Ius Publicum Europaeum

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R v. Northumberland Compensation Appeal Tribunal, ex parte Shaw [1951] 1 KB 711 (Div.Ct).

[91]

[1964] AC 40.

[92]

Anisminic v. Foreign Compensation Commission [1969] 2 AC 147.

[93]

Padfield v. Minister of Agriculture [1968] AC 997.

[94]

Council of Civil Service Unions v. Minister for the Civil Service [1985] AC 374.

[95]

[1983] 2 AC 237.

[96]

R v. I.R.C., ex parte National Federation of Self Employed [1982] AC 617, 641.

[97]

H. William R. Wade, Procedure and prerogative in public law, Law Quarterly Review 101 (1985), S. 180.

[98]

Woolf (Fn. 87), S. 26ff.

[99]

Die Reform der Zivilgerichtsbarkeit, die dem Bericht von Lord Woolf über „Access to Justice“ (1996) folgte, wurde im April 1999 durchgeführt.

[100]

Martin Loughlin, Procedural fairness: a study of the crisis in administrative law theory, University of Toronto Law Journal 28 (1978), S. 215.

[101]

Paul P. Craig, Administrative Law, 52003, S. 496: „The fabric of jurisdiction is infinitely flexible“.

[102]

Jeffrey Jowell/Anthony Lester, Beyond Wednesbury: substantive principles of administrative law, Public Law 1987, S. 368.

[103]

Vincent Wright, Reshaping the State: The Implications for Public Administration, West European Politics 17 (1994), S. 102, 109.

[104]

Siehe dazu oben, Rn. 25ff.

[105]

Martin Loughlin, Legality and Locality: The Role of Law in Central-Local Government Relations, 1996.

[106]

Martin Loughlin, The Demise of Local Government, in: Bogdanor (Hg.), The British Constitution in the Twentieth Century, 2003, S. 521ff.

[107]

Cento Veljanovski, Selling the State: Privatisation in Britain, 1987; Christopher D. Foster/Francis J. Plowden, The State Under Stress, 1996, S. 82ff.

[108]

Tony Prosser, Regulation, Markets and Legitimacy, in: Jowell/Oliver (Hg.), The Changing Constitution, 62007, S. 339.

[109]

Peter Vincent, The New Public Contracting: Regulation, Responsiveness, Relationality, 2006; Tony Prosser, The Limits of Competition Law: Markets and Public Services, 2005.

[110]

Giandomenico Majone, The Rise of the Regulatory State, West European Politics 17 (1994), S. 77, 85ff.

[111]

Vgl. Christopher Hood/Colin Scott/Oliver James/Georg Jones/Tony Travers, Regulation inside Government: Waste-Watchers, Quality Police, and Sleaze-Busters, 1999.

[112]

Cabinet Office Efficiency Unit, Improving Management in Government: the Next Steps, 1988.

[113]

Eighth Report from the Treasury & Civil Service Committee, Session 1987–88, Civil Service Management: The Next Steps, HC 494, Bd. 1, Rn. 1; siehe zu den Northcote-Trevelyan-Reformen eingehender Martin Loughlin, IPE I, § 4 Rn. 34.

[114]

Anne C. L. Davis, Accountability: A Public Law Analysis of Government by Contract, 2001.

[115]

Richard Klein, The Politics of the National Health Service, 21989.

[116]

Ian Leigh, Law, Politics and Local Democracy, 2000, S. 279ff.

[117]

Bogdanor (Hg.), Joined Up Government, 2005.

