Musikeinsatz im Französischunterricht

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I. 5 Zweisprachige Repertoires von Kirchenliedern in bilingualen Zonen

Es ist gezeigt worden, dass in Grenznähe Städte wie Straßburg / Strasbourg in einem gewissen Umfang zweisprachig waren. Noch stärker trifft diese bilinguale Situation auf Mömpelgard zu. Die Grafschaft Montbéliard / Mömpelgard1 war im 16. Jahrhundert eine kleine deutsche Enklave im französischen Gebiet, die staatsrechtlich vom rechtsrheinischen Herzogtum Württemberg getrennt war. Die Reformation in Mömpelgard war verbunden mit dem Herzog Ulrich von Württemberg, der nach einer Anzahl von Rechtsbrüchen (beispielsweise dem Mord an seinem Freund Ulrich von Hutten 1515) aus Württemberg fliehen musste, Zuflucht in Mömpelgard fand und Kontakt zu Luthers Lehre bekam. Unter dem protestantischen Herzog Christoph (1550-1568) infolge des Augsburger Religionsfriedens 1555 setzte sich das orthodoxe Luthertum nach dem Grundsatz cuius regio eius religio durch. Michael Buhlmann beschreibt, dass sich der neue Glauben erst gegen 1588 fest verankert hat und Mömpelgard so zur „evangelischen Insel“ inmitten von katholischen Gebieten (Freigrafschaft Burgund, habsburgischer Sundgau, Bistum Basel) wurde. An der Spitze der lutherischen Kirche in Mömpelgard stand jeweils ein Fürst, der Landesherr und Bischof in Personalunion war. Eng verbunden mit der lutherischen Landeskirche war das recht progressive Schulwesen. Die Schulbildung für 5- bis 14-jährige Mädchen und Jungen war obligatorisch. Es gab in jeder Kirchgemeinde, später in jedem Dorf Grundschulen, ab 1540 eine Lateinschule und ein Gymnasium. Im Tübinger Stift erhielten Mömpelgarder Stipendiaten ab 1560 eine Ausbildung zu Pfarrern. Ein Versuch von Graf Georg II. (1662-1699) zur Gründung einer Universität in Mömpelgard scheiterte jedoch 1676.

Es fand hier ein intensiver Austausch mit den umliegenden frankophonen Gebieten im Bereich der Verwaltung, des Handels und der Kommunikation statt als Vektor der marketplace tradition.2

Der Auszug aus dem Mömpelgarder Gesangsbüchlein (Abb. 4) ist ein Beweis für die Zweisprachigkeit der Enklave. Die Psalmen konnten jeweils in beiden Sprachen gesungen werden. Das Gebetsbüchlein wurde so bei Tischgebeten im familiären Kreis oder zu Beginn des Unterrichts verwendet. Metrum und Rhythmus waren an die französische Version angepasst. Gleichzeitig ist ein Vergleich des (deutschen) Originaltexts von Luther mit der französischen Übertragung von Foillet interessant: Die deutsche Version der Vorrede von Jacob Foillet3 unterscheidet sich auf den ersten Blick bezüglich des Umfangs (fünf Seiten gegenüber der französischen Version mit zwei Seiten). Sie beginnt mit einer zeitgenössisch üblichen Höflichkeitsformel als Widmung an den Regenten Ludwig Friedrich (1617-1631) von Mömpelgard:

Dem Durchleuchtigsten / Hochgebornen Fürsten / vnd Herren / Herrn Ludwig Friderichen / Hertzogen zu Wuertemberg / vnd Teck / Graffen zu Mümpelgardt / Herrn zu Heydenheym / Hericouts, Blamont, &c. Meinem gnedigen Fürsten und Herrn.4

Die ersten sieben Abschnitte stimmen auf den historischen Kontext ein und bilden den historischen Rahmen einer besonderen, schweren Zeit:

Da vnser getrewer HErr und Heyland Jesus Christus seine libe Juenger / vund uns alle lehret /wie wir vns in den letzten zeiten verhalten sollen / spricht er mit hellen klaren worten also: Seydt wacker allzeit / und bettet / daß ir wuerdig werden möget / zu entfliehen diesem allem / daß da geschehen soll / und zustehen vor deß Menschen Sohn. Luc. 21.

