Read the book: «Anders – aber trotzdem glücklich»
Anders – aber trotzdem glücklich
Hunde mit Handicap
Herausgegeben von Anke Dalder
Inhalt
Cover
Titel
Vorwort
Alte Hunde
Asta – Endstation Dachboden?
von Dorothee Kossatz
Bonnys langer Weg vom Schrottplatz über die Regenbogenbrücke
von Birgit Fischer
General – veni, vedi, vici
von Angelika Lanz
Lisa – trotz Alter und Krankheit eine gute Zeit
von Karin und Christoph Oehl
Nachruf für einen Kettenhund oder 370 Tage Leben
von Martina und Jürgen Gerlach
Auslandshunde
Janga – unser Sonnenschein
von Marianne Deininger
Lucky – auf drei Pfoten ins Glück
von Gisela Bloos
Lunas Einzug in Silence’ Welt der Stille
von Michaela Gutekunst
Nuria – die spanische Sanftmut aus dem Internet
von Martina und Stefan Zeißler
Oma – die Lady aus Stahl
von Ulrike Feifar
White – der schwarze Blitz
von Gaby Schwab
Behinderte Hunde
Blindheit
Asti – eine Chance bleibt immer
von Natalie Reineke
Fridolin – eine Lebensphilosophie
von Heike Hertger
Erinnerung an Jesse
von Tina Meier
Leon – ein blinder Sonnenschein
von Kornelia Wirths
Minni
von Bärbel Jacob
Behinderte Hunde
Gehbehinderung
Aronca – ein Pflegehund wie jeder andere?
von Barbara Steuer
Aurélia – ein glückliches Leben auf zwei Rädern
von Anne Lavanchy
Der Mischlingsrüde Bambi
von Andrea Kelterborn
Fips – ein Charmeur auf zweieinhalb Beinen
von Katja Ehlert
Gnocchi –mein italienisches Nockerl
von Irene Schwalm
Laika – ein Leben auf drei Beinen
von Karen Hess
Maya – mit drei Beinen voll dabei
von Andrea und Thorsten Langeo
Nicky – mit drei Beinen auf hohe Berge
von Annett Trautewein
Schnuff – auch auf Rädern nicht zu bremsen
von Ulrike Staar
Simka – Wildfang auf drei Beinen
von Marianne Deininger
Entscheidung für Taiga
von Dunja Find
Behinderte Hunde
Geistige Behinderung
Columbo – Sonnenschein im Dunkel
von Heike Hertger
Carpe diem, Idgie
von Corinna Buchmann
Liesels letzte Chance
von Maria Hense
Behinderte Hunde
Taubblindheit
Jette-Kind
von Angelika Lanz
Wer nicht hören kann, muss fühlen
von Beatrix Urban
Behinderte Hunde
Taubheit
Neue Freunde für Alina
von Sabine Bogner
Arielle – großes Glück auf vier Pfoten
von Bianca Greve
Idefix – meine kleine taube Nuss
von Natalie Reineke
Lea ist taub – na und?
von Andrea Olschewski
Lissys stille Welt
von Martina Krämbring
Lucky – unsere diebische Elster
von Anke Dalder
Maras Geschichte
von Ilse Mayer
Mona – ein Täubchen lernt fliegen
von Christa Kuczinski
Randy – jetzt erst recht!
von Andrea Feldmann
Ohne »Guck« kein »Komm«
von Michaela Gutekunst
Kampfhunde
Buddy – »Problemhunde« im Tierheim
von Birgit Lehnen
Sarah – starker Körper, kranke Seele
von Henny Föhmer
Und immer kommt es anders
von Sharon Gage
Tyson – die Kampfmimose
von Petra Braig
Kranke Hunde
Epilepsie
Snoopy kommt nach Hause
von Iris Hollendonner
Zausel, der Brausel
von Pamela Schmidt und Angela Kloppenborg
Kranke Hunde
Infektionskrankheiten
Ja, so ist das Leben
von Jacqueline Wunderlich
Kranker Hund – na und?