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 45 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Italien

Bernardo Giorgio Mattarella

§ 45 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Italien

I.Das 19. Jahrhundert: Die Entwicklung der Verwaltung und die Genese des Verwaltungsrechts1 – 21

1.Die staatliche Verwaltung vor der italienischen Einigung1 – 6

2.Die italienische Einigung7 – 16

3.Die Ära Crispi17 – 21

II.Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts: Das Verwaltungsrecht autoritärer Prägung22 – 37

1.Die Ära Giolitti und die Krise des liberalen Staates22 – 31

2.Der Faschismus32 – 37

III.Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts: Das freiheitliche Verwaltungsrecht38 – 72

1.Die Rolle der Verwaltung gemäß der Verfassung38 – 49

2.Die republikanische Ära50 – 56

3.Die Ära der Verwaltungsreformen57 – 72

IV.Das 21. Jahrhundert: Das Charakteristische des Verwaltungsrechts73 – 94

1.Verwaltungsrecht und Privatrecht73 – 79

2.Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit80 – 86

3.Verwaltungsrecht und öffentliches Recht87 – 94

Bibliographie

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 45 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Italien › I. Das 19. Jahrhundert: Die Entwicklung der Verwaltung und die Genese des Verwaltungsrechts

I. Das 19. Jahrhundert: Die Entwicklung der Verwaltung und die Genese des Verwaltungsrechts

Der Beitrag wurde aus dem Italienischen übersetzt von Dr. Dr. Ulrike Quercia-Haider und Dr. Karin Oellers-Frahm.

1. Die staatliche Verwaltung vor der italienischen Einigung

1

Der italienische Staat entstand Mitte des 19. Jahrhunderts durch eine Aggregation von Staaten um das Königreich Sardinien, welches bis zum Jahre 1861 im Wesentlichen das Gebiet der heutigen Regionen Piemont, Ligurien und Sardinien umfasste. Im Zuge der Einigung erstreckte diese Monarchie ihre organisatorischen Strukturen und ihr Recht auf die Gebiete, die sie nach und nach annektierte. Daher muss eine Betrachtung der Geschichte des Staates, der Verwaltung und des Verwaltungsrechts in Italien vor allem auf diesen Staat abstellen, denn seine Verwaltung und sein Recht hatten für die Entwicklung der italienischen öffentlichen Verwaltung und des italienischen Verwaltungsrechts besondere Bedeutung.

 

2

Allerdings dürfen die anderen Staaten, die vor der Einigung existierten, nicht vergessen werden, und zwar aus folgenden Gründen: (1) der präunitare Zustand ihrer Verwaltungen beeinflusste die Entwicklung der Gesetzgebung und Verwaltung auch nach der Einigung; (2) ein Großteil der Führungsschicht des Königreichs Italien hatte in diesen Staaten Verwaltungserfahrung gesammelt; (3) die verwaltungswissenschaftlichen Stile der zu jenen Staaten verfassten Studien wirkten nach der italienischen Einigung fort. Mit Blick auf den ersten Aspekt ist daran zu erinnern, dass der erste Ansatz der Gesetzgebung des vereinten Italiens, nämlich unabhängig von der Lage, in der sich die Gesellschaft und die Wirtschaft in den verschiedenen Gebieten des Landes befanden, einheitliche Regelungen zu erlassen, schon bald zugunsten spezieller Gesetze aufgegeben wurde, die versuchten, Besonderheiten Rechnung zu tragen. Was den zweiten Gesichtspunkt anbelangt, sei nur vor Augen geführt, dass viele Mitglieder der politischen Klasse wie der administrativen Elite, die insbesondere den Staatsrat (Consiglio di Stato) des Königreichs Italien bildeten, aus den vormaligen südlichen Staaten kamen. Viele hatten dort Regierungsverantwortung getragen; andere aber waren wie Kriminelle verfolgt worden, weil sie sich für die nationale Einigung eingesetzt hatten.[1] Hinsichtlich des dritten Aspekts sei erinnert an die Bedeutung der französischen juristischen Literatur im Königreich Neapel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder an Personen wie den Politiker und Verfechter des Liberalismus Silvio Spaventa (1822–1893), die aus diesem Gebiet kamen.[2]

