Theatergeschichte

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2.3 Der Narr und die Verkehrung

Die Figuren Herlequin, Arlequin und Harlekin gehören wie Hanswurst der großen Familie der Narren an. Sie stören wie der fool, Jean Potage, Pickelhäring oder zusammengefasst die ‚komische Figur‘ den Gang der Dinge in szenischen Vorgängen. Im Folgenden werden einige Aspekte der Narrenfigur exemplarisch angedeutet.

2.3.1 Zur Genealogie der Narren

Ein Narr im Sinne der Bibel ist ein dem Wort Gottes verschlossener Mensch. Vom 8. bis 11. Jahrhundert meint der Begriff „narro“ den Geisteskranken oder den vorübergehend Geistesgestörten. Aber noch im 16. Jahrhundert werden Geisteskranke in den Städten am Rhein in Narrenschiffe gepfercht und stromab ausgesetzt. Oder man schließt sie im Narrenhaus ein. An den Höfen ist es Sitte, sich verkrüppelte Menschen als echte Narren zu halten, die für Essen und ein Dach über dem Kopf ihre Herrschaft belustigen. Selbst Päpste, Erzbischöfe und Bischöfe üben caritas an solchen Narren [<< 99] und zelebrieren gleichzeitig Abstand. Je verschrobener der Narr, desto überzeugender die eigene Ratio, desto gewichtiger das eigene Wort, desto hervorstechender die Wohlgestalt des Herrschers. Etwa seit dem 10. Jahrhundert werden echte Narren an den Höfen allmählich durch sogenannte Schalksnarren aus der Gruppe der fahrenden Spielleute und Gaukler verdrängt. Noch aus der Tradition des echten Narren ist auch der Schalksnarr weitgehend geschützt. Die einzige Gefahr für ihn sind Prügel für laue Späße. Daneben bildet sich der Typus des witzigen, geistreichen Hofnarren heraus, der auf seine Weise ab und zu dem Hof die Wahrheit sagen darf. Bei Empfängen, Umzügen, Turnieren, Festen macht sich der Hofnarr unentbehrlich. Er ist oft kahlköpfig und trägt eine Börse am Gürtel als Hinweis auf das Berufsmäßige seines Tuns. Einzelne Hofnarren erlangen zu Lebzeiten Berühmtheit, sodass sich wenigstens ihre Namen bis heute erhalten haben: in England Hitard (980 – 1016) unter Edmund Ironside, John Scogan (um 1480 – 1500) unter Edward IV., Will Sommers († 1560) unter Henry VIII., Richard Tarl[e]ton (1530 – 1588) unter Elizabeth I. Muckle John unter Charles I. ist der vermutlich letzte englische Hofnarr.34

Mittelalterliche Hofnarren finden sich in Frankreich schon zur Zeit von Hugo Capet um 996. Als der letzte Hofnarr in Deutschland gilt Freiherr von Gundling, der von Friedrich Wilhelm I. zwar zu hohen Ehren befördert, aber als eine Art Hofnarr gehalten wurde. Mit ihm beginnt die moderne Leidensrolle des Intellektuellen als Spielball zwischen Macht und Markt.35 Am Anfang des 13. Jahrhunderts werden die Begriffe „narre“ und „nerrischheit“ bei Thomasin von Zerclaere und Walther von der Vogelweide erstmals in der weltlichen Dichtung gebraucht. Der Begriff „tore“ gilt bis ins 15. Jahrhundert als Synonym für „narre“. Im 16. Jahrhundert findet die Narrengestalt mit Sebastian Brant Eingang ins ethisch-religiöse Schrifttum. Mit Narr wird hier aber der irrende, sündhafte Mensch gemeint, einschließlich einer möglichen Abkehr von Gott, denn in der Bibel ist ein Narr, wer die Macht und die Kraft Gottes leugnet. Ein solcher von Gott abgewandter Mensch kann nicht wieder zum rechten Glauben bekehrt werden. Der Narr bleibt ein Ausgestoßener. Dies manifestiert sich im Bildmotiv König David und Narr, das sich in Psalter-Illustrationen des 12. und 13. Jahrhunderts zu Psalm 52 (neu 53) in der Initiale D finden lässt: Dixit insipiens in corde suo: non est deus.36 In den Bildmotiven von David und Narr stehen sich Weisheit [<< 100] und Torheit gegenüber. Warum man gerade König David für Abbildungen mit dem Narren auswählte, deutet die Bibel an im 1. Buch Samuel 21,14: Auf der Flucht vor Saul kam David zu Achis, König von Gath. Um geschützt zu sein, stellte sich David dabei wahnsinnig. „Und er stellte sich wahnsinnig vor ihren Augen und tobte unter ihren Händen und rannte gegen die Pforte des Tores und ließ seinen Speichel in seinen Bart fließen.“37 Es kann also ein Narr sein, wer wahnsinnig ist, aber auch, wer sich als wahnsinnig ausgibt, die Wirkung auf andere entscheidet. Ambivalenz macht die Unangreifbarkeit und Faszination dieser Figur aus. Die schriftlich fixierte antik-christliche Genealogie des Narren kennt den lateinischen stupidus und Verkehrungsfeste wie die römischen Saturnalien, den Kinderbischof und die spätmittelalterlichen Narrenfeste. Der Narr hat den Unglauben gemein mit Luzifer, einer Figur, die sowohl christlich als auch – verantwortlich für Aberglauben, Hexerei, nicht akzeptiertes Gedankengut und Brauchtum – anti- oder nicht christlich konnotiert ist. Alle diese Andeutungen zeigen, dass die Narrenfigur theaterrelevant wird, weil sie in einem komplexen Bezugssystem steht.