von Dagmar Ebert
Julchen
von Angelika Schulze
Miro – Geschichte eines andalusischen Hundes
von Christa Kiefer
Traumatisierte Hunde
Aggression
Das Monster, das zum Engel wurde
von Eva-Maria Sadovski
Jonny
von Barbara Heinrich
Max – Hundeaugen lügen nicht
von Anita Volk
Traumatisierte Hunde
Angst
Albina – die Wandlung einer französischen Mimose
von Gertrud Schäfer
Cooper – Daunenbett statt Kriegsgebiet
von Angelika Lanz
Patch – ein Dalmatiner mit Trennungsangst, Taubheit Nebensache
von Sabine Hoffmann
Eine Familie für Sam
von Sabine Quast
Thamara
von Sabina Riess
Anhang
Autorenliste
Erläuterungen zu den genannten Krankheiten
Kontaktadressen und Links
Danksagung / Impressum
Vorwort
Vielleicht denken Sie: Schon wieder ein Buch über Hunde. Dieses Buch ist jedoch ein ganz besonderes Buch, ein Buch über besondere Hunde. Als unser tauber Dalmatiner Lucky vor einigen Jahren bei uns einzog, musste ich feststellen, dass über den Umgang und die Erziehung von tauben Hunden keine Literatur zu bekommen war. Meine Recherchen im Internet bewiesen mir allerdings, dass es sehr viele taube Hunde gab.
In dieser Zeit lernte ich Michaela Gutekunst kennen, die ebenfalls einen tauben Dalmatiner hat. Nach mehreren Telefonaten entstand die Idee, ein Buch nicht nur über taube Hunde, sondern über unterschiedlich behinderte, traumatisierte und aus verschiedenen Gründen stigmatisierte Hunde zu schreiben. Via Internet wurde ein Aufruf gestartet, in dem Halter solcher Hunde gebeten wurden, die Geschichte ihres Tieres zu erzählen. Das Ergebnis liegt gerade in Ihren Händen. Sie werden staunen, zu welchen Leistungen auch behinderte Hunde fähig sind. Sie werden erfahren, dass die meisten von ihnen eigentlich ein fast normales Leben führen können. Sie werden lesen, welche kreativen Maßnahmen die Halter dieser Hunde ergreifen, um ihrem Schützling das Leben zu erleichtern. Sie werden mitfühlen, werden den gemeinsamen Weg dieser Menschen mit ihrem Hund, die Höhen und Tiefen miterleben. Und vermutlich werden Sie auch die eine oder andere Träne vergießen, aber Sie können teilhaben am Leben ganz vieler besonderer »Fellnasen«.
Ich hoffe, dieses Buch trägt dazu bei, Vorurteile abzulegen und unnötige Euthanasie zu verhindern. Und wenn auf diese Weise vielleicht ein weiterer behinderter, traumatisierter oder stigmatisierter Hund ein liebevolles Zuhause findet, in dem er bis zu seinem letzten Atemzug ein hundewürdiges Dasein führen kann, hat sich die Mühe auf jeden Fall gelohnt. Denn für genau diese »Fellnasen« wurde das vorliegende Buch geschrieben.
Anke Dalder und Lucky
Alte Hunde
Asta
Asta – Endstation Dachboden?
von Dorothee Kossatz
Als Inhaberin eines Hundesalons schere und pflege ich ehrenamtlich einmal pro Monat die Hunde in einem nahe gelegenen Tierheim. Einer meiner ersten »Kunden« dort war eine kleine, schwarze Dackel-Pudel-Mischlingshündin namens Asta. Sie lag in einem Körbchen in ihrer Box und schaute mich kritisch an. Auf meine Frage nach ihrer Herkunft erzählte man mir eine fast schon unglaubliche Geschichte: Asta hatte ihre ersten beiden Lebensjahre auf einem Scheunenboden verbracht, wo sie von Bauern gehalten wurde, um Ratten und Mäuse zu jagen – eine irrwitzige Aufgabe! Die Kinder des Bauern ärgerten die Hündin häufig, indem sie ihr z. B. Fressen hinhielten, was sie ihr schließlich aber doch nicht gaben. Immer wieder wurden diese Leute von Nachbarn beim Tierschutzverein angezeigt, aber während der Kontrollbesuche befand sich Asta erstaunlicherweise stets im Wohnzimmer. Der Verein hatte daher zunächst nichts ausrichten können. Schließlich gelang es den Tierschützern jedoch, die Familie »auf frischer Tat zu ertappen«. Für Asta war damit ihre Sternstunde gekommen. Entgegen der Meinung vieler Leute haben Hunde und Katzen es nämlich teilweise im Tierheim besser als bei manch einem Besitzer. Unsere Asta zumindest hat im Tierheim erstmalig Liebe und Zuneigung erfahren dürfen.
