Cemetery Car®

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Angelika Nickel

Cemetery Car®

Band 1 - Weichen zum Jenseits

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1 - Das neue Auto

2 - Zimtgeruch

3 - Der Brief

4 - Cemetery Car

5 - Veränderungen

6 - Villa Punto auf Silentsend

7 - Salbei

8 - Die Wahrheit über Evelyn

9 - Verdacht auf Imperato

10 - Nachtschrecken

11 - Der Umzug

12 - Rhapsodie

13 - Wiedersehensfreude

14 - Madame Zink

15 - Der unscheinbare Professor Gräulich

16 - Schattentanz

17 - Begründete Zweifel?

18 - Zum Kalkül

19 - Rasputin

20 - Langjährige Freundschaft

21 - Aufbruchsstimmung

22 - Die Höllenfahrt

23 - Suggestion

24 - Bruder George

25 - Booker

26 - Ein Gespräch zwischen den Zügen

27 - Das Auge der Medusa

28 - Palermo

29 - Satana

30 - Das Dreigespann

31 - Die Aura des Todes

32 - Der Zufall des Schicksals

33 - Todeswahn

34 - Nolte

35 - Monsignore und das Auge des Tigers

36 - Das traurige Ende der Wahrheit

37 - Erkenntnisse

38 - Der phantastische Salvatore Amore

39 - Feuerreigen

40 - Vibrationen

41 - Dämonengeburt

42 - Hilfe aus dem Reich der Geister

43 - Gebranntes Land

44 - Die Magie von Rauch und Stein

45 - Tutoris

46 - Irrweg

47 - Die Vereinigung

48 - Späte Rache

49 - Das Licht, am Ende des Tunnels

Widmung

Ein spezieller Dank

Hinweis

Angewandte Rechtschreibung

Buchreihenstart

Information

Zeichenerklärung

Vorschau

Autor

Impressum neobooks

1 - Das neue Auto

»Kim, sprich endlich wieder mit mir.« Quentin sah mit einem schnellen Seitenblick zu seiner Verlobten.

Kim antwortete nicht. Mit verschränkten Armen saß sie neben ihm auf dem Beifahrersitz und blickte stur geradeaus.

»Jetzt mach doch, bitte, kein Drama daraus. Das Auto ist ein ganz normales Auto, wie jedes andere auch. Und außerdem, du vergisst anscheinend ganz, dass wir nicht im Geld schwimmen.« Ein weiterer, kurzer Seitenblick zu Kim, doch sie schwieg, stierte stumm vor sich hin. Lange Zeit sagte sie gar nichts, bis sie endlich ihr frostiges Schweigen brach.

»Aber für das Geld hätten wir mit Sicherheit auch noch ein anderes Auto bekommen.« Kim sah immer noch bockig, vor sich hin.

»Mag sein, vielleicht. Doch wir brauchen jetzt ein Auto und nicht irgendwann. Immerhin muss ich ab nächsten Monat an der Uni assistieren, oder hast du das ganz vergessen?«

»Nein, Quentin, das habe ich keineswegs vergessen.« Zum ersten Mal, seit dem Kauf des Autos, sah Kim ihren Verlobten, Quentin Sommerwein, an. Ihr Gesicht war blass und ihre roten Locken hingen ihr wild in die Stirn.

»Na siehst du, weshalb also, so ein Theater, eines alten Autos wegen, machen? Wir fahren es so lange, bis ich ein wenig mehr Geld zur Seite gelegt habe, und dann verkaufen wir es wieder und kaufen uns ein Auto, eins, wie es dir gefällt. Was hältst du von meinem Vorschlag?« Quentin blickte für einen kurzen Moment von der Fahrbahn weg, hin zu Kim.

Er war froh, dass sie endlich wieder mit ihm redete. Seit dem Kauf des Autos, und ihrem lautstarken Protest dagegen, hatte sie mit ihm geschwiegen.

Nur widerwillig war sie in das alte verbeulte Vehikel eingestiegen. Und es hatte lange gedauert, bis sie sich nicht mehr, demonstrativ, die Nase zugehalten hatte. Dafür hatte sie mit einem wütenden Ruck, die Kurbel des Fensterhebers betätigt und es, so weit es nur ging, nach unten gedreht.

Kim verfiel erneut in frostiges Schweigen.