3

Die öffentlichen Verwaltungen der Staaten vor der Einigung waren Einheiten von geringer Größe, geschaffen, um einige wenige Funktionen wahrzunehmen, vor allem solche im Zusammenhang mit der „öffentlichen Ordnung“. Die Gesamtzahl der Angestellten der zentralen Verwaltungseinrichtungen der verschiedenen Staaten belief sich auf nicht mehr als 60 000 Personen, die vorwiegend in den Bereichen Polizei und Fiskus sowie der Post und dem Telegrafenwesen tätig waren.[3] In organisatorischer Hinsicht standen die Staaten unter einem beachtlichen französischen Einfluss. Napoleon und sein Heer hatten u.a. die Vereinfachung und Rationalisierung der Verwaltungsstrukturen sowie Institutionen wie die Verwaltungsgerichtsbarkeit[4] nach Italien exportiert. Während die Restauration auf verfassungsrechtlicher Ebene einen Rückschritt in Bezug auf die Staats- und Regierungsform darstellte, wurden auf verwaltungsrechtlicher Ebene die importierten Tendenzen und Institute beibehalten, weil sie als charakteristisch für die Monarchien des 19. Jahrhunderts galten. Der französische Einfluss darf allerdings nicht überbewertet werden; viele typische Eigenschaften der französischen Verwaltung fehlten in den Verwaltungen der Staaten auf der Apenninhalbinsel, insbesondere die „Einheitlichkeit der Verwaltung“, eine starke „Verwaltungselite“, der „Conseil d’État“ und die „Präfekten“.[5] Die Situation in den verschiedenen Staaten war zudem sehr heterogen. In einigen Staaten zeigte sich die Verwaltungsmodernisierung in Gestalt moderner Organisationsregeln und eines – wenngleich noch nicht ganz ausgereiften – Statuts für die öffentlichen Bediensteten, in dem sich das Leistungsprinzip durchzusetzen begann. Das betraf Gebiete wie die Lombardei und Venetien, die der österreichischen Herrschaft unterworfen waren, und das Königreich Neapel. In anderen Gebieten, wie dem Kirchenstaat, konnten sich moderne Vorschriften über die Organisation und das Personal nur schwer durchsetzen.

4

Die Institutionen des zukünftigen Königreichs Italien wurden natürlich maßgeblich von den Institutionen des Königreichs Sardinien beeinflusst, die Mitte des 19. Jahrhunderts reformiert worden waren. Auf der Ebene des Verfassungsrechts galt ab dem Jahre 1848 das sog. Albertinische Statut (Statuto albertino).[6] Dieses Statut war die einzige Verfassung, die aus den italienischen Revolutionsbewegungen des Jahres 1848 hervorging, welche die nachfolgenden Restaurationstendenzen überlebte.[7] Es legte die Grundlagen für eine parlamentarische Regierungsform und formulierte einige Individualrechte gegenüber der öffentlichen Gewalt, sah aber keine wirksamen Instrumente zu deren Schutz vor.

