Ius Publicum Europaeum

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II. Die Ursprünge des Verwaltungsrechts

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Um die Ursprünge des französischen Verwaltungsrechts freizulegen, ist es unverzichtbar, sich sukzessive das Vermächtnis des Ancien Régime, den Beitrag der Französischen Revolution von 1789 bis 1799 sowie den Einfluss der Institution, die im 19. und 20. Jahrhundert eine Schlüsselrolle spielte, in Erinnerung zu rufen. Dies ist der Conseil d’État, der durch die Verfassung des Jahres VIII (1799), welche diejenige des ersten napoleonischen Reiches war, geschaffen wurde.

1. Das Vermächtnis des Ancien Régime

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Gegen Ende des Ancien Régime existierte eine Vielzahl administrativer Vorschriften. Diese betrafen die Organisation, die Funktionsweise und die Aktivitäten der außerordentlich zahlreichen kommunalen Verwaltungen, der deutlich weniger entwickelten Provinzverwaltungen sowie der königlichen Amtswalter, die mit Verwaltungsaufgaben betraut waren.

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Wie die Normen des Privatrechts entsprangen auch diese Vorschriften zwei Quellen, die bis ins Mittelalter zurückverfolgt werden können: auf der einen Seite das Gewohnheitsrecht, welches unter dem System der Feudalherrschaft ausgeprägt worden war und das Potenzial besaß, der dort verbreiteten Willkür gegenzusteuern; auf der anderen Seite die Texte der Gelehrten der beiden Rechte, also des römischen und des kanonischen Rechts. Diese haben einen konzeptionellen Rahmen zur Verfügung gestellt für wesentliche Begriffe, wie diejenigen der utilitas publica (Gemeinwohl), der necessitas publica (öffentlicher Bedarf), der universitas (juristische Person), des officium (Amt) und des fiscus (Staatskasse). Sie bildeten zudem den Ausgangspunkt für eine Reihe fachlicher Verbesserungen, unter anderem in Bezug auf die Rechtsstellung des Verwaltungspersonals, die rechtlichen Regeln für das einseitige und das vertragliche Handeln der Verwaltung, die rechtlichen Voraussetzungen für den Erwerb und Besitz von Gütern durch die Städte und Gemeinden, die Modalitäten im Zusammenhang mit Beschlagnahmen und Enteignungen sowie die Entschädigungen. Die Analyse der Rechtssätze, die während des Mittelalters im französischen Königreich das Funktionieren der Verwaltungen der Kommunen, der Provinzen und des Reiches regelten, erlaubt es, die auf die kanonischen Institutionen bezogene Einschätzung von Gabriel Le Bras auf das säkulare Recht auszudehnen: „Zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert wurden fast alle Kapitel eines Lehrbuchs zum Verwaltungsrecht skizziert.“[9] In der Zeitperiode vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des Ancien Régime wurden diese Regelungen weiterentwickelt, ausgebaut und präzisiert, so dass ihr jeweiliges Spezifikum klarer hervortrat.[10]

2. Der Beitrag der Französischen Revolution

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Der Beitrag der Französischen Revolution erscheint paradox, zeigten sich doch schon in der prägenden verfassunggebenden Nationalversammlung zwei widerstreitende Strömungen. Die erste knüpfte an die Ausrufung der Menschen- und Bürgerrechte an, stellte also auf die Perspektive des administré ab. Der zweiten ging es darum, die Autorität der Verwaltung zu schützen, auf welche die Anführer der Revolution bauten, um den Erfolg ihrer Unternehmung sicherzustellen.

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Die Gewährleistung der Rechte der Bürger modifizierte die Stellung der Verwaltung. Die Bürgerrechte konnten ihr entgegengehalten werden, zumal sie in der Tradition der Ideen von John Locke der politischen Ordnung vorgängig gehalten wurden. Die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen vom 26. August 1789 bezeichnete die Bürgerrechte als natürlich, heilig, unveräußerlich und unverjährbar. Die Daseinsberechtigung der Verwaltung bestand gerade darin, den Bürgern die Ausübung ihrer Rechte zu ermöglichen, da dies der „Zweck jeder politischen Einrichtung“ ist (so die Präambel der Erklärung).