Quentin, der nichts gegen ihr Schweigen auszurichten wusste, fuhr die endlose Landstraße entlang, ohne noch einen neuerlichen Gesprächsversuch zu starten. So gut kannte er Kim, um zu wissen, dass es dauern würde, bis sie endlich wieder für eine normale Konversation mit ihm bereit sein würde. Und bis dahin blieb ihm nichts anderes übrig, als ebenfalls zu schweigen.

Als er die Stille überhaupt nicht mehr aushielt, griff er zum Radio und drehte es an. Doch außer Rauschen war diesem kein Laut zu entringen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als es wieder auszuschalten.

»Hast du etwas anderes erwartet?«, schnauzte Kim ihn an, und in ihrem Tonfall schwang ihr Missfallen deutlich mit.

»Wie?« Quentin war die Überraschung deutlich anzuhören. Kim hatte doch tatsächlich ihr Schweigen gebrochen.

»Ich frage dich, ob du etwas anderes erwartet hast?«, wiederholte sie ihre Frage, ohne sich Quentin zuzuwenden.

»Klar habe ich erwartet, dass das Radio funktioniert. Wieso auch nicht?«

»Wieso auch nicht«, äffte Kim ihn nach.

»Ja, wieso nicht?«, wiederholte auch er seine Frage.

»Weil es ein Leichenwagen ist, deshalb. Und die, dienen wohl kaum dazu, lustige oder laute Musik zu spielen.«

»Kim, Schätzchen, du übertreibst maßlos. Klar war unsere neue Karre einmal ein Leichenwagen, aber jetzt doch nicht mehr.« Er schüttelte verwirrt den Kopf. Manchmal war es schwierig mit ihr, erst recht dann, wenn es nicht nach ihrem Kopf oder ihren Vorstellungen ging. »Wir haben das alte Vehikel gekauft, es vorm Verschrotten bewahrt, und die Zeit der Leichen ist für dieses Teil für immer vorbei. Also gibt es keinen plausiblen Grund, weshalb das Radio keine Musik spielen sollte.« Quentin konnte ja noch verstehen, dass Kim nicht gerade erbaut vom Kauf eines ehemaligen Leichenwagens war, doch nun übertrieb sie, aus seiner Sicht, beachtlich. Ein Radio, welches nur krächzte, hatte entweder keinen Sender eingestellt, oder es war einfach nur kaputt.

 

Kim kramte eine Zigarettendose aus ihrer kleinen blauen Tasche. Mit zittrigen Fingern zog sie die letzte Zigarette heraus. Leises Klicken war zu hören, ein kurzes helles Aufleuchten, dann sog Kim den Rauch in sich ein. Mit einem schrägen Blick auf Quentin, sagte sie: »Dass der Totengeruch endlich verschwindet.« Danach fuhr sie in ihrem Protestschweigen fort.

Schweigend zog sich die Fahrt bis zu ihrem Zuhause dahin.

Endlich daheim angekommen, stieg Kim, so schnell sie nur konnte, aus dem Wagen, rannte die paar Stufen zu ihrer Haustür hoch, schloss mit eiligen Fingern das Schloss auf, und rannte hinauf ins Bad.

Kurz danach konnte Quentin nur noch das Rauschen der Dusche hören.

Anschließend das leise Zufallen einer Tür.

Quentin wusste, dass Kim sich für diese Nacht im Gästezimmer einquartiert hatte.

Achselzuckend ging er ebenfalls ins Bad und machte sich fertig für die Nacht.

So bemerkte er nicht, dass sich unten im Auto das Radio von alleine angeschaltet hatte.

Dass Geräusche aus diesem herausdrangen, die nicht von dieser Welt kamen.

Krächzende Stimmen, wie die von ganz alten Menschen, beseelten den Innenraum des ehemaligen Leichenwagens.

Eigenartige Stimmen, die sich nach schaurigem Gesang anhörten.

Totengesang.

2 - Zimtgeruch

Der nächste Morgen kündigte einen regenverhangenen Tag an.

Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Fensterscheiben, und vom Norden her, zogen noch dunklere Regenwolken zu ihnen herüber.

Quentin hatte sich, gleich nach dem Aufwachen, in seine Sportklamotten geschmissen, den Schlüssel geschnappt und war nun, mit zerschlissenen Turnschuhen, joggend, auf dem Weg zum Bäcker.

Frische Brötchen, die mochte Kim über alles, und Quentin hoffte, sie damit ein bisschen versöhnlicher zu stimmen.