5

Auf der Ebene des Verwaltungsrechts spielte die Reform der Verwaltungsorganisation eine entscheidende Rolle, die Camillo Benso Conte di Cavour (1810–1861), der wesentliche Baumeister der nationalen Einigung, im Jahre 1853 durchführte.[8] Die Verwaltungsreform rezipierte auf der einen Seite den Grundsatz der Ministerverantwortlichkeit, der englischer Herkunft war; der Minister stand an der Spitze der Verwaltung, für die er gegenüber dem Parlament verantwortlich war. Auf der anderen Seite übernahm die Verwaltungsreform das einheitliche, kompakte und zentralistische Verwaltungsmodell französischer Herkunft. Art. 1 des Reformgesetzes überwand das vorangegangene „gemischte“ Organisationsmodell, indem er festlegte: „Die zentrale Verwaltung des Staates wird in den Ministerien konzentriert. Die Minister sorgen dafür, dass die diesbezüglichen Aufgaben durch Abteilungen erbracht werden, die ihrer direkten Leitung unterstehen. Abteilungen, die denselben Verwaltungszweig betreffen, können zusammengefasst werden und Generaldirektionen bilden, die jedoch integraler Bestandteil der Ministerien sind“. Der Aufbau der Verwaltung glich einer Pyramide unter der Verantwortung der Regierung. Die Verordnung zur Durchführung des Reformgesetzes[9] vervollständigte das Bild; sie enthielt Bestimmungen über die Funktionsweise der Abteilungen und die Pflichten ihrer Angestellten, die zu einer strengen Beachtung des Amtsgeheimnisses angehalten waren. Die Kontrolle über die Bediensteten erfolgte durch die politischen Spitzen der Verwaltung, die dem Parlament gegenüber verantwortlich waren. Entsprechend war der Grundsatz, der die Beziehungen innerhalb der Verwaltung regelte, derjenige der Hierarchie, was die Befugnis der übergeordneten Einheit einschloss, den untergeordneten Einheiten Weisungen zu erteilen und an deren Stelle tätig zu werden.

6

Der französische Einfluss war auch in den Verwaltungen der lokalen Körperschaften festzustellen, denen eine einheitliche Organisation und einheitliche Funktionen zugrunde lag, unabhängig von ihrer Größe oder ihrem geographischen und wirtschaftlichen Kontext. Im Jahre 1859 schrieb das Königreich Sardinien gesetzlich sowohl den Kommunen als auch den Provinzen eine Verwaltungsform vor, die derjenigen des Staates entsprach und über drei Organe verfügte:[10] ein Versammlungsorgan, ein Exekutivorgan und ein monokratisches Organ, das der Exekutive vorstand. Kommunen wie Provinzen waren einer weitgehenden Kontrolle durch die Regierung unterworfen, die ihre Rechtsakte aufheben und ihre Leitungsorgane absetzen konnte.

2. Die italienische Einigung

7

Der Umfang der Verwaltungsaufgaben und der öffentlichen Institutionen blieb auch nach der nationalen Einigung relativ begrenzt. Es gab nur etwa 50 000 öffentliche Bedienstete. Die Beziehungen zwischen der Verwaltung und den Bürgern beschränkten sich weitgehend auf Polizeikontrollen und Besteuerung. Der wirtschaftliche Liberalismus, an dem sich die Regierungen orientierten, zeigte sich in der Privatisierung öffentlicher Unternehmen[11] sowie in dem Fehlen einer für die gewerblichen Tätigkeiten zuständigen spezifischen Verwaltungsbehörde. Erst im Jahre 1878 wurde das Ministerium für Landwirtschaft, Industrie und Handel (Ministero dell’agricoltura, dell’industria e del commercio) eingerichtet. Bis dahin war die einzige für die „reale Wirtschaft“ zuständige Behörde das Ministerium für öffentliche Arbeiten (Ministero dei lavori pubblici), dem der Aufbau der Infrastruktur für Verkehr und Kommunikation oblag.[12]