Der Tierheimleiter erzählte mir, Asta hätte schon jeden Mitarbeiter gebissen. Aufgrund ihrer geringen Größe hätten sich zwar immer wieder Leute für sie interessiert, aber wegen ihres Beißverhaltens sollte sie nur in erfahrene Hände abgegeben werden. So war sie nach vier Jahren immer noch nicht vermittelt. Um Asta scheren zu können, band ich ihr zunächst ihre Schnauze zu und mein Helfer hielt sie fachgerecht fest. Trotzdem gelang es ihr zu beißen. Sie war voller Angst und Misstrauen gegenüber Menschen, sodass sie gar nicht anders konnte. Aber von Mal zu Mal wurde es besser, und nach etwa einem Jahr reichte es aus, sie beim Scheren am Kopf zu halten.
Als im September 2001 meine fast 18 Jahre alte Yorki-Chihuahua-Mischlingshündin Fluffy starb, überlegte ich, Asta zu uns zu holen. Aber ich brauchte erst mal etwas Zeit, um über den Verlust von Fluffy hinwegzukommen. Natürlich hatte ich auch einige Bedenken: Würde Asta sich mit meinen beiden Perserkatzen vertragen? Was wäre, wenn sie sich nicht an meine Familie gewöhnte, die sie im Urlaub betreuen würde? Würde sie uns überhaupt ihr Vertrauen schenken können nach den schlechten Erfahrungen in ihren ersten Lebensjahren? Mitte November waren wir dann wie üblich im Tierheim, um die Hunde zu scheren. An diesem besagten Tag passierte etwas Seltsames: Ich ging zu Astas Box und sie knurrte mich wie immer, in ihrem Körbchen liegend, an. Daraufhin sagte ich zu ihr, wir würden sie gern bei uns aufnehmen, sie solle es sich überlegen. Plötzlich sprang Asta auf und schleckte – was sie zuvor noch nie getan hatte – mein Gesicht, als ob sie begriffen hätte, dass ich ihr ein neues Leben anbot.
Einen Monat später holten wir sie zu uns nach Hause. Der erste Tag gestaltete sich wider Erwarten problemlos. Als Asta unsere zwei Perserkatzen das erste Mal sah, tanzte sie aufgeregt um sie herum und wollte sie beschnüffeln. Pascha, der alte Kater, gab ihr drei Tatzenhiebe auf die Nase, damit war die Rangordnung geklärt.
In den darauf folgenden Wochen traten folgende Probleme auf:
Asta fraß nicht in Ruhe an dem ihr zugedachten Platz, sondern schaute sich am Napf stets aufgeregt um, nahm sich dann etwas daraus und verschlang es hektisch auf dem Teppich.
Sie vertrug sich nicht mit anderen Hunden. Es gab nur wenige Artgenossen, die sie mochte. Wie wir schließlich herausfanden, waren das ausschließlich blonde oder rothaarige Rüden. Bei Begegnungen mit Schäferhunden hängte sie sich in die Leine und sprang ihnen direkt an die Kehle. Nach einiger Zeit erkannten wir, dass sie dieses Verhalten bei fast allen Hunden mit Stehohren zeigte.
Asta entwickelte einen starken Beschützerinstinkt, der sich auf alles bezog, was uns gehörte. So bewachte sie auch unseren Einkaufskorb samt Inhalt vor den Katzen in der Wohnung. Außerhalb der Wohnung wurde unser Eigentum ebenfalls streng von ihr behütet.
In den ersten zwei Wochen schnappte sie in manchen Situationen auch nach uns. Einmal wollte ich z. B. eine Socke wegräumen, die neben ihr auf dem Sessel lag. Asta erschrak und wollte beißen. Da meine Handlung allerdings ziemlich unbedacht war, schimpfte ich nicht.
Bedingt durch die ersten zwei Lebensjahre auf dem dämmerigen Dachboden litt Asta leicht an grauem Star. Daher schaute sie sich anfangs bei Spaziergängen im Dunkeln oft hektisch um. Dieses Verhalten gab sich nach einigen Wochen von allein, nachdem die Hündin Vertrauen zu uns aufgebaut hatte.