Sicher hatte er gewusst, dass sie niemals einen Leichenwagen haben wollte, aber wenn er ihn doch so günstig bekommen hatte, was war denn, um Himmels Willen, nur so schlimm daran? Die Toten, die in ihm transportiert worden waren, die waren schon lange tot und begraben, und manche von ihnen mit Sicherheit schon längst von den Würmern zerfressen, oder auch bereits zu Staub zerfallen, oder erst gar nicht in der Erde beigesetzt, sondern gleich eingeäschert worden. Er konnte Kims Reaktion nur bedingt verstehen.

Beim Bäcker zog er einen dunkelblauen Stoffbeutel aus der Hosentasche und ließ ihn mit vier frischen Brötchen befüllen.

Danach ging er in den kleinen Krämerladen, unten an der Straßenecke der Morganstraße.

Im Krämerlädchen hantierte ein altes Hutzelweib herum, deren Mund die Zeit der Zähne schon lange überschritten hatte. Mit ihrem zahnlosen Lächeln sah die Alte ihn an.

»Womit kann ich dienen?« Dienstbeflissen lächelte sie Quentin noch breiter an. Ihr Kopf hob sich, während sie schnüffelte. »Warst’e oben, beim Bäcker Molke? Dem seine Brötchen, die duften, dass du sie sicher im Grab noch riechen kannst.« Sie sah an sich herunter. Auf Quentins verdutzten Gesichtsausdruck hin, sagte sie, und es hörte sich nach einer Erklärung an: »Wenn man in meinem Alter ist, denkt man immer mehr ans Grab, und wie es dann wohl sein wird …Ob alles vorbei sein wird, oder ob es danach doch noch etwas gibt. Was glauben Sie? Folgt nach dem Tod noch etwas anderes?«

»Das kommt wahrscheinlich auf die Glaubensrichtung an. Ich habe zwar Archäologie studiert, aber da lehrt man nicht unbedingt vom Leben nach dem Tod.« Als er das enttäuschte Gesicht der alten Frau, deren meiste Lebensstunden schon abgelaufen waren, sah, räusperte er sich verlegen, und sprach weiter: »Es gibt allerdings verschiedene Religionen, deren Mythen erzählen von anderen Dingen. Doch nichts lässt sich so richtig beweisen. Weder, dass es nach dem Tod nichts mehr gibt, denn dagegen sprechen die parapsychologischen Beobachtungen, von denen immer mal wieder berichtet wird. Doch auch die Begegnung mit Geistern, oder, dass sich Dinge von alleine, wie von Geisterhand bewegen, sich Gerüche dahin gehend verändern, dass sie auf die Anwesenheit eines Verstorbenen schließen lassen, lassen sich nicht beweisen. Viele tun dies als Einbildung ab.« Er winkte ab. »Wenn Sie mich fragen, dann glauben Sie doch einfach daran, dass es nach dem Tod noch ein anderes, besseres Leben gibt. Es macht bestimmt ganz viele Dinge leichter.«

Quentin erkannte deutlich die Erleichterung, im Gesicht der alten Frau.

Eiligst verlangte er nach einem nach Zimt duftenden Raumspray, zahlte und verließ den Laden.

Der Himmel hatte sich unterdessen mit dunklen Wolken zugezogen, und tauchte alles in ein trübes Weder-Nacht-noch-Tag-werden-wollens.

Dicke Regentropfen entluden sich aus den Wolken.

Hastig zog Quentin die Kapuze seiner Regenjacke über den Kopf und joggte eilig zurück.

Als er zuhause ankam, sah er, dass auch Kim wach war; ihr Rollladen war bis zur Hälfte hochgezogen.

Leise öffnete er die schöne weiße Eingangstür.

Das Betreten des Hauses verursachte einen kleinen Schmerz in seiner Herzgegend, denn Ende nächsten Monats mussten sie aus dem schönen Haus ausgezogen sein, da die Besitzer wieder von ihrer Weltreise zurückkamen. Leider.

Seufzend schloss er die Tür und ging in die kleine Küche.

Er griff nach dem Brötchenkorb, warf die herrlich duftenden Teile, die noch ganz warm waren, hinein und stellte sie auf den Tisch. Anschließend ging er zur Kaffeemaschine und machte Kaffee.

Kim brauchte ihren morgendlichen Kaffee genauso sehr, wie sie auch ihre Zigaretten dazu haben wollte.

Frühstück war bei Kim immer zweitrangig, doch frischen, duftenden, noch warmen Brötchen hatte Kim bisher noch nie widerstehen können.