8

Die verwaltungsrechtliche Normsetzung hielt sich sowohl inhaltlich – aufgrund der geringen Anzahl an Verwaltungsaufgaben – als auch quantitativ in engen Grenzen und bot daher noch keine Grundlage für ein autonomes, vom Privatrecht abgesetztes System von Rechtsgrundsätzen und Rechtsbegriffen. Nur wenige Normen mit Gesetzesrang betrafen die Verwaltungsorganisation; die Verwaltung handelte im Wesentlichen im Wege der Selbstorganisation. Es gab kein Personalstatut, das die Rechte und Pflichten der Funktionäre umfassend regelte. Die Verwaltungstätigkeit wurde zwar allmählich formalisiert und bildete Verfahrensmuster aus, aber dies geschah auf der Grundlage der internen Verwaltungspraxis und nicht auf der Grundlage von Normen mit Außenwirkung. Nachteilig für die Entwicklung von Grundsätzen und Regeln für das Verwaltungshandeln war auch, dass es keine Verwaltungsgerichte gab. In der allgemeinen Wahrnehmung unterschieden sich die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung und diejenige von Privatpersonen nicht: Die Privatautonomie der Verwaltung wurde nicht angezweifelt; das öffentliche Eigentum war dem Privateigentum gleichgestellt; das Arbeitsverhältnis der öffentlichen Bediensteten beruhte auf einem Vertrag, der sich nicht von dem Vertrag der privaten Angestellten unterschied; die Enteignung galt als eine besondere Form des Verkaufs; die öffentliche Zwangsgewalt wurde nicht als normales Attribut der Verwaltungstätigkeit betrachtet, sondern als ein besonderer Ausdruck der sog. „Hoheitsakte“ (atti di impero), die nach einer Unterscheidung französischen Ursprungs den gewöhnlichen Maßnahmen der Verwaltung (atti di gestione) gegenübergestellt wurden.

9

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts führte das Erfordernis, die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln und die nationale Einigung auch unter wirtschaftlichen und sozialen Aspekten zu verwirklichen, zu einem Zuwachs an Verwaltungsaufgaben und zu einer größeren Komplexität von Verwaltungsorganisation und Verwaltungsgesetzgebung. Bereits im Jahre 1863 wurde die Darlehns- und Depositenkasse (Cassa depositi e prestiti) durch Zusammenlegung ähnlicher Einrichtungen der Staaten, die vor der italienischen Einigung bestanden, gegründet; sie war das erste große staatliche Unternehmen und hatte die Aufgabe, Kredite an die lokalen Gebietskörperschaften zu vergeben. Dies markierte den Anfang der Ausdifferenzierung, ja Fragmentierung der Verwaltung sowie der staatlichen Wirtschaftsintervention, die beide für die Geschichte des 20. Jahrhunderts typisch werden sollten.

10

Die Regierung investierte stark in einige öffentliche Dienstleistungen und regelte, wie die Versorgung mit ihnen zu erfolgen hatte: Die Dienstleistungen im Bereich des Transportwesens wurden mit beachtlichen Investitionen in den Eisenbahnsektor gefördert, in dem anfangs durch verwaltungsrechtliche Konzessionen auch Raum für Privatunternehmer gelassen wurde, und die Kommunikation wurde durch die Entwicklung des Post- und des Telegrafensystems verbessert. Die Entwicklung der Leistungsverwaltung hatte erhebliche konzeptionelle und inhaltliche Konsequenzen. Konzeptionell wurde die traditionelle Zweiteilung der administrativen Tätigkeit in Frage gestellt: Die Unterscheidung zwischen hoheitlichem und fiskalischem Handeln und andere Differenzierungen, die daran anknüpften, mussten einer Dreiteilung weichen, damit sowohl Leistungen an Privatpersonen als auch vertraglich begründete Tätigkeiten, die das Funktionieren der Verwaltung sicherstellen, erfasst werden konnten.[13] Inhaltlich zeigten sich zunehmend Sonderregime. Zum Beispiel war die Haftung der Erbringer öffentlicher Dienstleistungen im Verhältnis zu den Nutzern Gegenstand privilegierender, vom allgemeinen Privatrechtrechtsregime abweichender Regelungen, obwohl es sich um vertragliche Rechtsverhältnisse handelte.[14]