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Das Prinzip der Gesetzesbindung der Verwaltung war nunmehr eine Konsequenz des Verfassungsgrundsatzes der Gewaltenteilung. Vor dem Hintergrund, dass das Gesetz Ausdruck des Willens der Allgemeinheit ist, wurde in der Verfassung der Vorrang der gesetzgebenden Gewalt verankert. Von der Legislative stammen die Maßnahmen von genereller Tragweite. Die Aufgabe der Exekutive beschränkt sich gemäß der Konzeption Jean-Jacques Rousseaus darauf, zur Umsetzung der Gesetze allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu erlassen. Die Verfassung von 1791 sprach sogar selbst dem König die Verordnungsgewalt ab. Sie untersagte den Verwaltungsbediensteten, sich in die Ausübung legislativer Gewalt einzumischen und die Anwendung der Gesetze auszusetzen. Eine entsprechende Regelung ist bereits in Art. 10 des zweiten Titels des Gesetzes vom 16. bis 24. August 1790 zu finden, der nach wie vor in Kraft ist.

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Um sicherzustellen, dass die Verwaltungsbediensteten auf lokaler Ebene die Gesetze beachten, griffen die Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung auf verschiedene Mittel zurück. Die übergeordneten Verwaltungsbehörden konnten rechtswidrige Maßnahmen der nachgeordneten Verwaltungsbehörden aufheben. Sie konnten dies aus eigener Initiative oder auf ein entsprechendes Begehren der administrés hin tun. Allerdings verfügten diese nicht über einen ordentlichen Rechtsbehelf. Zu ihrer Disposition stand lediglich eine Aufsichtsbeschwerde (recours hiérarchique), d.h. eine Beschwerde, die an den hierarchisch übergeordneten Amtsträger gerichtet wurde. Gegen Amtswalter, die rechtswidrig gehandelt hatten, konnten statusrechtliche Sanktionen verhängt werden (Suspendierung bzw. Amtsenthebung). Darüber hinaus konnten sie strafrechtlich belangt werden.

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Die Freiheits- und Gleichheitsrechte der Bürger wurden in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, in der Verfassung von 1791 und in den beiden vom Verfassungskonvent abgefassten Erklärungen von 1793 (Déclaration des droits de l'homme et du citoyen) und 1795 (Déclaration des droits et devoirs de l’homme et du citoyen) aufgezählt. Der Freiheitsgrundsatz führte dazu, dass vielfältige Eingriffe der Verwaltung in das wirtschaftliche Geschehen wegfielen. Die Meinungs- und Kommunikationsfreiheit setzte der Zensur Grenzen. Das Recht auf Eigentum wurde geschützt: Die Verwaltung durfte dem Einzelnen sein Hab und Gut nur unter strengen Voraussetzungen entziehen. Das öffentliche Interesse musste die Enteignung erforderlich machen, und vorab war eine gerechte Entschädigung zu leisten. Die Gleichheit vor dem Gesetz, beim Zugang zu öffentlichen Ämtern und bei der Besteuerung wurde ebenfalls garantiert.

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Zugleich aber stellte die Aufrechterhaltung der Autorität der Verwaltung ein zentrales Anliegen der Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung von 1789 und ihrer Nachfolger dar, die auf sie setzten, um die „Regeneration“ Frankreichs zum Erfolg zu führen. Dieses Anliegen manifestierte sich in zwei komplementären Stoßrichtungen. Einerseits wurden die proklamierten Freiheiten beschränkt, und den Bürgern wurden Pflichten auferlegt. Andererseits haben die Verfassunggeber (der Plural steht im französischen Original; Anm. der Übersetzer) und ihre Nachfolger die Verwaltung sehr stark gegenüber Zivil- und Strafrichtern in Schutz genommen.

