt, Gilbert, daß sie Alles thun kann, was sie will — und auch wir sollten einmal einen Besuch dort machen, Sie wissen ja, daß es die Schicklichkeit gebietet?«

»Natürlich, mein liebes Kind; das arme Ding, wie einsam es ihr sein muß.«

»Und beeilt Euch damit, und vergeßt nicht, mir Nachricht zu bringen« wie viel Zucker sie in ihren Thee thut und was für Hauben und Schürzen sie trägt, und was sie sonst noch angeht, denn ich weiß nicht, wie ich leben soll, bis ich es weiß,« sagte Fergus mit äußerst ernsthaftem Gesichte

Wenn er aber erwartet hätte, seine Rede als ein Meisterstück des Witzes aufgenommen zu sehen, so mißlang ihm dies gänzlich, denn kein Mensch lachte. Darüber ließ er sich aber nicht aus der Fassung bringen, denn als er einen Mundvoll Butterbrot zu sich genommen hatte und eben einen Schluck Thee hinterschlucken wollte, brach der Humor der Sache mit so unwiderstehlicher Gewalt auf ihn ein, daß er vom Tische aufspringen und schnaubend und fast erstickend aus dein Zimmer stürzen mußte und eine Minute später in furchtbarer Pein im Garten kreischend gehört wurde.

Was mich betrifft, so war ich hungrig und begnügte mich damit, schweigend den Thee mit Schinken und Butterbrot zu demoliren, während meine Mutter und Schwester fortplauderten und die bekannten oder unbekannten Umstände und die wahrscheinliche oder unwahrscheinliche Geschichte der geheimnißvollen Dame besprachen; aber ich muß gestehen, daß ich nach dem Unglücksfalle meines Bruders ein paar Mal die Tasse an die Lippen führte, aber wieder niedersetzen mußte, ohne den Inhalt zu kosten zu wagen, um nicht meiner Würde durch eine ähnliche Explosion zu schaden.

Am nächsten Tage beeilten sich meine Mutter und Rosa, der schönen Einsiedlerin ihr Compliment zu machen, und kamen nur um wenig klüger, als sie gegangen waren, zurück, wenn auch meine Mutter erklärte, daß sie der Weg nicht daure, da sie auch, wenn sie nicht viel Gutes für sich gewonnen, sich doch schmeichele, selbst Einiges gethan zu haben, was besser wär, sie hatte einige nützliche Rathschläge gegeben, die hoffentlich nicht weggeworfen sein würden, denn Mrs. Graham schiene, wenn sie auch sehr wenig spreche und etwas von sich selbst eingenommen sei, doch des Nachdenkens nicht unfähig. Wenn sie auch nicht wüßte, wo das arme Ding ihr ganzes Leben zugebracht haben müsse, da sie eine klägliche Unwissenheit in gewissen Punkten verrieth und nicht einmal den Verstand hatte sich derselben zu schämen.

»In welchen Punkten, Mutter?« fragte ich

»In Haushaltungssachen und allen kleinen Küchendelikatessen und dergleichen Dingen, mit denen jede Dame vertraut sein sollte, ob es nun nöthig ist, daß sie von ihren Kenntnissen praktischen Gebrauch mache oder nicht. Ich habe ihr jedoch einige nützliche Mittheilungen gemacht und verschiedene ausgezeichnete Küchenrecepte gegeben, deren Werth sie offenbar nicht beurtheilen konnte, denn sie bat mich, ich solle mir nur keine Mühe machen, da sie so einfach und still lebe, daß sie sie sicher nie in Anwendung bringen werde. — »»Das thut nichts, mein liebes Kind,«« sagte ich — »»jedes respektable Frauenzimmer muß das wissen und übrigens sind sie zwar jetzt allein, werden es aber nicht immer bleiben, sie sind vetheirathet gewesen und werden wahrscheinlich — ich möchte fast sagen, sicherlich — sich wieder verheirathen.«« — »»Da irren Sie sich, Madame,«« sagte sie fast hochfahrend — »»ich bin überzeugt, daß ich es nie thun werde.«« — Aber ich sagte ihr, daß ich das besser wüßte.«