Wer ist nun under uns / der nicht wisse / das eben auff uns die letste zeit vnd das End der Welt kommen sey.5

Der Verweis auf Lukas 21 soll eine Warnung und zugleich eine Ermutigung durch die frohe Botschaft ausdrücken.6 Nur das tägliche Gebet spendet Hoffnung und Zuversicht: „Ist aber solches jemalen von noethen gewesen / so ists warlich in diesen letsten sichern bösen zeiten hoch vonnöthen.“7

Diese Erklärung bildet innerhalb der captatio benevolentiae den historisch-religiösen Hintergrund und die Absicht (end) des Büchleins:

Zu diesem end hat der Hocherleuchte Mann / und thewre Werckzeug Gottes D. M. Luther / vnd andere Geystreiche / Gottselige Lehrer gesehen / in dem sie die Psalmen Davids / als auch andere Geystliche Lieder / in Teutsche Reymen verfasset / sampt angehenckten schönen lieblichen Melodeyen / dieselbige in der Christlichen Kirchen zu singen und zu gebrauchen.8

Foillet bezeichnet Luther als „Werckzeug Gottes“, der als Lehrer hilft, das Gebet anhand des Einsatzes von „Melodeyen“ und Gesang zu gebrauchen, also aktiv anzuwenden, und auch zu wiederholen und zu üben.9 Der Erfolg der (gesungenen) Psalmen wird sich nach Foillets Prognose auch in der französischen Übersetzung bei den frankophonen protestantischen Gemeinden als nützlich erweisen: „Also werden sie ohne allen zweyfel / wie sie bereit in das Frantzoesisch gebracht worden / auch ihren Herzlichen nutzen haben / besonders in denen Kirchen / so der rechten vnverenderten Augsburgischen Confession beygethan.“10

Foillet nutzt die (damals konventionell üblichen) stilistischen Mittel der Unter- und Übertreibung, die er mit Parallelen der Herausgeberfiktion verbindet: Zufällig sei ihm ein Exemplar der französischen11 Originalausgabe des Psalters „underhanden kommen“. Er war der erste, der eine deutsch-französische Interlinearversion in einem Band zusammengestellt und auch die Reime angepasst habe für den Kirchengesang, die zur Ehre Gottes sowie als Unterstützung und geistliche Auferbauung („aufferbawung“)12 der Gemeinde dienen:

Derowegen als mir ohne lengsten das Frantzösische geschriebene Original exemplar vnderhanden kommen / darinnen der gantze Psalter Davids / sampt andern fuernembsten Geystlichen Liedern verfasset vnd begriffen / auß allerley reinen Teutschen Psalmen vnd gesangbuechlein zusammen getragen / in Frantzoesische reymen und in ein Volumen gebracht / so auch biß anhero niemalen gesehen noch getruckt worden: als hab ich nicht vnderlassen koennen / dasselbige zur ehr Gottes / vnd aufferbawung seiner Kirchen an das tagliecht herfuer zu bringen.13

Die Interlinearversion hatte den Vorteil, dass auch die Metrik angepasst wurde. Somit konnte das Gesangsbüchlein sowohl in deutsch- als auch in französischsprachigen Gemeinden und natürlich auch in zweisprachigen Gemeinden wie in Mömpelgard / Montbéliard angewendet werden. Die zweisprachigen Gesangsbücher sind letztlich auch ein Indikator für die Defizite in der deutschen Sprachkompetenz vieler zugezogener frankophoner Bürger nach Mömpelgard, wobei die Interlinearversion eine wichtige kommunikative Brückenfunktion bildete. Hierbei zeigte sich das Bedürfnis, in der einen Sprache zu singen und gleichzeitig am Rand die (muttersprachliche) Version mitzulesen, um besser zu verstehen. Das Gesangsbüchlein hat als prototypische Version somit Pilotcharakter für weitere zweisprachige Ausgaben und ist damit ein erstes Lehrwerk für den zweisprachigen Einsatz von Liedern im Fremdsprachenunterricht:

Vnd damit es desto fueglicher vnd mit mehrerm nutzen beydes in Teutschen und Frantzösischen Kirchen koendte gebraucht werden: wie mit weniger / damit man sehe / daß das Frantzösische dem Teutschen allerdings / vnd fast von Wort zu wort gleichstimmend ist14 / habe ich mit Gott meinen mueglichsten fleyß vnd arbeyt angewendet / daß es in beyden sprachen moechte herfuerkommen.15

Eine interessante parallele Entwicklung stellt die Evolution der Sprach- und Kulturassimilation der Hugenotten in Preußen dar. Seit 1560 nannte man die Evangelischen reformierten Bekenntnisses huguenots.16 Mit dem Revokationsedikt von Fontainebleau 1685 durch Ludwig XIV. wurde das Edikt von Nantes aufgehoben und das reformierte Bekenntnis verboten. Dies löste einen Exodus der Glaubensflüchtlinge aus. „Einige hunderttausend Hugenotten verließen Frankreich, um in protestantischen Ländern Europas Zuflucht zu suchen, nicht zuletzt in deutschen Territorien.“17 Dabei kam die Aufnahme der Hugenotten in Preußen der „fürstlichen Einwanderungs-, Wirtschafts- und Peuplierungspolitik entgegen, die darauf gerichtet war, die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges zu überwinden und das kulturelle und wirtschaftliche West-Ost-Gefälle in Europa auszugleichen.“18

Kuhfuß schreibt, dass 1672 die ersten Hugenotten sich in Berlin niederließen, 1688 erhielten sie Versammlungsfreiheit in den Kirchen der Stadt und ab 1700 verfügten sie über eine eigene Kirche.19 Die Hugenottenprivilegien umfassten wirtschaftliche und kulturelle Vorrechte.20 Das Französische wurde besonders gepflegt und zur offiziellen Sprache in den Domänen Kirche, Familie sowie Schule. Noch vor dem Aufbau eines Elementarschulwesens erhielten die Hugenotten mit dem Collège royal françois 1689 ein erstes eigenes Gymnasium, wobei der Unterricht auf französisch stattfand.21 Die weltoffene, frankophile Politik Friedrichs II. förderte die Hugenotten in Preußen:

depuis 1740, Frédéric II y favorise une culture francophile et francophone et entretient une cour à la française. Berlin constitue donc un milieu favorable aux réfugiés protestants francophones venus s’y installer en grand nombre après la promulgation de l’Édit de Potsdam en 1685.22

Wie viele Adelige seiner Zeit war Friedrich II. französisch erzogen worden. Der aufgeklärte „prince-philosophe“ sprach wohl besser französisch als deutsch.23 Der Hof Friedrichs II. favorisierte französische reformierte Glaubensflüchtlinge als Lehrer und Erzieher, und in Berlin wurden französische Kindermädchen und Gouvernanten eingestellt.24 Durch ihre bilingualen Kompetenzen wurden die Hugenotten oft auch als Sprachmeister angestellt.25 Ein interessantes Beispiel der Réfugiés in einer deutschsprachigen Umgebung stellt die 1725 gegründete Maison des Orphelins in Berlin dar, die für die Erziehung und Bildung der hugenottischen Waisen bestimmt war. Durch einen umfangreichen Elementarunterricht wurden die Jungen auf handwerkliche Berufe vorbereitet und die Mädchen auf eine Arbeit als Gouvernante und Erzieherin: Das Bildungskonzept wird vom damaligen Direktor Humbert wie folgt charakterisiert: „Nos enfans apprennent à lire, à écrire, en allemand et en françois; à chiffrer, la religion. Le but de notre etablissement n’est pas d’en faire des sçavans, mais de bons citoyens, propres à apprendre une bonne profession.“26

 