2.3.2 Bezüge der mittelalterlichen Narrenfigur


Abb 11 Ausschnitt aus dem Bezugssystem der mittelalterlichen Narrenfigur. (Quelle) [<< 101]

Das Wilde Heer. Nach der bis heute gültigen Lesart Otto Driesens stammt der französische Harlekin aus der Gruppe der Herlekinleute (Hellequin, familia Hellequini) des Wilden Heeres. Damit sind zum einen Lufterscheinungen, durch die Lüfte fliegende Dämonen, gemeint und zum anderen die Seelen von Verstorbenen, die zur Strafe für ihre Sünden in einem lauten, polternden Zug von den Herlekinleuten durch die Lüfte gehetzt werden. Ihr Anführer ist der Oberherlekin, ein kräftiger, keulenbewaffneter Riese, ein gefürchteter Herr. Er spielt seinen Rivalen schlimme Streiche, liebt die reiche Tafel und ist sehr beweglich. Seine orale Tradition reicht tief ins Mittelalter zurück, schon auf das 11. Jahrhundert bezogene schriftliche Zeugnisse – 1091 erlebt Priester Gauchelin einen Zug der Herlekinleute – kann Driesen beibringen.38 1262 findet sich der erste komische Herlekin in der dramatischen Literatur, in dem Spiel unter einem Laubdach (Le Jeu de la Feuillée) von Adam de la Halle. Er nennt sich Narrenbeißer – alle Menschen, die sich vor ihm fürchten, sind Narren. Er ist in diesem Stück ein Diener des Hellequin, König des Feenreiches.

Krank vom Leben in Arras und vom Leben mit seiner Frau will Adam de la Halle – er spielt sich selbst – sich von Stadt und Frau trennen und nach Paris gehen, um Theologie zu studieren. Er hofft, durch Selbsterkenntnis zu genesen. Ein Arzt deckt seine eher mentalen Krankheiten auf, aber ohne ihn zu kurieren, ein Mönch tritt auf, der Narrheit durch Reliquien heilen kann, und schließlich erscheint die Fee Morgue, die magische Heilkraft besitzt. Sie wendet sich später an Hellekin. Mitten im Spiel, vor der Abreise Adams, kommt es zu einem Feentreffen mit Crokesot. Während 1091 der Kleriker Gauchelin den Reiterumzug der Herlekinleute selbst erlebte, kann der Umzug hier erst stattfinden, als der anwesende Mönch eingeschlafen ist. Eingeleitet wird die Ankunft der Feen mit dem Ausruf des kleinen Gillot: „Mir scheint, ich höre Hellekins Schar, die vorauszieht, und viele Glöckchen läuten. Ich glaube sie sind gleich hier.“39 Am Ende des Spiels wird der erwachte Mönch um seine Reliquien betrogen und muss die Zeche bezahlen. Adam reist ab. Man führt das Stück, das als die erste französische Komödie gilt, 1276 oder 1277 vor dem Ort Arras auf. Dazu braucht es ein Wirtshausambiente. Man tritt aus dem Publikum heraus und kehrt wieder ins Publikum zurück, aber trotz solch hochgradiger Authentizität werden Frauen von Männern dargestellt. Die Bürger spielen sich selbst. Wie Gott in den frühen geistlichen Spielen, so tritt Hellequin hier nicht selbst auf.