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Obwohl es die Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung im Jahre 1789 abgelehnt hatten, eine Erklärung der Bürgerpflichten zu beschließen, wiesen sie dem Gesetz die Funktion einer Schranke der Freiheitsrechte zu, und sie verlangten von allen die Beachtung des Gesetzes (die „Déclaration des devoirs“, die später am Beginn der Verfassung des Jahres III stehen sollte, legte besonderen Nachdruck auf diesen Aspekt). Die Verfassunggeber verpflichteten die Bürger, ihren unentbehrlichen Beitrag „zum Erhalt der öffentlichen Gewalt und zur Bestreitung der Ausgaben der Verwaltung“ zu leisten (siehe Art. 13 der Déclaration des droits de l’homme von 1789). Zahlreiche gesetzliche Bestimmungen beschränkten die Rechte der Bürger oder machten ihre Ausübung von der Erfüllung verwaltungsrechtlicher Voraussetzungen abhängig. Zum Beispiel wurde die Fortbewegungsfreiheit an den Besitz eines Passes geknüpft. Die Möglichkeit, bewegliche Sachen zu requirieren, wurde wieder etabliert. Die Religionsfreiheit wurde nur eingeschränkt gewährleistet und später zu Lasten derjenigen Priester völlig beseitigt, die sich weigerten, sich der zivilen Verfassung für den Klerus und die mit ihm verbundenen Gläubigen zu unterstellen. Das Jourdan-Gesetz von 1798 führte die Wehrpflicht ein. Innerhalb der Verwaltung selbst wurde der hierarchische Charakter der Beziehungen zwischen den Amtswaltern verstärkt; der Bürgerkrieg beeinträchtigte allerdings die Funktionsfähigkeit der Verwaltung auf lokaler Ebene.

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Die Auffassung, dass die Amtswalter und die Verwaltung gerichtlich privilegiert werden sollten, setzte sich sehr rasch durch und überdauerte die Zeit der Revolution. Sie fand ihren Niederschlag zunächst in dem gegenüber den Richtern ausgesprochenen Verbot, Verwaltungsbedienstete für Handlungen, die sie in amtlicher Funktion vorgenommen hatten, ohne Ermächtigung der Dienstvorgesetzten oder aber des Gesetzgebers zu verurteilen. Eine solche Ermächtigung war stets erforderlich, unabhängig davon, ob die Forderung, den Amtswalter zur Rechenschaft zu ziehen, zivilrechtlichen oder strafrechtlichen Ursprungs war. Die Richter verloren weiter ihre traditionelle Befugnis, über die Gültigkeit von Maßnahmen der Kommunen zu urteilen. Ebenso war es ihnen untersagt, die Maßnahmen anderer Verwaltungsträger auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Darüber hinaus wurde ihnen insbesondere durch Art. 13 des Titels II des Gesetzes vom 16. bis 24. August 1790 verboten, „die Arbeitsabläufe des administrativen Corps auf irgendeine Weise zu stören“, d.h. sich in die Tätigkeit der Verwaltung einzumischen, beispielsweise indem sie dieser Befehle oder Weisungen erteilen. Diese Verbote wurden aus dem Prinzip der Trennung zwischen administrativen und richterlichen Funktionen abgeleitet, wie es insbesondere in dem genannten Artikel niedergelegt ist, der bis auf den heutigen Tag grundlegende Bedeutung hat.

 