In den französischen Gemeinden war damit das Standardfranzösische die Sprache für Kult, Bibel- und Katechismusunterricht.27 Die Verwendung des Hugenottenpsalters28 kann in den reformierten Gemeinden als Gradmesser der Verwendung des Französischen in den Hugenottenkolonien gelten. Die französische Sprache im Gottesdienst war „zum ausschlaggebenden Identifikationskriterium geworden“.29 Die sprachliche Akkulturation, also das Hineinwachsen der Hugenotten in die neue kulturelle Umwelt, die sprachliche Integration dieser Migranten, die schrittweise ihre Sprache aufgaben und zur deutschen Sprache übergingen, kann als komplexer Prozess verstanden werden. Ein Sprachwechsel im Sinne von Weinreichs language shift30 umfasst den Wechsel im habituellen Gebrauch einer Sprache zur anderen und untersucht dabei auch die sozialen Aspekte als Phänomen des Sprachkontakts.31 Manuela Böhm charakterisiert den Sprachwechsel als

komplexe[n] Prozess, der generell darin besteht, dass innerhalb eines beobachteten Zeitraums immer mehr Sprecher einer mehrsprachigen Gemeinschaft in immer zahlreicheren Situationen statt der bislang dominanten Sprache A zunehmend die Sprache B benutzen. Einem Sprachenwechsel geht demnach immer zwingend ein Stadium der Mehrsprachigkeit voraus, in dem für die involvierten Sprachen bestimmte Funktionen und Domänen ihrer Verwendung, unter Umständen mit diglossischer Struktur, ausgebildet werden. Funktions- und Domänenaufteilung bleiben aber nicht dauerhaft bestehen: Der Sprachwechsel nähert sich seinem Ende in dem Maße, wie der Sprecher die Domänen und Funktionen für Sprache A beschränken und Sprache B ausbauen.32

Frédéric Hartweg hat den Sprachwechsel bei den Hugenotten Berlins detailliert dargestellt.33 Kramer bringt das auf die Formel:

Am Anfang war es die Muttersprache, zu der man mühsam die Zweitsprache Deutsch hinzulernte, wobei man mit dieser häufig bis ans Lebensende Probleme hatte; einer etwa eine Generation währenden wirklichen Zweisprachigkeit folgte eine Phase der ‚Eindeutschung’; d. h. des Übergangs der Kolonie von der französischen zur deutschen Sprache, der sich über mehrere Generationen erstreckte.34

Dieses Drei-Phasen-Modell EinsprachigkeitZweisprachigkeitEinsprachigkeit wird von Böhm zu einem longue-durée-Modell ergänzt, „da der Sprachwechsel je nach Medialität, soziokulturellen und lokalen Bedingungen unterschiedlich dauerte.“35 Susanne Lachenicht unterstreicht Böhms Aussage, dass nicht von einem Modell auszugehen ist, nach dem

innerhalb von drei Generationen von französischer Einsprachigkeit zu deutsch-französischer Diglossie und dann zu deutscher Einsprachigkeit übergegangen wurde (im Kontext Brandenburg-Preußens), sondern zunächst von asymmetrischer Mehrsprachigkeit zum Zeitpunkt der Einwanderung (Patois und Französisch, Letzteres vor allem als Gottesdienstsprache) […]. In der zweiten und dritten Generation zeichnen sich zunehmende und in der dritten und vierten Generation wieder abnehmende Mehrsprachigkeit ab (Plattdeutsch mündlich auf dem Land, Hochdeutsch oder Berlinerisch mündlich in Berlin sowie Hochdeutsch als Schriftsprache auf dem Land und in der Stadt, wenn Alphabetisierung vorlag, und Französisch als zunehmend passiv beherrschte Kultsprache bei der Mehrheit der Réfugiés, wobei sich hier je nach sozialer Schicht (und auch auf individueller Ebene) wiederum gravierende Unterschiede festellen lassen.36

Im Gegensatz zur oben beschriebenen Sprachenfrage zeigte sich die französisch reformierte Konfession als religiöser Bereich als viel stabilere und konservativere Komponente in der hugenottischen Identitätskonstruktion. Böhm begründet das mit der Rolle der reformierten Kirche als letzter Bastion des Sprachenwechsels.37 Hartweg berichtet über das