Charivari. Mitte des 13. bis Mitte des 14. Jahrhunderts formen Teufelstheorien die Herlekins zu verkappten Teufeln um. Diese Dämonisierung führt alle Übel des [<< 102] alltäglichen Lebens auf die Einwirkung des Teufels zurück. Dagegen wehren sich einige Gruppen vor allem jüngerer Männer, die im Brauchtum ihr Gewohnheitsrecht bewahren möchten. Sie urteilen zum Beispiel über die Rechtmäßigkeit von Hochzeiten. Bei zu großen Unterschieden (jung und arm heiratet alt und reich, mehrmalige Verheiratung usw.) verkleiden sie sich als aus dem Wilden Heer herabgestiegene Herlekinleute und üben mit dem Charivari bis ins 18. Jahrhundert Selbstjustiz aus.40

Der Teufel, eine verschärfte Inkarnation älterer Dämonen, ist nicht nur der Unglaube in Person, sondern nach einem Ursprung seines Namens auch mit dem Tod verwandt, weshalb mit der Christianisierung die Angst vor beiden geschürt wird.41 Beim Sterben kann aber zumindest der Teufel durch Gebete verjagt werden. Der Mensch, der aus Ungehorsamkeit gegen Gottes Gebot der Notwendigkeit, sterben zu müssen, verfallen ist, lebt als Pilger zwischen den Welten in ständiger Todesfurcht. Den natürlichen Gang in den Tod überdeckt nun die durch den Glauben initiierte Angst vor dem ‚jähen Tod‘, der die sündigenden und die nicht getauften Personen ereilen kann. Der jähe Tod, ohne Kommunion und Absolution erlitten, bedeutet ewige Verdammnis und die Gewissheit eines qualvollen Jenseits. Die Vermittlung von Angst steigert sich in der Darstellung des Todes in der bildenden Kunst vom 13. zum 15. Jahrhundert. Der Tod erscheint als der Jäger, der Reiter, der Schnitter und zeigt so die Gewalt, über die er verfügt, aber er lockt auch als Spielmann.42 Er stellt Gleichheit her, wo Ungleichheit herrscht, verkehrt Macht in Ohnmacht. In einem Würzburger Totentanzgedicht um 1350 drückt dies der Kaiser so aus:

 

„Ich kunt daz rich zu hôhen eren,

mit striten und vehten wol gemêren.

Nu hat der tôt überwunden mich,

daz ich bin weder Keiser noch menschen glich.

Darauf der Tod:

Her Keiser, in hilft nit daz schwert,

zepter und grône sint hie unwert.

Ich hânt iuch an die hant genomen,

ir muest in minen reien komen!“43[<< 103]