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Schließlich wurden die wesentlichen Verwaltungsstreitigkeiten nach einigem Zögern der Verwaltung selbst und nicht den ordentlichen Gerichten zugewiesen. Das Verfassungskomitee der verfassunggebenden Versammlung hatte zunächst erwogen, diese Streitigkeiten auf speziell dafür einzurichtende Departementstribunale, die zur rechtsprechenden Gewalt gehören sollten, oder sogar auf die Zivilrichter zu übertragen. Es änderte allerdings im Juli 1790 seine Meinung und zeigte sich Argumenten gegenüber empfänglich, wonach die Verwaltungsstreitigkeiten besser von Verwaltungsbediensteten als von Richtern entschieden werden können, weil Erstere besser informiert sind und allzu formalisierte Verfahren vermeiden. Zudem wurde vorgebracht, dass die Amtsträger bestrebt seien, gegenüber den administrés gerecht zu handeln, da sie nun einmal durch Wahl bestimmt worden seien. Das fast ohne irgendeine Debatte angenommene Gesetz vom 6. bis 11. September 1790 wies der örtlichen Verwaltung die Rechtswegzuständigkeit für wesentliche Kategorien von Verwaltungsstreitigkeiten zu: Streitigkeiten, die direkte Steuern, Auftragsvergaben für öffentliche Bauvorhaben und Schäden, die bei der Ausführung solcher Vorhaben entstanden, betrafen. Zu diesen Zuständigkeiten kamen mit der Zeit noch weitere hinzu, die politisch sehr bedeutsam waren: Streitigkeiten bezüglich des Verkaufs von staatlichen Besitztümern (zumal von solchen, die vorher der Kirche und Emigranten, d.h. politischen Flüchtlingen, gehört hatten) sowie solche, die Maßnahmen zum Gegenstand hatten, welche gegen Emigranten ergriffen wurden. Das Verfahren zur Regelung von Zuständigkeitskonflikten, bei denen sich ein Gericht und ein Organ der Verwaltung gegenüberstanden und beide die Auffassung vertraten, sie seien für die Entscheidung ein und desselben Rechtsstreits zuständig, begünstigte die Verwaltung. Schnell wurde der bereits angeführte Art. 13 des Titels II des Gesetzes vom 16. bis 24. August 1790 zur Lösung dieser Konflikte in der Weise herangezogen, dass das Prinzip der Trennung zwischen administrativen und richterlichen Funktionen als Grundlage für die Zuweisung des Großteils der verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten zunächst an die Verwaltungsbehörden und später dann an die Verwaltungsgerichte betrachtet wurde. Der Artikel ist nach wie vor die Grundlage für die Rechtsprechung des Tribunal des conflits[11] wie auch derjenigen des Conseil d’État.[12]

3. Die napoleonische Schlüsselinstitution: Der Conseil d’État

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Die Verfassung des Jahres VIII (Dezember 1799), die nach dem von Emmanuel Joseph Sieyes angezettelten und von Napoleon Bonaparte zum Erfolg geführten Staatsstreich ausgearbeitet wurde, etablierte das Konsulatsregime (1799–1804). Die Verfassung stärkte in beachtlichem Ausmaß die vollziehende Gewalt, die zum Gouvernement wurde, und besonders den ersten der drei Konsuln, Bonaparte. Die Konsuln wurden durch ein Organ unterstützt, das in mehrfacher Hinsicht an den alten Conseil du roi erinnerte, der ein Opfer der Revolution geworden war: den Conseil d’État (diese Bezeichnung wurde bereits im Ancien Régime häufig für den Conseil du roi verwendet).

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Dem Conseil d’État, der sich aus Beratern (conseillers) zusammensetzte, die vom ersten Konsul ernannt und durch ihn auch wieder abgesetzt werden konnten, kamen zwei Funktionen zu. Seine erste Funktion betraf den Rechtsetzungsprozess. Der Conseil d’État erstellte die Entwürfe für diejenigen Gesetzgebungsvorhaben, für welche die Regierung das alleinige Initiativrecht besaß und welche deren Mitglieder dann gegenüber dem Legislativorgan unterstützten. Er fasste auch die règlements für die öffentliche Verwaltung ab. Seine zweite Funktion bestand darin, „die Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit der Verwaltungstätigkeit entstehen, zu beseitigen“ (Art. 52 der Verfassung des Jahres VIII). Noch klarer bestimmte die Verordnung vom 5. Nivôse des Jahres VIII (26. Dezember 1799), dass der Conseil „über Streitigkeiten entscheidet, die zuvor in den Zuständigkeitsbereich der Minister fielen“ (Art. 11). Dabei handelte es sich einerseits um Streitigkeiten, die in erster Instanz von Verwaltungsorganen, die über Rechtsprechungskompetenzen verfügten, entschieden und im Beschwerdeverfahren vor die Minister gebracht worden waren, sowie andererseits um Streitigkeiten, die unter dem vorangegangenen politischen System unmittelbar den Ministern vorgelegt worden waren. Die Verordnung des Jahres VIII präzisierte auch die Zusammensetzung des Conseil d’État. Die 30 bis 40 conseillers waren in fünf Sektionen aufgeteilt: Finanzen, Zivil- und Strafgesetzgebung, Krieg, Marine und Inneres. An den Generalversammlungen (assemblées générales) nahmen alle conseillers teil.