»Wahrscheinlich eine romantische junge Wittwe,« sagte ich, »die dorthin gegangen ist, um ihre Tage in der Einsamkeit zuzubringen und um den theuern Entschlafenen im Geheimen zu trauern; es wird aber nicht lange anhalten.«

»Nein, das denke ich auch nicht,« bemerkte Rost, »denn sie schien nicht überaus untröstlich zu sein, und ist ungemein hübsch — vielmehr angenehm — Du mußt sie sehen, Gilbert, Du wirst sie eine vollkommene Schönheit nennen, wenn Du auch kaum im Stande sein wirst, eine Aehnlichkeit zwischen ihr und Elise Milward zu entdecken.«

»Nun, ich kann mir viel schönere Gesichter vorstellen, als das Elisens, wenn auch kein reizenderes. Sie hat allerdings nur geringen Anspruch auf Vollkommenheit, aber ich behaupte, daß sie weniger interessant sein würde; wenn sie vollkommener wäre.«

»Du ziehst also ihre Fehler den Vollkommenheiten anderer Leute vor?« —

»Ganz richtig — die gegenwärtige Gesellschaft ist natürlich immer ausgenommen.«

»O, lieber Gilbert, welchen Unsinn Du da schwatztest! — Ich weiß, daß Du es nicht so meinst, es ist ganz außer aller Frage,« sagte meine Mutter, indem sie aufstand und unter dem Vorgehen, daß sie Haushaltungsgeschäfte habe, aus dem Zimmer trippelte, um dem Widerspruche zu entgehen, welcher schon auf meiner Zunge zitterte.

Hierauf beglückte mich Rosa mit weiteren Ausführlichkeiten über Mrs. Graham, ihr Aeußeres, ihre Manieren und Kleidung, — kurz Alles, bis zu den Möbeln des von ihr bewohnten Zimmers herab, wurde mir Alles mit bedeutend größerer Klarheit und Ausführlichkeit, als sich zuhören Lust hatte, auseinander gesetzt; da ich aber nicht eben ein aufmerksamer Zuhörer war, so könnte ich die Beschreibung nicht wiedergeben, wenn ich auch wollte.

Der nächste Tag war der Sonnabend und am Sonntage erging sich Alles in Vermuthungen, ob die schöne Unbekannte den Vorstellungen des Vikars folgen und in die Kirche kommen werde oder nicht.

Ich muß gestehen, daß ich selbst mit einigem Interesse nach der Wildfell Hall gehörenden alten Familien-Loge blickte, wo die verblichenen karmoisinrothen Kissen und Ueberzüge so viele Jahre lang unbenutzt und unerneuert geblieben waren und die düsteren Wappen mit ihren begräbnißmäßigen Rändern von verschossenem, schwarzen Tuch so finster von der Mauer darüber herabschauten.

Und dort erblickte ich eine hohe,schwarzgekleidete Gestalt von vornehmer Haltung. Ihr Gesicht war mir zugekehrt und in demselben befand sich ein gewisses Etwas, das einmal gesehen, mich einlud, wieder hinzublicken. Ihr Haar war rabenschwarz und in langen, seidenartigen Locken arrangiert, die damals noch etwas Ungewöhnliches waren, aber immer graziös und zierlich sind, ihr Teint war rein und blaß, ihre Augen konnte ich nicht sehen, denn sie waren auf ihr Gebetbuch geheftet und von ihren gesenkten Lidern und langen, schwarzen Wimpern verborgen; aber die Augenbrauen waren ausdrucksvoll und schön begrenzt, die Stirn hoch und intellektuell, die Nase eine vollkommene Adlernasse und die Züge im Allgemeinen tadellos — nur daß eine leichte Gesunkenheit um die Wangen und Augen sichtbar und die Lippen, wenn auch schön geformt, doch etwas zu schmal, etwas zu fest zusammengepreßt waren und ein Etwas um sich hatten, das, wie ich dachte, ein nicht eben weiches oder liebenswürdiges Gemüth bekundete, und ich sagte in meinem Herzen:

»Ich möchte Sie lieber aus der Ferne bewundern, schöne Dame, als in einem Hause mit Ihnen wohnen.«

In diesem Augenblicke erhob sie zufällig ihre Augen und sie begegneten den meinen. Ich wendete meinen Blick nicht ab und sie richtete dieselben wieder auf ihr Buch, aber mit einem momentanem unbeschreiblichen Ausdrucke ruhiger Verachtung, der ungemein aufreizend für mich war.