Das erste Problem lösten wir, indem wir Astas neuen Napf gegen ihren alten aus dem Tierheim austauschten. Außerdem verlegten wir den Futterplatz in eine ruhige Ecke des Schlafzimmers. Um Astas Verhältnis zu anderen Hunden zu verbessern, suchten wir drei Monate später eine Hundeschule auf. Wir hatten damit bewusst einige Wochen gewartet. Asta sollte erst einmal zu uns eine gewisse Bindung und Vertrauen aufbauen. Sie hatte nie gelernt, ein Sozialverhalten zu entwickeln. Im Hundeverein wurde Asta schließlich umgänglicher mit ihren Artgenossen. Nach und nach fing sie auch an zu spielen: erst allein, und dann entdeckte sie, dass es mit Frauchen und Herrchen viel mehr Spaß macht. Ab und zu spielt sie inzwischen auch schon mit anderen Hunden. Das Schäferhund-Problem zu lösen, gestaltete sich etwas schwieriger, da Asta leider, kurz nachdem sie zu uns gekommen war, von einem Hund dieser Rasse angefallen und gebissen wurde. Dieses Erlebnis verstärkte natürlich wieder ihre Aggression. Aber wir arbeiteten ständig daran. Jetzt, nach etwa drei Jahren, verhält sich Asta auch Hunden mit Stehohren gegenüber relativ normal; sie knurrt vielleicht mal kurz, doch ansonsten gibt es kein Problem mehr beim Spazierengehen. Das haben wir erreicht, indem wir vor allem bei uns keine Emotionen aufkommen ließen, wenn uns solche Hunde begegneten. Ein Hund spürt sofort, was am anderen Ende der Leine los ist, und reagiert dementsprechend darauf. Ich kaufte für Asta außerdem ein sogenanntes Feltmann-Geschirr, das keinen Druck auf den Halsbereich des Hundes ausübt, wie normale Halsbänder es tun. Mithilfe dieses Geschirrs erreichte ich eine gute Leinenführigkeit bei meinem Hund. Durch regelmäßiges Training und mehrere kurze Übungseinheiten pro Tag hat Asta inzwischen einen sehr guten Grundgehorsam. Auch Sportarten wie Dogdancing und Agility begeistern sie sehr.
Dem starken Beschützerinstinkt arbeiten wir ebenfalls nach wie vor entgegen. Wir verbieten Asta in solchen Situationen ihr Verhalten mit etwas lauterer Stimme und bestimmten Worten wie z. B. »Nein«. Außerdem lassen wir die betreffenden Personen oder Tiere zu dem von ihr bewachten Gegenstand hingehen und Asta einige Meter entfernt abliegen, um ihr zu zeigen, dass das Handeln der anderen in Ordnung ist. Asta hat inzwischen auch unsere engere Verwandtschaft ins Herz geschlossen. Es dauerte zwar einige Wochen, aber nachdem sie gemerkt hatte, dass alle es gut mit ihr meinten und auch immer ein Leckerli für sie abfiel, machte sie keine Anstalten mehr zu schnappen. Astas Sozialverhalten normalisiert sich zunehmend, sowohl im Umgang mit Hunden als auch Menschen gegenüber. Natürlich nehme ich sie mit, wenn ich nach wie vor monatlich das Tierheim besuche, um dort die Hunde zu scheren. Asta freut sich jedes Mal sehr; und wir Menschen sind dann oft erst einmal »abgeschrieben«.
Es ist nie zu spät, einem älteren Hund etwas beizubringen. Natürlich erfordert die Erziehung besondere Geduld, Verständnis und viel Liebe. Außerdem sollte man sich vorher genau über den Charakter und die Unarten des Tieres informieren. Ein ängstlicher oder misstrauischer Hund wie unsere Asta darf nur in hundeerfahrene Hände kommen. Gerade für einen Tierheimhund ist es schlimmer, wieder ins Tierheim zurückgebracht zu werden, als wenn er einfach nur etwas länger dort bleibt, bis sich die richtigen Besitzer gefunden haben.
Asta ist eine große Bereicherung für unser Leben und wir haben es keine Sekunde bereut, sie zu uns genommen zu haben.