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Der Conseil d’État entfaltete unter dem Konsulat und ab dem Jahre 1804 unter dem Empire eine beachtliche Tätigkeit im Bereich der Gesetz- und Verordnunggebung. Er hatte einen herausragenden Anteil an dem Werk der Kodifikation des Privat- und des Strafrechts. Er verfasste natürlich auch zahlreiche Gesetze und Verordnungen, die sich auf Verwaltungsangelegenheiten bezogen. Ausgehend vom Jahre 1803 wurde der Conseil d’État durch Napoleon mit einer dritten Mission betraut, nämlich derjenigen, an der Ausbildung der zukünftigen Amtswalter mitzuwirken. Zu diesem Zweck wurde die Anzahl der Auditoren (auditeurs) zeitweise auf bis zu 385 erhöht. Was die Ausübung der rechtsprechenden Funktion, die dem Conseil d’État zukam, anbelangte, wurde im Jahre 1806 mit der Einrichtung einer Kommission für Rechtsstreitigkeiten (commission du contentieux) eine deutliche Verbesserung erzielt. Die Kommission, die sich aus sechs auditeurs und sechs maîtres des requêtes (die Bezeichnung wurde vom alten Conseil du roi übernommen) zusammensetzte, führte unter dem Vorsitz des Justizministers eine Untersuchung des Rechtsstreits durch und erstattete der Generalversammlung darüber einen Bericht. Die Generalversammlung schlug Napoleon eine Lösung vor, der er fast immer zugestimmt hat. Diese Zustimmung wurde gleichwohl, nicht anders als unter dem Ancien Régime, für notwendig erachtet. Das System der durch das Staatsoberhaupt wahrgenommenen „justice retenue“[13] wurde auf diese Weise wiederhergestellt. Demgegenüber stellten die Einsetzung der Kommission und die nachfolgende Annahme von Verfahrensvorschriften einen nicht zu leugnenden Fortschritt dar.

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Der Conseil d’État erwies sich als überaus nützlich und überstand daher die politischen Regimewechsel, auch wenn er während der Restauration und der Julimonarchie (1830–1848) seinen Status als Verfassungsorgan einbüßte. Zu Beginn des zweiten, liberaleren Regimes wurden spürbare Modifikationen in Bezug auf die Behandlung der Streitigkeiten vorgenommen. Die Angelegenheiten, die Gegenstand eines Beschwerdeverfahrens vor dem Conseil d’État waren, wurden weiterhin durch ein spezielles Gremium untersucht. Diesem saß jedoch ab dem Jahre 1832 nicht mehr der Justizminister, sondern ein Mitglied des Conseil d’État vor. Der Bericht, der von diesem Gremium erstellt wurde, wurde in der für den Rechtsstreit anberaumten Generalversammlung in öffentlicher Sitzung verlesen. Die Anwälte der Parteien hatten das Recht, ihre Beurteilung des Falles vor der Generalversammlung mündlich vorzutragen, was sie in die Lage versetzte, ihre in den Schriftsätzen niedergelegten Ausführungen zu erläutern und zu ergänzen. Der für den Rechtsstreit zum Berichterstatter bestimmte maître des requêtes legte in seiner Eigenschaft als Beauftragter des Königs (commissaire du roi) seine Schlussfolgerungen dar. Seine Intervention wurde ursprünglich, d.h. im Jahre 1831, konzipiert, um zugunsten der Verwaltung einen Ausgleich zu schaffen zu der den Anwälten der Parteien eingeräumten Möglichkeit, sich zu äußern. Die commissaires du roi waren jedoch der Ansicht, dass sie nicht unter allen Umständen die Position der Verwaltung zu vertreten hatten. Sie gingen davon aus, dass sie frei und unparteiisch ihre Meinung über den Rechtsstreit abgeben sollten. Die Generalversammlung trat anschließend in eine Beratungsphase ein, in der sie sich nach verschiedenen Regeln richtete. Sie verabschiedete einen Urteilsentwurf, der dem König zum Zwecke der Erteilung der Zustimmung vorgelegt wurde; die Zustimmung wurde allerdings fast nie verweigert.