11

Die wichtigsten Entwicklungen der Jahrzehnte nach 1861[15] sowohl im Bereich der Verwaltungsgesetzgebung als auch in demjenigen der Verwaltungsorganisation und des Personalwesens wurden durch die nationale Einigung verursacht. Im Bereich der Verwaltungsgesetzgebung wurden nach der anfänglichen Erstreckung der Rechtsvorschriften des Königreichs Sardinien auf das gesamte Staatsgebiet bald einige wichtige Gesetze erlassen, um die Regelung bestimmter Materien wie diejenige der Wohlfahrtseinrichtungen[16] zu vereinheitlichen und gesamtstaatliche Organe wie den Rechnungshof (Corte dei conti)[17] zu gründen. Das wichtigste Moment der Einigung ist jedoch im Jahre 1865 zu verorten, als das realisiert wurde, was als „unificazione legislativa (Vereinheitlichung der Gesetzgebung)“ und als „unificazione amministrativa (Vereinheitlichung der Verwaltung)“ in die Geschichte eingegangen ist.[18] Die Vereinheitlichung der Gesetzgebung erfolgte durch die Verabschiedung eines neuen Zivilgesetzbuches und eines neuen Handelsgesetzbuches, die Vereinheitlichung der Verwaltung durch den Erlass von sechs bedeutenden Verwaltungsgesetzen, welche die Kommunen und Provinzen, die öffentliche Sicherheit, das Gesundheitswesen, den Consiglio di Stato, die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die öffentlichen Arbeiten betrafen. Formal handelte es sich dabei um Anhänge zu einem einzigen Gesetz, das ihre Annahme verfügte. De facto wurden die verschiedenen Gesetze demnach von der Regierung entsprechend einer Praxis ausgearbeitet, die sich bis in unsere Tage hinein bei vielen wichtigen Reformen wiederholt hat.

 

12

Einige der in den Gesetzen von 1865 geregelten Materien, namentlich die lokalen Gebietskörperschaften und die öffentliche Sicherheit, sind bis heute Gegenstand einer einheitlichen Regelung geblieben. Beispielsweise sind die rechtlichen Bestimmungen über die lokalen Gebietskörperschaften stets in einem einzigen allgemeinen staatlichen Gesetz niedergelegt gewesen, das grosso modo alle zehn Jahre novelliert worden ist. In anderen Bereichen, wie dem Gesundheitswesen und den öffentlichen Arbeiten, gab es Komplikationen und Fragmentierungen, die zum Teil erst durch eine gesetzliche Neuordnung Ende des 20. Jahrhunderts überwunden werden konnten.

13

Besondere Erwähnung unter den sechs Reformgesetzen verdient das Gesetz über die Abschaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, das dem englischen Modell der Einheit der Gerichtsbarkeit folgte und die Beseitigung der Organe der Verwaltungsgerichtsbarkeit verfügte, die vor der Einigung in den Staaten existiert hatten. Alle Streitigkeiten zwischen der Verwaltung und den Bürgern über ein „bürgerliches oder politisches Recht“ wurden der ordentlichen Gerichtsbarkeit übertragen, die jedoch – gemäß dem Grundsatz der Gewaltenteilung – nicht die Befugnis hatte, Akte der Verwaltung aufzuheben oder abzuändern, sondern nur ihre Nichtanwendbarkeit im konkreten Fall feststellen konnte. Zugleich fand der Begriff des Verwaltungsakts (atto amministrativo) nun Eingang in die italienische Gesetzgebung, um die Zuständigkeit der Verwaltung von der richterlichen Zuständigkeit abzugrenzen. Die Pflicht zur Anwendung des neuen Gesetzes veranlasste die Gerichte – zumal den Consiglio di Stato in seiner Eigenschaft als Richter über Zuständigkeitskonflikte zwischen Exekutive und Judikative – zu dessen Präzisierung beizutragen. Im Zuge der einschlägigen Rechtsprechung wurde deutlich, dass die Regelungen im Gesetz über die Abschaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit dem Schutzbedürfnis der Individuen nicht hinreichend Rechnung trugen, weil ein Verwaltungsakt die Befugnisse des Richters begrenzte und in bestimmten Fällen sogar ausschloss. Das Gesetz enthielt auch Bestimmungen über administrative Rechtsbehelfe gegen Akte der Verwaltung: Über sie war durch eine zu begründende Entscheidung „auf der Grundlage des schriftlichen Vorbringens der Parteien“ zu befinden. Damit waren zwei Grundsätze aufgestellt, die im Verwaltungsrecht des nächsten Jahrhunderts große Bedeutung erlangen sollten: der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und derjenige der Begründung der Entscheidung. Die Bestimmungen des Gesetzes hätten auch Grundlage für die Einführung von Partizipations- und Transparenzgarantien im Verwaltungsverfahren sein können. Derartige Garantien waren jedoch für die Verwaltung und die Richter jener Zeit noch zu modern.