Bonnys langer Weg vom Schrottplatz über die Regenbogenbrücke
von Birgit Fischer
Meine Saluki-Mix-Hündin Bonny fand ich durch Zufall auf einem Schrottplatz, niedliche acht Wochen alt und abgemagert bis auf die Rippen. Ich war damals dreiundzwanzig und da ich gerade meine eigene Wohnung bezogen hatte, war es ganz klar, dass ich sie mitnehmen würde, wo ich doch jetzt für mich alleine verantwortlich war und niemand mir etwas verbieten konnte. Ahnung von Hunden hatte ich noch nicht, aber man kann ja alles lernen.
Bonny wurde immer hübscher und frecher. Sie war ein ungestümer Welpe, fraß meine Schuhe, die Gipswand inklusive des Telefons und tausend andere Sachen, die ich nicht wegräumte. Drei Jahre lang gingen wir zur Hundeschule. Der Hund war immer bei mir, man kannte uns nur als Team. Wir machten jeden Unsinn und hatten viel Spaß, elf Jahre lang – bis zu unserem schlimmsten Tag. War ich mal ohne Hund unterwegs, hieß es zunächst: »Wo ist Bonny?« und dann erst: »Hallo Birgit«. Ich konnte mir kein Leben ohne meine Hündin vorstellen. Die Freunde wechselten, mein Hund war immer bei mir: Birgit und Bonny gegen den Rest der Welt!
Es fällt mir schwer, gerade ihre letzten Jahre zu beschreiben, denn niemals habe ich mehr Herzblut investiert als in dieser Zeit. Es begann mit dem Tag X, einem Unfall: Bonny rannte in eine Bierflasche, die irgendein Idiot am Rheinufer liegen gelassen hatte, und zerschnitt sich die Achillessehne am linken Hinterbein. Es folgte eine schwere und lange Operation. Bonny war damals elf Jahre alt und außerdem herzkrank, daher befürchtete ich, sie würde den Eingriff an diesem heißen Sommertag nicht überleben. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen – und ich bin kein Mensch, der zur Hysterie neigt. Das Warten war unerträglich, die Operation verlief aber gut. Mein Freund und ich konnten Bonny nachmittags endlich wieder abholen. Leicht benommen, aber froh, ließ sie sich nach Hause bringen, das Bein steckte bis zur Hüfte in einer Gehschiene und einem dicken Verband. Ich ahnte nicht im Entferntesten, wie lange es dauern würde, bis Bonny wieder laufen konnte. Nach sechs Monaten mit Gipsbein folgten noch Wochen und Monate in einem Vierbeiner-Rehazentrum zur Reaktivierung des Beines.
Was mich in dieser Zeit sehr beeindruckte, das war Bonnys Wille zu kämpfen. Sie war ein starker Hund, der auch mir Kraft gab. Nur kurz kam sie in eine Phase, in der sie das Gipsbein nicht mehr leiden konnte und depressiv wurde; also holten wir noch einen Hund dazu, um sie aufzumuntern. Ein zweiter Hund war sowieso immer schon mein Traum gewesen. Im Internet fanden wir Frank Sinatra, einen tollen Podenco-Mix aus Fuerteventura. Bonny, die starke Einzelkämpferin, gewöhnte sich schnell an ihn und ließ sich von ihm beschützen. Im darauf folgenden Sommer konnte sie sich wieder leidlich auf ihren Beinen halten, fast ein Jahr war seit dem Unfall vergangen. Wir trainierten ihre Muskeln so gut wie möglich weiter, zusätzlich bekam sie Akupunktur-Behandlungen. Es ging aufwärts. Natürlich fragte ich mich während der ganzen Zeit, ob dieses Leben für Bonny noch lebenswert war. Aber ja doch! Sie zeigte es mir deutlich, dass sie laufen wollte.