Dilemma einer Gruppierung, die durch ihre religiös bestimmte Zusammengehörigkeit definiert und ihre Existenz durch die Eingriffe der politischen Macht als gefährlich empfindet und daher ihre Sprache als Legitimierungsmoment verteidigt, obwohl sie dadurch ein wesentliches Element ihrer geistlichen Aufgabe, nämlich die Verkündigung und die Seelsorge verkümmern läßt und dadurch z. T. ihre Existenzberechtigung oder zumindest ihren Sonderstatus einbüßt […].38

Starke Diskussionen gab es darüber, ob deutsche Predigten in den französischen Kirchen Berlins eingeführt werden sollten, da es häufig Klagen über fehlende Französischkenntnisse bei den Kindern gab. Dieser Vorschlag wurde abgewiesen, da er „gefährlich und seine Folgen für die Erhaltung unserer Kirche nachteilig sein konnten.“39 Um der Gefahr der „Eindeutschung“ zu begegnen, wurde seitens der Berliner hugenottischen kirchlichen Behörden die französische Sprache zum wichtigsten Identifikationselement, um den Sonderstatus zu wahren. Hartweg schreibt dazu:

Das Singen der französischen Psalmen und nicht der Lieder des deutschen Gesangbuchs, das Französische als „lingua sacra“, was keineswegs den Gebrauch des Deutschen im Alltag ausschloß, hatten symbolischen Wert, dessen Verlust die geistige Identität gefährdete.40

Das Sprachenproblem blieb jedoch auf der Tagesordnung, was ein Beschluss aus dem Jahr 1781 beweist, zweisprachige Ausgaben des Neuen Testaments mit französischem Text und deutscher Übersetzung anzuschaffen.41

In diesem Zusammenhang wurde auch der Katechismus und der Goudimelsche psaultier huguenot verwendet, an dessen Stelle am Ende des 18. Jahrhunderts das livre de cantiques trat.42 Wie bei den Lutheranern spielte die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache eine zentrale Rolle. Der calvinistische Gottesdienst war streng und nahe am Bibelwort ausgerichtet. So basierte die Predigt auf einer vom Pastor ausgewählten Bibeltextstelle, die von Bibellesungen, Liedern und Gebeten illustriert wurden. Der Psalm galt für die Reformierten als gesungenes Gebet und der Hugenottenpsalter als ein wichtiger Bestandteil hugenottischer Frömmigkeit. Die Psalmen wurden seit dem 16. Jahrhundert gesungen,43 und das galt auch für den Unterricht. Der Genfer Katechismus von Calvin bildete die Grundlage der Instruktion der Jugend im brandenburgischen Refuge und war damit auch das wichtigste Lehrbuch, nicht nur im Katechismusunterricht. Bei den Bibelausgaben reichte bald eine zweisprachige Ausgabe nicht mehr aus. Böhm zeigt anhand der Schulgeschichte der Hugenottenkolonie in Strasburg bei Berlin, dass man hier in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die deutsche Übersetzung angeschafft haben muss.44 Noch im Jahr 1783 hatte das Berliner Konsistorium im Bereich des Liedgutes und Psalmengesangs eine Neuauflage der vom hugenottischen Pastor Hauchecorne45 herausgegebenen Psalmensammlung beschlossen.46 Ab 1791 wechselte die Berliner Gemeinde zu einem neuen, von den Pastoren Hauchecorne und Henry herausgegebenen Gesangbuch, das „nur noch einen Teil der Psalmen, dafür aber 40 hymnes und 95 cantiques in französischer Sprache enthielt, die nach deutschen Melodien gesungen wurden.“47 Die beiden Herausgeber argumentierten dazu im Vorwort, dass dieses neue Gesangbuch notwendig geworden sei, weil „die Psalmen veraltete Redewendungen enthielten und für nunmehr fremd gewordene Verhältnisse stünden.“48 Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden keine eigenen Gesangsbücher mehr gedruckt und die Berliner reformierte Gemeinde übernahm für die deutschsprachigen Gottesdienste auch die deutschen Gesangsbücher.49

Abb. 7:

Daniel Nikolaus CHODOWIECKI, Nations, loués le Seigneur! In: Les Pseaumes de David en Vers avec des prières aux dépens de la Compagnie du Consistoire. Berlin: G. J. Decker, Imprimeur du Roi, 1783. Titel-Kupfer zu den Psalmen. Radierung 1782. Wieder abgedruckt in: Jens-Heiner BAUER, Daniel Nikolaus Chodowiecki. Das druckgrafische Werk. Hannover: Verlag Galerie J. H. Bauer 1982, S. 146, Tafel 964.