»Sie hält mich für einen unverschämten Hasenfuß,« dachte ich, »hm! sie soll ihre Ansicht bald ändern, wenn ich es für der Mühe werth halte.«

Dann aber fiel es mir plötzlich ein, daß dies sehr unpassende Gedanken für ein Gotteshaus seien und daß mein jetziges Benehmen ganz und gar nicht so sei, wie es sich für mich schicke. Ehe ich jedoch meinen Geist wieder auf den Gottesdienst lenkte, ließ ich meine Augen in der Kirche umherschweifen, um zu sehen, ob mich Jemand beobachtet habe — aber nein, — Alle, die nicht auf ihre Gebetbücher schauten, blickten nach der fremden Dame hin, wozu auch meine gute Mutter und Schwester und Mrs. Wilson nebst ihrer Tochter gehörte, und selbst Elise Milward blickte aus den Winkeln ihrer Augen verstohlen nach dem Gegenstande der allgemeinen Aufmerksamkeit hin, dann sah sie mich an, lächelte ein wenig und erröthete, — sah, verschämt auf ihr Gebetbuch und bemühte sich, ihre Züge in Ordnung zu bringen.

Da sündigte ich schon wieder, und diesmal wurde ich durch einen plötzlichen Rippenstoß von dem Ellbogen meines vorwitzigen Bruders darauf aufmerksam gemacht. Für jetzt konnte ich die Beleidigung nur dadurch rächen, daß ich meinen Fuß auf seine Zehen setzte und verschob die weitere Rache, bis wir aus der Kirche kommen würden.

Nun, Halford, ehe ich diesen Brief schließe, will ich Ihnen sagen, wer Elise Milward war. Sie war die jüngste Tochter des Vikars und ein recht einnehmendes Geschöpfchen, dem ich nicht wenig gewogen war — und sie wußte es, obgleich ich mir nie eine direkte Erklärung erlaubt und auch keine entschiedene Absicht hatte, dies zu thun, da meine Mutter, die behauptete, daß es zwanzig s Meilen in der Runde Keine gäbe, die gut genug für mich sei, den Gedanken nicht ertragen konnte, daß ich das unbedeutende, kleine Ding zur Frau nähme, das außer seinen zahlreichen übrigen Eigenschaften, die es dazu untauglich machten, keine zwanzig Pfund besaß.

Elisens Gestalt war schlank, aber voll, ihr Gesicht klein und fast so rund, wie das meiner Schwester, — Teint, dem dieser etwas ähnlich, aber zarter und nicht so außerordentlich blühend, — Nase retroussée — Züge im Allgemeinen unregelmäßig — und im Ganzen genommen war sie eher reizend als schön; aber ihre Augen — diese bemerkenswerthen Theile ihres Gesichts, darf ich nicht vergessen, denn darin lag ihre hauptsächlichste Anziehungskraft, wenigstens im Aeußern — sie waren lang und schmal geformt, die Augäpfel schwarz oder von sehr dunklem Braun, der Ausdruck wechselnd und immer veränderlich, aber stets entweder übernatürlich — ich hätte fast gesagt satanisch — schelmisch oder unwiderstehlich bezaubernd — oft beides. Ihre Stimme war sanft und kinderartig, ihr Schritt leicht und unhörbar wie der einer Katze und ihr ganzes Wesen meist das eines hübschem muthwilligen Kätzchens, das bald vorwitzig, bald schelmisch, bald furchtsam, bald demüthig ist, wie es gerade will.

Ihre Schwester Mary war um mehrere Jahre älter, mehrere Zoll länger und von stärkerem, gröberen Bau — ein häßliches, stilles, verständiges Mädchen, das ihre Mutter während ihrer letzten langen, schleichenden Krankheit geduldig gepflegt und von da an bis zum gegenwärtigen Augenblicke die Haushälterin und der Familie Aschenbrödel gewesen war.