Etwa zehn Monate später erlitt Bonny einen linksseitigen Schlaganfall. Es ging ihr sehr schlecht und jetzt war es erneut an der Zeit zu überlegen, ob sie noch glücklich war oder ihr Leben nur noch erduldete. Leiden sollte sie natürlich nicht, aber alleine der Gedanke an ihren Tod tat schon fürchterlich weh. Ich glaubte an Bonnys Stärke und Kraft und war überzeugt, dass sie auch diesen Schicksalsschlag verkraften würde. Ihr Gesichtsfeld war eingeschränkt; ich wusste nicht, wie gut sie sehen konnte und ob das Gehirn stark gelitten hatte. Die Hinterbeine waren geschwächt. Ich musste Bonny anfangs zwangsfüttern, denn aufgrund der schlechten Leberwerte hatte sie keinen Appetit mehr. Sie wurde inkontinent und ich sah, wie peinlich es ihr war, wenn sie in ihr Körbchen gemacht hatte. Unsere Tage bestanden aus füttern, putzen, baden; oft musste ich den Hund tragen und das Gassigehen war nur ganz langsam möglich. Es war allerdings erkennbar, dass Bonny sich »berappelte« und auch diese Situation in den Griff bekam. Da hält man einfach durch, für den Hund und für seine Lebensqualität. Wir fuhren so oft wie möglich ans Meer, um die Hündin darin zu unterstützen, körperlich und geistig wieder zu einem gesunden Hund zu werden, zu »unserer Bonny« eben.
Bonny fiel häufig um oder torkelte auf ihren schwachen Beinen, was bei einem großen Hund von 69 Zentimetern für den Beobachter natürlich sehr grausam aussah. So war ich plötzlich damit konfrontiert, dass mich fremde Menschen ansprachen und fragten, wann ich dem Hund denn endlich »helfen« würde. Spätestens wenn Bonny aber nach der Hand schnappte, die sie streicheln wollte, hieß es: »Na ja, Lebenswillen hat sie noch …« Ja, genau – ihren Lebenswillen hatte sie weiterhin und zwar jede Menge davon! So lange sie noch wollte, musste ich auch wollen. Ab diesem Zeitpunkt mied ich jedoch die Menschen, um mir deren Kommentare zu ersparen.
Es wurde wieder November. Über ein Jahr war seit dem Unfall vergangen und ich wartete ungeduldig auf den nahenden Frühling. Bonny liebte die Sonne und ich wollte ihr die Gelegenheit geben, Kraft zu tanken und stark zu werden. Ich dachte inzwischen fast täglich darüber nach, ob ihr Leben wirklich noch so lebenswert war, wie ich es sah. Immer häufiger fiel sie um oder stieß mit ihren Knochen an die Türrahmen. Ich änderte fast alles, von der Wohnungseinrichtung bis hin zu meinem Tagesablauf, um es Bonny so einfach wie möglich zu machen. Aber langsam musste ich mir ehrlich eingestehen, dass dies nicht das Leben war, das sie früher geführt hatte, als sie noch der wilde, unbändige Hund war mit den frech blitzenden Augen, ständig aufmerksam und in Bewegung. Da auch ich nur ein Mensch bin, tat ich mich schwer in dieser Zeit. Ich heulte nächtelang bei dem Gedanken an ihren Tod, wollte es ihr aber nicht zeigen. Dafür war dieser Hund einfach zu intelligent; sie hätte gemerkt, was los war.
Ich war hin- und hergerissen. Mutete ich gerade dem Wesen, das mir am meisten bedeutete, womöglich Unerträgliches zu, nur weil ich nicht loslassen konnte? Musste Bonny leiden oder bekam sie es gar nicht so mit? Hunde erleben körperliche Defekte ja anders als wir Menschen. Aber irgendwie spürte ich, dass sie um ihren Zustand wusste. Jetzt, ein Jahr später, denke ich, dass sie selbst auch nicht einfach aufgeben wollte, mir zuliebe und weil sie eine so starke Persönlichkeit war. Sie liebte das Leben, sie war es gewohnt zu kämpfen, sonst hätte sie bereits als Welpe nicht überlebt.