Der Akademiesekretär Jean-Henri Samuel Formey berichtete 1785 in einer Rede zum 100jährigen Jubiläum des Potsdamer Edikts über seine Sprachkenntnisse und die der ersten Generation der Réfugiés. Er habe die deutsche Sprache wie eine tote Sprache gelernt. Parallel dazu bestätigte er, dass das Französische vielerorts in den ursprünglichen Hugenottengemeinden nicht mehr verstanden würde:

Encore assez imparfaitement, pour la conversation, [on apprend la langue allemande, A.R.], comme on apprend les langues mortes. […]. Pour les Réfugiés qui n’ont pas eu ces raisons & ces occasions de parler allemand, on les a vus mourir dans l’âge le plus avancé, ne sachant que leur langue, ou même leur patois. Quelques uns d’entr’eux, quand on leur fasoit des reproches à ce sujet, repondoient: Que peut-on apprendre en cinquante ans. […] Je n’ignore pas que plusieurs causes ont diminué les troupeaux, & qu’une des principales est le mélange des deux Nations, qui a fait passer plusieurs membres de nos Eglises dans les Eglises Allemandes des villes, & encore plus de la campagne. Cette langue que les premiers Réfugiés ne pouvoient apprendre, a pris tellement le dessus que la langue maternelle à son tour est devenue inintelligible, & qu’en bien des endroits on ne peut plus s’en servir pour l’instruction des Catéchumes.50

In den politischen Umwälzungen 1814 kam es zu einer für den Fortbestand der französischen Kirche entscheidenden Debatte zwischen den beiden französisch reformierten Pastoren David Louis Théremin und Jean Henry. Théremin51 hatte in einer (bezeichnenderweise auf deutsch verfassten) Streitschrift die zentrale Frage aufgeworfen:

Ist es aber vernünftig, daß dieser Gottesdienst in französischer Sprache noch fortdaure, wenn schon der größte Theil der Gemeinen von dieser Sprache nichts mehr verstehet und sich unmöglich in derselben erbauen kann? Betet man Gott an, wenn man nicht weiß, was man hört oder was man selbst spricht?52

Die französische Sprache war nach Théremin damit zur reinen Gottesdienstsprache geworden: „im gemeinen Leben spricht sie schon Niemand mehr.“53

Gleichzeitig lehnt Théremin den Einsatz der französischen Sprache im Religionsunterricht ab. Der Lehrer sollte

sich zu dem Gedanken-Kreise seiner Schüler herablassen, daraus seine Gleichnisse, seine Beispiele nehmen, wie es Jesus, unser höchstes Vorbild that; er muß, mit einem Wort ihre Sprache reden. Unsere Jugend lernt aber zuerst Deutsch sprechen; die französische Sprache ist fremd für sie. Soll sie in dieser den Unterricht bekommen, so muß sie während desselben nicht nur die Sachen, sondern auch die Sprache lernen. Wie sehr wird ihr dadurch das Lernen schwer und unangenehm, das der Lehrer so viel Ursache hat, leicht, faßlich und anziehend zu machen.54

Théremins Schrift hat angeblich Friedrich Wilhelm III. dazu ermuntert, seinerseits für die Beseitigung des Französischen einzutreten.55 Jean Henry und eine Reihe Berliner Pastoren haben sich erfolglos für die Beibehaltung der französischen Sprache eingesetzt, denn die Berliner Kirchengremien gaben allmählich ihren Widerstand gegen die deutsche Sprache auf. Genauso erging es den übrigen preußischen Réfugiés-Gemeinden. So hatte sich deutsch als Gottesdienstsprache in den französisch-reformierten Gemeinden bis 1831 durchgesetzt.56