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Während der Zweiten Republik erließ der Conseil d’État, der durch die Verfassung von 1848 erheblich umgestaltet worden war, das Urteil selbst. Die Verfassung schuf ein Tribunal des conflits, das sich je zur Hälfte aus Mitgliedern des Conseil d’État und der Cour de cassation zusammensetzte und anstelle des Conseil d’État die Zuständigkeitskonflikte beilegte. Nach dem Staatsstreich des prince-président Louis-Napoléon Bonaparte erlangte der Conseil d’État diese Kompetenz im Jahre 1852 zurück; allerdings wurde zugleich das System der „justice retenue“ wiederhergestellt. Es verschwand mit dem Gesetz vom 24. Mai 1872: Der Conseil d’État entschied nunmehr „souverän“ über die ihm vorgelegten Beschwerden. Die Zuständigkeitskonflikte hingegen wurden erneut vor ein paritätisch besetztes Tribunal des conflits gebracht.[14]

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 43 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Frankreich › III. Die Etablierung des Verwaltungsrechts in der traditionellen französischen Verwaltung (1800–1914)

III. Die Etablierung des Verwaltungsrechts in der traditionellen französischen Verwaltung (1800–1914)

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Die Verwaltung wurde schon zu Beginn des Konsulats durch das Gesetz vom 28. Pluviôse des Jahres VIII (17. Februar 1800) umfassend neu organisiert. Zugegebenermaßen hielt dieses Gesetz an den beiden grundlegenden territorialen Gliederungseinheiten fest, den Departements und den Kommunen. Es zwang jedoch auch zu einer extremen Zentralisierung, da Napoleon die Verwaltung zu einem effizienten Instrument zur Festigung und Durchsetzung seiner persönlichen Macht formen wollte. In dem Gesetz wurde die Vormachtstellung der Bediensteten der Zentralverwaltung im Verhältnis zu denjenigen Organen verankert, welche die adminstrés repräsentierten.

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Die Schlüsselrolle kam dem Präfekten (préfet) des Departements zu. Er war, was seinen Status anbelangte, vollständig von Napoleon abhängig. Napoleon ernannte ihn und konnte ihn nach Belieben versetzen oder absetzen. Der Präfekt war an die Weisungen der Minister gebunden und musste deren Ausführung sicherstellen und überwachen. Er vertrat die nationalen Interessen auf der Ebene des Departements. Er leitete auch die eigenen Verwaltungsgeschäfte des Departements und übte Autorität über die anderen „Bediensteten des Gouvernement“, d.h. die Unterpräfekten (sous-préfets) und die Bürgermeister (maires), aus. Das staatliche Handeln erfolgte durch diese einzelnen Personen, nämlich den Präfekten, den Unterpräfekten und den Bürgermeister. Das Prinzip monokratischer Verwaltungsstrukturen stützte sich auf die Aussage des für die Ausarbeitung des Gesetzesentwurfs zuständigen Mitglieds des Conseil d’État: „Das Verwalten soll die Sache einer einzelnen Person sein, das Rechtsprechen die Sache mehrerer“[15]. Die Gremien, die zur Repräsentation der administrés eingerichtet worden waren, verfügten lediglich über sehr beschränkte Befugnisse.

 

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Der Präfekt war Vorsitzender des Conseil de préfecture, der sich aus einigen Mitgliedern zusammensetzte, die von Napoleon ernannt und von ihm auch wieder abgesetzt wurden. Als Conseil d’État im Miniaturformat hatte dieses Organ eine doppelte Funktion: auf der einen Seite eine beratende und auf der anderen eine gerichtliche. Es entschied unter Vorbehalt in Streitfällen, für die vorher die Verwaltungsbehörden des Departements zuständig gewesen waren, und sehr bald wurde die Möglichkeit eingeräumt, gegen seine Entscheidungen vor dem Conseil d’État Rechtsmittel einzulegen.

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Diese extrem zentralisierte Verwaltung wird zutreffend als die „klassische französische Verwaltung“ bezeichnet. In ihrem Rahmen entstand das französische Verwaltungsrecht.[16] Ausgehend vom Konsulat fand eine Entwicklung der Verhältnisse zwischen der Verwaltung und den administrés statt, die genau entgegengesetzt zu derjenigen während der Revolution zu verlaufen schien. Das Phänomen, das als erstes hervorsticht, ist die Ausweitung der Sonderrechte der Verwaltung.[17] Zum Ausgleich wurden den administrés nach und nach rechtliche Garantien zugebilligt.