Wenn der Tod Regungslosigkeit bewirkt, muss er sich vertreiben lassen durch Bewegung, zum Beispiel durch den Tanz. Man hat in den Pestzeiten an vielen Orten gegen die Seuche „Reihentänze aufgeführt, durch die vor allem auch die Niedergeschlagenheit gebannt werden sollte. Solchen Ursprungs sind der Schefflertanz und Metzgersprung in München, der Pesttanz in Immenstadt, der Siebentanz in Kreuzwertheim. Die Wertheimer sollen um eine Waldtanne getanzt haben, bis der Schwarze Tod ihr Städtchen verließ.“44 Das Tanzen war eine spontane, nicht autorisierte Selbsthilfe der Bevölkerung gegen die Pest. Doch damit wurde auch die Tradition der in frühen Zeiten die Leichenfeier begleitenden Kirchhofstänze reaktiviert, die eine Verbindung zu den Ahnen herstellten. Cosacchi meint zeigen zu können, „wie aus dem Kirchhofstanz ein Totentanz entstehen konnte, wie sich die als Skelette gekennzeichneten ‚Herlekinleute‘ des ‚Wilden Heeres‘ in den im Kirchhof um die Gräber im Kreise wirbelnden Volkstanz mischen, um die Teilnehmer des Kirchhofstanzes mit sich in das Grab zu schleppen, das im Mittelpunkt des Tanzkreises offen steht“.45 Eine mythologische Ebene verbindet sich dann mit der Selbstjustiz der Charivari-Umzüge. Die christliche Herrschaft über das Medium Schrift im Mittelalter bringt es mit sich, dass Kirchhofstänze oft nur durch Verbote dokumentiert sind oder durch tendenziöse Legenden zu Lehrzwecken, wie es beim Kölbiker Tanzwunder von 1021 der Fall ist: Junge Leute stören in der Christnacht die Messe, indem sie auf dem Kirchhof tanzen. Der Priester bittet sie aufzuhören. Er fleht den heiligen Magnus um Hilfe an. Die Tänzer müssen auf dessen Einwirken hin nun ein Jahr tanzen, bis sie auf Fürbitte des Priesters erlöst werden können.46 Für sie verkehrt sich die Lust des Tanzens in die Qual des Zwangstanzens, die subversive Verbindung mit den Ahnen wird der Kontrolle des Priesters unterworfen. Der ummauerte Friedhof mit dem Beinhaus war nicht selten ein Treffpunkt, ein Markt, bei einbrechender Dunkelheit auch ein Ort des Lasters, der Prostitution.47 Im Tanz um die Gräber konnte man den Verstorbenen begegnen, was 1091 Priester ­Gauchelin erlebt hatte und was im Laubenspiel 1276 angedeutet worden war. Das Konzil von Rouen untersagte schon im Jahre 1231, auf dem Friedhof zu tanzen: bei Strafe der Exkommunikation. Knapp 200 Jahre später musste das Verbot wiederholt werden. Der Hauptgrund für die Verbote war heidnisches Gebaren an chris [<< 104] tlichen Orten, aber auch die Reigen- und Kreisform der Tänze erregte Anstoß. Die Teilnehmenden fassten sich an den Händen, Mann und Weib bunt durcheinander, und feuerten durch die eigene Ausgelassenheit die im Kreis gegenüber tanzenden Personen zu gesteigerter Ausschweifung an. Wie die meisten Volkstänze waren auch Kirchhofstänze solche ‚umgehenden‘ Tänze. Sie wurden als ‚Blendwerk des Teufels‘ angegriffen, weil dieser in der Mitte des Tanzzirkels stehe.48

Totentanz. Die Bildtradition der christlichen Totentänze schafft eine neue Mitte, die nun zum Beispiel der Prediger (mit oder ohne Kanzel) darstellt, wenn er den Reigen eröffnet, oder der andächtige Besucher selbst, der am Reigen entlangschreitet. Vor dem Prediger kann dann der Teufel oder ein teuflischer Toter – stets kleiner als der Prediger – abgebildet sein, wie in der Turmhalle der Berliner Marienkirche seit 1484. „Vielleicht stellte sich der zum Totentanz aufspielende Musiker in einer Todes- oder Teufelsmaske vor die Kanzel, um die Lehre des Predigers um so augenscheinlicher zu machen (vgl. Berlin, Lübeck usw.).“49 Falls Cosacchi hiermit Recht hat, ergibt sich ein eindrucksvolles Bild von Abhängigkeit: der Prediger, mit ruhiger, gelassener Miene hinter der Brüstung seiner Kanzel, und zu seinen Füßen der zum Teufel-Fabeltier degenerierte Spielmann als Zugabe zum dominierenden Wort. Der Narr erscheint im Berliner Totentanz als Letzter der hierarchischen Kette und bittet wie alle anderen in niederdeutschen Versen vergeblich um eine Verlängerung seines Lebens.

Der Totentanz erscheint auf Bildern und in Texten nach 1350, erreicht seine europäische Blüte im 15. Jahrhundert und „löst sich mit der Veröffentlichung der ersten ­Lyoner Ausgabe des Holbeinschen Totentanzes im Jahre 1538 in ein neuzeitliches Gebilde auf“.50 In den Totentänzen ging es – wie in den ‚weltlichen‘ Szenen der Osterspiele – um die Niedrigkeit und Verworfenheit der Welt. Alle Stände werden im Tanz mit ihrem Anteil an der Sündhaftigkeit der Welt vergemeinschaftet. In den Bildprogrammen der Totentänze in Kapellen oder an den Klostermauern darf Gleichheit wirklich erlebt werden, wenn auch nur angesichts des Todes. Totentänze verdrängen den Teufel aus dem Tanzzirkel. Der Narr fungiert einerseits als Figur der Ständehierarchie, insofern [<< 105] auch er in den Reigen gezogen wird, und andererseits als Muster, das die große Verkehrung im Sinne von Egalisierung in eigener Person vorwegnimmt. Die Narrheit der Welt mündet in den Tod.