Ich hoffte Tag um Tag. Und wenn ich ehrlich bin, dann wünschte ich mir insgeheim, dass Bonny morgens tot im Körbchen liegen würde, einfach friedlich eingeschlafen, ohne Schmerzen. Gleichzeitig wollte ich aber nicht, dass sie diesen Weg alleine gehen musste und womöglich Angst dabei hatte. Ich gab ihr alles, was ich konnte – Ruhe, nette Hundekontakte, Wiesen, auf denen sie schnuppern oder sich einfach mal hinlegen konnte, und das Wichtigste: meine Anwesenheit. Dem Himmel sei Dank, dass ich in dieser ganzen Zeit arbeitslos war und so die letzte, schwere Zeit mit ihr teilen durfte. Während unserer Schmusestunden und bei den leichten Massagen versuchte ich immer, in ihren Augen zu lesen, wann ES soweit sein würde. Jemand hatte mir erzählt, dass man an den Augen sehen kann, wenn ein Hund nicht mehr will. Ich sah nichts, nur diese großen, schönen Augen, die fast immer noch Lebensfreude zeigten. Aber ich bemerkte auch ihre Hilflosigkeit, wenn sie mal wieder gegen den Türpfosten stieß, umfiel und nicht mehr aufstehen konnte. Innerlich schrie ich mir selbst zu: Oh nein, sie leidet. Was tust du ihr bloß an? Und dann ging ich verzweifelt zu ihr, half ihr wieder auf und sie rannte einfach weiter, ziellos und doch bestimmt.
Langsam überwog die schlechte Zeit die guten Momente. Ich konnte es sehen, aber ich wollte nicht. Wie soll man sich in solch einem Wechselbad der Gefühle verhalten? Natürlich ist es selbstverständlich, ausschließlich im Sinne des Hundes zu handeln. Bonny war mir ausgeliefert, von mir abhängig. Mein Freund war zwar stets bei uns, den endgültigen Entschluss aber hatte ich zu fällen. Ich wollte auch meinem Freund die Zeit geben, sich mit Bonnys Tod vertraut zu machen. Häufig beobachtete ich, wie er sich alleine zu der Hündin setzte, mit ihr schmuste und auf seine Art Abschied nahm. Wir litten vor uns hin: Ich, weil ich die Entscheidung über ihr Ende treffen musste, über den Zeitpunkt, wann ich mich für immer von ihr trennen musste; er, weil er es einfach nicht mehr mit ansehen konnte, wie sie sich quälte. Ich sprach mit vielen Freunden und Bekannten. Einerseits, um mir Bestätigung zu holen in dem, was ich tat, und andererseits wollte ich vielleicht von mehreren Seiten gesagt bekommen, dass Bonnys Zeit jetzt wohl gekommen sei. Die Angst vor dem Tod des geliebten Hundes ist der blanke Egoismus. Ich musste mit dem Schmerz des Verlustes umgehen, Bonny würde einfach in Frieden einschlafen. Das wusste ich, aber …
Schließlich, an einem Freitag Anfang Februar, war ich mir sicher, bereit dafür zu sein, Bonny zu erlösen. Wir kosteten das anschließende Wochenende mit ihr richtig aus, so gut das eben in solch einer Situation ging. Jeder von uns hatte nah am Wasser gebaut. Tränen standen schon lange auf der Tagesordnung. Und, so makaber es jetzt klingt, wir dachten auch darüber nach, was mit ihrem Körper nach ihrem Tod geschehen sollte. Verbrennen – aber wo? Vergraben – an welchem Ort? Beim Tierarzt lassen und dann vielleicht zu Seife verarbeitet werden – niemals! Wir hatten so viel Zeit gehabt, doch diese Gedanken hatten wir immer verdrängt. Wenn ich sie töten ließ, musste sie doch irgendwohin! Am Montagmorgen stand es endlich für mich fest: Bonny sollte selbstverständlich zu Hause sterben, durch ihren Lieblingsarzt, der sogar nach Feierabend extra für sie noch zu uns kam. Er hatte sie operiert und uns zwei Jahre lang betreut und wollte ihr schweren Herzens diese letzte Hilfe geben. Den Tag verbrachten wir damit, ihr Grab auf unserem Grundstück -auszuheben. Die Situation war makaber, doch wir wussten nicht, wie wir sonst mit dieser endlos langen Zeit bis zum Abend umgehen sollten. Arbeiten gehen konnte niemand von uns in dem Bewusstsein, dass dies der letzte Tag war, die letzten Stunden, die wir alle noch miteinander verbringen durften.