Ihr Vater vertraute ihr und schätzte sie hoch, alle Hunde, Katzen, Kinder und Arme liebten sie und schmeichelten ihr und alle Uebrigen vernachlässigten sie und schätzten sie gering.

Seine Hochwürden, Herr Michael Milward selbst, war ein langer, schwerfälliger, ältlicher Herr, der einen breitkrämpigen, hinten aufgeschlagenen Hut über sein breites, viereckiges, massives Gesicht setzte, in der Hand einen dicken Spazierstock trug und seine noch kräftigen Beine in Kniehosen und Gamaschen, oder bei feierlichen Gelegenheiten in schwarz-seidene Strümpfe steckte.

Er war ein Mann von festen Grundsätzen, starken Vorurtheilen und regelmäßigen Gewohnheiten. Er duldete keinen Widerstand, in welcher Gestalt er auch erscheinen mochte und handelte nach der festen Ueberzeugung, daß seine Ansichten stets die richtigen seien und, wer von ihnen abwich, entweder bedauernswerth unwissend oder absichtlich blind sein müsse.

In der Kindheit war ich stets gewohnt gewesen, ihn mit ehrfurchtsvollem Schrecken zu betrachten, das ich erst seit ganz kurzer Zeit überwunden hatte, denn wiewohl er gegen gut erzogene Kinder eine väterliche Güte bewies, so war er doch ein strenger Freund der Disciplin und hatte unsere jugendlichen Fehler und kleinen Sünden oftmals hart bestraft und wenn er unsere Eltern besuchte, hatten wir immer vor ihn treten und unsern Katechismus hersagen, oder »was thut die kleine fleißige Biene« oder eine andere Hymne deklamirem oder — was das Schlimmste war, — uns über seinen letzten Text und die Theile seiner Predigt, deren wir uns nie entsinnen konnten, ausfragen lassen müssen.

Mitunter tadelte der gute Mann sogar meine Mutter darüber, daß sie gegen ihre Söhne so nachsichtig wäre und erging sich dabei in Beziehungen auf den alten Eli oder David und Absalom, die sie ganz besonders kränkten, und so hoch sie ihn und alle seine Worte auch verehrte, hörte ich sie doch einmal ausrufen: — »Ich wollte doch, daß er selbst eigen Sohn hätte, dann würde er nicht so bereitwillig sein, anderen Leuten immer Rathschläge zu geben — er würde sehen, was das heißt, wenn man ein paar Jungen in Ordnung halten muß.«

Er besaß eine löbliche Sorgfalt für seine körperliche Gesundheit — stand früh auf und ging bei Zeiten zu Bette, machte regelmäßig vor dem Frühstück einen Spaziergang, war ungemein eigen in Bezug auf warme und trockne Kleidung, hatte nie eine Predigt gehalten, ohne vorher ein rohes Ei zu verschlucken, obgleich er mit guten Lungen und einer kraftvollen Stimme begabt war, und war im Allgemeinen in Bezug, auf das, was er aß und trank, äußerst eigen, wenn auch keineswegs enthaltsam, und hatte eine ganz eigenthümliche Diät, indem er Thee und dergleichen Gewäsch höchlichst verachtete und dafür Bier, Speck und Eier, Schinken, Rauchfleisch und andere kräftige Speisen in Schutz nahm, die mit seinen Verdauungsorganen in gutem Vernehmen standen, weshalb er behauptete, . daß sie für Jedermann gut und gesund seien und sie den schwächlichsten, kranken oder an Unverdaulichkeit Leidenden eifrig empfahl und ihnen dann, wenn sie von seinen Recepten nicht den versprochenen Nutzen zogen, sagte, daß es nur daher komme, daß sie nicht lange genug damit fortgefahren seien, und wenn sie sich über unangenehme Folgen davon beklagten, ihnen versicherte, daß es nichts wie Einbildung sei

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690 p.
ISBN:
9783985221462
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