Nachdem er auch die Butter, Wurst, Käse und Marmelade auf den Tisch gestellt hatte, der Kaffee durchgelaufen war, das Geschirr ebenfalls auf dem Tisch stand, schnappte er sich seinen Autoschlüssel und die Raumsprayflasche, ging hinaus zum Auto und spritzte es von innen über und über damit aus.

»So, jetzt riechst du nach Zimt, und den Geruch mag mein Mädchen, zum Glück. Der Geruch des Todes, wie Kim meint, sollte damit überdeckt sein.«

Er schloss die Autotür und ging zurück in die Küche, in der Kim bereits dabei war, ein Brötchen dick mit Marmelade zu bestreichen.

»Guten Morgen, Darling. Gut geschlafen?« Quentin grinste sie mit seinem jungenhaften Lächeln an.

»Morgen. Geht so.« Kims Worten war anzuhören, dass sie immer noch sauer über den Kauf des Leichenwagens war.

3 - Der Brief

Der Vormittag verlief schleppend.

Kim blieb weiterhin sehr wortkarg, daran hatten auch die frischen Brötchen nicht viel geändert.

Irgendwann, fast gegen Mittag, fragte sie: »Hast du dir schon einmal überlegt, wo wir ab übernächsten Monat wohnen sollen? Oder hast du vergessen, dass wir hier bald raus sein müssen?«

»Vergessen? Wie kann ich das vergessen! Jean erinnert mich fast täglich daran, dass seine Eltern bald wieder von ihrer Weltreise zurück sind.« Er nagte auf seiner Unterlippe herum.

Jetzt kommt sie mir doch tatsächlich, mit noch so einem unbequemen Thema.

»Ich habe Zeitungsanzeigen über Zeitungsanzeigen durchgeblättert.« Kopfschüttelnd, fuhr er fort: »Nichts Brauchbares für uns dabei. Nicht eine Wohnung, gleich, wo ich auch nachgesehen habe. Die einen sind zu teuer, die anderen zu weit weg. Was also, Kim, soll ich, deiner Meinung nach, tun? Wie wäre es, wenn auch du einmal zur Abwechslung nach einer neuen Bleibe für uns suchen würdest?«

»Als wenn ich das nicht täte! Aber ich kann nicht jeden Tag im Lokal aushelfen und gleichzeitig auf der Suche nach einer Wohnung sein. Du, Quentin, du hast den ganzen Tag Zeit dafür, folglich, tu' auch etwas!« Kim warf ihm einen zornigen Blick zu, ihre Augen funkelten wütend.

Gerade, als Quentin etwas erwidern wollte, klingelte es an der Tür.

»Ging Gong! Was für ein Glück für dich. Wirst mal wieder gerettet«, fauchte sie und zündete sich eine Zigarette an, während Quentin achselzuckend zur Tür lief.

Als wenn er etwas dafür konnte, dass es ausgerechnet gerade jetzt klingelte.

Kim konnte nicht verstehen, was an der Tür gesprochen wurde, so stand sie auf und sah aus dem Fenster. Doch das Erste, was sie sah, war der alte verbeulte Leichenwagen, und damit sank ihre Laune auch sogleich wieder auf den Nullpunkt.

Abrupt drehte sie sich um und spähte zur Küchentür hinaus. Sie sah gerade noch, wie sich ihr Verlobter mit Handschlag von einem Mann verabschiedete.

Ihre Augenbrauen bogen sich nach oben, und sie sah Quentin fragend an.

»Was ist? Ein Brief von Jeans Eltern? Kommen sie früher zurück? Das fehlte noch«, brummte sie.

»Nein, nicht von Jeans Eltern. Ist von einer Großtante von mir, die ich seit einem halben Leben nicht mehr gesehen habe.« Quentin hielt ihr den Brief entgegen.

Kim legte den Kopf schief und las. »Ist deine Tante Anwältin?«

»Großtante, Kim, nicht Tante, Großtante. Nein, das ist ein Schreiben von ihrem Anwalt. Der Mann, der den Brief gebracht hat, er arbeitet für ihn.«

»Was will sie? Hat der Mann das auch gesagt?«

»Kim, was wird jemand schon wollen, wenn Post vom Anwalt kommt? Sie ist gestorben, und ich soll anscheinend ihr Erbe sein. Obwohl ich das gar nicht verstehe. Es ist so lange her, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, dass ich mich gar nicht mehr an sie erinnern kann.«

»Dann öffne doch endlich den Brief, Quentin. Los, lies, was sie von dir will. Gewollt hat«, verbesserte sie sich.