Bonny stapfte zielstrebig um uns herum, ganz neugierig und völlig beschäftigt mit Schnüffeln und Laufen. Sie fiel auch nur einmal um. Wir sahen uns an und fragten uns zum x-ten Mal, was wir da eigentlich geplant hatten. Es ging ihr doch gut! Sie rannte tatsächlich über zwei Stunden herum, sprang kleinen Stöckchen hinterher und war ganz begeistert. Im Nachhinein denke ich, dass sie wusste, was passieren würde, und einfach fröhlich Abschied genommen hat. Frank Sinatra, der ewig gut gelaunte Hund, stand mit uns im Loch und half sogar stolz beim Buddeln. Das war seine Leidenschaft. Wenn er gewusst hätte, was er da tat … Eine Million Gedanken in ein paar Stunden! Herzleid wird so oft beschrieben, doch man versteht es erst, wenn es einem selbst passiert. Bonny sollte Fröhlichkeit um sich haben, wenn sie ihre letzten Stunden schon so aktiv erleben konnte. Ich sah sie an, immer wieder, fasziniert von ihrer Schönheit und ihrem Blick, hin- und her gerissen zwischen Lachen und Weinen. Der Tag war schlimm und doch so unendlich wertvoll.
Dann fuhren wir alle vier wieder nach Haus und mussten auf das Unvermeidliche warten. Wir zündeten Kerzen an und machten den Raum angenehm dunkel. Warum, war uns selbst nicht klar, es schien uns zum Tod dazuzugehören. Bonny und Frank waren müde nach dem Laufen und legten sich zusammen ins Körbchen. Das geschah nur selten, denn der Kleine hatte viel Respekt vor der Hündin. Später lag Bonny alleine dort, wie immer im komatösen Tiefschlaf, den sie schon seit langer Zeit hatte. Nichts konnte sie in solchen Situationen wecken. Wir saßen auf der Couch, schauten zu ihr und sprachen kaum. Jeder hing seinen Gedanken nach; immer wieder gingen wir zu ihr, um sie zu streicheln – mit dem Wissen, gleich sollte es vorbei sein. Sie würde nachher genauso daliegen, nur dann würde sie nie wieder aufwachen. Die Stunden wurden zu einer Ewigkeit. Als es an der Tür klingelte, war es um meine Fassung geschehen. Der Tierarzt kam und Bonny, die Wächterin im Haus, hörte nicht einmal die Klingel. Frank, der Clown, fand es toll, diesen netten Mann auch mal zu Hause begrüßen zu dürfen, und freute sich riesig. Das lenkte mich ein wenig ab. Bonny reagierte nicht auf die Stimme ihres Arztes, sie war erschöpft von dem schönen Tag.
Wir tranken Kaffee und sprachen über die Gegensätze hinsichtlich Bonnys Zustandes. Aber der Arzt kannte uns lange und gut und wusste, dass unsere Entscheidung richtig war. Als er zu Bonny ging, schnürte es meinem Freund und mir die Kehle zu. Wir knieten an ihrem Körbchen und streichelten sie sanft. Frank setzte sich leise zwischen uns. Ich hielt Bonnys Pfote, schaute in ihre Augen und versuchte, sie nicht mit Tränen zu verabschieden, sondern mit einem Lächeln zu begleiten. Bonny sollte fühlen, dass sie nicht alleine war, aber auf keinen Fall wach werden. Dieser starke und stolze Hund hätte sich bestimmt gewehrt!
Als der Tierarzt Bonnys Bein streichelte, sah sie kurz auf, ließ dann ihren Kopf aber wieder ruhig zur Seite sinken. Die Kanüle war gelegt, das Beruhigungsmittel floss in ihren Körper. Sie schlief ein, nun gab es kein Zurück mehr. Dann kam das zweite Mittel, es sollte ihr endgültig das Leben nehmen. Wie in Trance schaute ich zu und konnte gar nichts sagen oder tun. Bonnys Mundwinkel zuckten, als ihr Herz aufhörte zu schlagen. Sie sah so schön aus wie vorher, nur würde sie mich nie wieder ansehen. Es war vorbei und der Verlust tat unbeschreiblich weh. Wir weinten und streichelten Bonny immer wieder. Dabei versuchten wir, uns zu trösten: Wir erzählten uns kleine Anekdoten, die wir mit Bonny erlebt hatten, während unsere Tränen nahezu unaufhörlich flossen. Nur für Frank schien sich nichts verändert zu haben, Bonny war noch warm und lag ja häufig so in ihrem Körbchen.