14

Nach der Einigung wurde die Verwaltungsorganisation im Einklang mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem Erfordernis der Konsolidierung der Einheit des italienischen Königreiches nach dem Modell der einheitlichen, kompakten und zentralistischen Verwaltung des Königreichs Sardinien ausgestaltet. Die Verwaltung war in Ministerien geordnet, in denen die Abteilungen, die ihrerseits teilweise in Generaldirektionen untergliedert waren, von einem Generalsekretär koordiniert wurden. Nach 1869[19] wurde in allen Ministerien die Haushaltsführung von der „aktiven Verwaltung“ getrennt und einer Finanzabteilung, dem zentralen Rechnungsamt (ragioneria centrale), übertragen. In den verschiedenen Ministerien entwickelten sich allerdings bald weitere Organisationsformen – Sekretariate, Aufsichtsämter und besondere Abteilungen –, die das vom Gesetz vorgezeichnete einheitliche System durchbrachen. Ähnliches geschah in der peripheren Verwaltung des Staates.

15

Zentrum des staatlichen Verwaltungssystems war das Innenministerium. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hatte der Präsident des Ministerrates (Consiglio dei ministri) zugleich das Amt des Innenministers inne. In der Peripherie übten die von diesem Minister nach freiem Ermessen ernannten und abrufbaren Präfekten eine starke Kontrolle über die Kommunen und Provinzen aus, an deren Spitze von der staatlichen Regierung ernannte Beamte standen. Die Autonomie der Kommunen und Provinzen war daher sehr begrenzt: Das Prinzip der Einheitlichkeit zeigte sich in dem organisatorischen Aufbau und den Funktionen, die vom Staat festgelegt wurden; die staatlichen Kontrollen waren äußerst intensiv.[20]

16

Auch die öffentlichen Bediensteten waren ein Instrument zur Stärkung der nationalen Einheit. Sie stellten einen homogenen und in sich geschlossenen Korpus dar, der zwar das norditalienische Bürgertum repräsentierte, sich jedoch von ihm auch unterschied. Ihre Ausbildung erfolgte im Unterschied zu Frankreich und England nicht an namhaften Universitäten oder höheren Schulen, sondern in den Behörden. Das Prinzip des Zugangs zum öffentlichen Dienst durch erfolgreiches Durchlaufen eines Wettbewerbs setzte sich früher als in anderen europäischen Ländern durch.[21] Es gab noch kein umfassend geregeltes Regime der Rechte und Pflichten der Bediensteten, aber einen starken Korpsgeist, ein ungeschriebenes Standesrecht und eine gegenseitige Kontrolle. Zwischen Politik und Bürokratie bestanden enge Beziehungen, die durch einen häufigen Wechsel von politischen Ämtern in Verwaltungsämter, u.a. auch in Positionen im Consiglio di Stato, gekennzeichnet waren. Diese Entwicklungen hingen mit der sog. „Piemontisierung“ der Verwaltung zusammen: In den ersten Jahrzehnten nach der Einheit, auch nach der Verlegung der Hauptstadt von Turin nach Florenz und später nach Rom, kam ein Großteil der Staatsbediensteten, vor allem in den höchsten Ämtern, aus Norditalien, insbesondere aus dem Piemont.

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