Quentin lief ins großflächige Wohnzimmer und suchte in der untersten Lade des antiken Sekretärs nach einem Brieföffner. Nachdem er ihn gefunden hatte, durchtrennte er mit einem einzigen Schnitt den obersten Kuvertrand.

Langsam zog er die Seiten heraus. Sie dufteten nach Lavendel.

Lavendel! Oh ja, dieser Geruch brachte Erinnerungen mit sich. Aber nicht an Tante Evelyn, sondern an ihr weißes, stets gestärktes Stofftaschentuch, das von Spitzen umsäumt und in Lavendel getränkt gewesen war.

Quentin faltete den Brief auseinander und begann zu lesen, während Kim sich neugierig hinter ihn stellte und ebenfalls mitzulesen versuchte.

Mein lieber Quentin,

es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.

Auch wenn ich nie verstanden habe, weshalb du nicht mehr gekommen bist, so habe ich es respektiert. Ich weiß, dass du immer sehr viel zu tun, auch immer für die Schule und deine Prüfungen gebüffelt hast, aber dennoch hättest du dich, wenigstens in den Semesterferien, hin und wieder, bei mir sehen lassen können.

Doch dieser Brief soll kein Vorwurf an dich sein, nein, Gott bewahre, und den brauche ich derzeit so dringend, den lieben Gott, meine ich.

Wie du weißt, habe ich dich immer sehr lieb gehabt. Habe mich immer für dich und dein Leben interessiert, auch wenn es deiner Mutter nicht gefallen hat.

Sie und ich, wir hatten einfach eine ganz unterschiedliche Art, zu leben. Und manche von den Dingen, die zu meinem Alltag gehörten, an die ich glaube, waren stellenweise Dinge, die deine Mutter verpönte, und das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb sie nicht wollte, dass du mich weiterhin besuchen kommst.

Gut, leider bist du ihrem Ruf gefolgt.

Schade, denn ich hätte dich so gerne noch einmal gesehen.

Aber Dinge sind, wie sie sind, und man kann die Zeit nicht zurückdrehen, ungenutzte Möglichkeiten nicht neu nutzen, noch bekommt man die Chance, sie nochmals in die Gegenwart zu bringen. Leider.

Doch Schluss mit diesem Blablabla.

Ich habe nur noch wenig Zeit und sollte sie nicht damit vergeuden, indem ich in Vergangenem wandle.

Für mich ist es an der Zeit, mich von der Welt zu verabschieden. Allerdings nicht für immer, wenn alles so kommen wird, wie ich glaube, dass es geschehen kann. Was ich damit sagen will, das wirst du mit Sicherheit bald erfahren.

 

Da mir niemand, außer dir, einfällt, dem ich mein geliebtes Haus vererben will, möchte ich, dass du mein Erbe, der Erbe meiner weltlichen Güter sein sollst.

Wenn dir dieser Brief überbracht werden wird, habe ich schon das Zeitliche gesegnet.

Hätte ich nochmals die Chance, ich würde zu dir gekommen sein, wenn du schon nicht den Weg zu mir finden konntest.

Doch diese Chance haben wir wohl beide vertan.

So bleibt mir nichts anderes übrig, als dir eine gute, zufriedene und glückliche Zukunft zu wünschen.

Wenn du mein Haus siehst, urteile nicht gleich nach dem ersten Eindruck, denn es ist ein sehr besonderes Haus und hat seinen eigenen Charme. Es ist so besonders, wie ich, sicherlich, auch immer irgendwie, auf die eine oder andere Art, besonders, vielleicht etwas anders, gewesen bin.

Etwas anders als die anderen, eben ich.

Es wird bestimmt nicht lange dauern, bis auch du seinem Charme, dem Charme des Hauses, erliegen und das Besondere, das es umgibt, in ihm wohnt, kennen lernen wirst.

Gleich, auf welche Art du dies Besondere erkennen wirst, Quentin, so sei auch gewiss, dass nicht immer alles ist, wie es zu sein scheint.

Du musst durch Dinge hindurchsehen, musst heraushören lernen, wann die Lüge im Raum steht, oder aber die Wahrheit gesagt wird.

Ich wünsche mir, dass dir dies gelingen wird. Dass du erkennen wirst, wer du bist, und welche Gabe dir in die Wiege gelegt worden ist, auch wenn deine Mom dies immer leugnete und vor der Wahrheit die Augen verschloss.

Viel Glück, Quentin, sehr viel Glück, und Einsicht, auf deinem neuen Lebensweg.

In Liebe

Tante Evelyn