Die Totentanzforschung konzentriert sich bisher auf die bildkünstlerischen und literarischen Darstellungen von Totentänzen und meidet die schwierige Frage von Aufführungstraditionen. Weder das mythologische Beziehungsgeflecht, noch die Kirchhofstänze, noch die Tänze gegen die Pest oder die aufgeführten Totentänze (Todestänze bei Cosacchi) können heute als nur annähernd erforscht gelten. Wenn diese Tradition aber über die Kirchhofstänze wesentlich weiter zurückreicht, könnte bei entsprechender Forschung vielleicht neben den Herlekinleuten eine weitere Linie sichtbar werden, die erklärt, warum in spätmittelalterlichen Schwerttänzen, dem Innungstanz der städtischen Schwertfeger51, ausschließlich der Narr den unterlegenen Kämpfer wiederbeleben darf. Im Schwerttanz kann der Narr nicht nur die Funktion innehaben, das Opfer zu vertreten, sondern er muss auch die Schwerter halten, die bei einer Figur hinderlich wären, oder er hat dem Anführer beim Besteigen der Rose52 zu helfen beziehungsweise diese mit seinem Rücken zu stützen. Er steht damit sowohl inner- wie außerhalb dieses ernsten Spiels, darf zuweilen auch die Tänzer parodieren und muss am Ende das Geld aufsammeln. Fünf seiner sieben Funktionen sind helfender oder dienender Natur, nur die Parodie ist kreativ, und die Wiedererweckung zeugt von einer spezifischen Verbindung des Narren zum Totenreich oder einer ‚anderen‘ Welt. Diese Verbindung bleibt dem Zanni, Pulcinella und Arlequin der frühen Commedia all’improvviso sowie dem „Harlequin Commedien Italien“ der Histoire plaisante erhalten, wird aber dem Hanswurst und anderen ‚lustigen Figuren‘ im 17. Jahrhundert zunehmend ausgetrieben (Kap. 3.3, Seite 158).

Wilder Mann, Wildleute. Im 13. Jahrhundert bilden sich bestimmte Attribute heraus, die den Bildtypus des Narren in unmittelbare Nähe zu den Wildleuten und den Wildleutespielen rücken. Der Narr trägt zuerst langes Haar und eine Keule, ist spärlich bekleidet oder nackt; erst später wird er kahlköpfig dargestellt, trägt weiterhin die Keule und ein rundes, kugelartiges Brot; die letzte Spur der Keule wird schließlich die [<< 106] Pritsche des Kaspars sein.53 Wenn Narr und Wilder Mann sich auf vielen Bildzeugnissen kaum unterscheiden54, so legt diese äußere Verwandtschaft einen Blick auf die Wildleute nahe, deren Randständigkeit einen Zivilisationsunterschied widerspiegelt, der in der Festkultur ausagiert wird. Karl VI. ließ im Jahre 1393 anlässlich der Hochzeit einer Dame der Königin einen Wildleutetanz veranstalten:

„Am Tage der Hochzeit, der der Dienstag vor Lichtmess war, am Abend, ließ er sechs Kleider aus Leinen holen und in einem Zimmer abseits unterbringen; dann ließ er die Kleider anschmücken, nach Form und Farbe von Haaren […] und als alle die Kleider angelegt hatten, die wie angegossen passten, und als sie in diesen Kleidern eingeschlossen waren, schienen sie wilde Männer zu sein, weil sie vom Kopf bis zu den Fußspitzen ganz mit Fell bedeckt waren.“55

Der König selber nahm teil, gestikulierte und tanzte mit seiner Keule wie die anderen Wilden, bis sein Bruder, Louis von Orléans, angetrunken hinzukam, mit einer Fackel in der Hand. Entweder aus Versehen oder aber aus Spaß berührte er mit der Fackel eines der Kostüme, und sofort standen alle Tänzer in Flammen. Panik brach aus. Vier Maskenträger starben in den Flammen. Der König wurde durch die 15-jährige Duchesse von Berry gerettet, die mit dem Ruf „Rettet den König!“ sich und ihren Mantel über den Maskierten warf, um die Flammen zu ersticken.56 Im 14. und 15. Jahrhundert gehören Wilder-Mann-Spiele und -Tänze zum Festprogramm der meisten europäischen Höfe, doch es sind in der Festkultur auch ländliche und städtische Varianten bekannt.

Hans-Ulrich Roller nennt volkstümliche Wildleutespiele, in denen der Wilde Mann, in Moos, Gras oder Laub gehüllt, sowohl Winter als auch Frühling verkörpert. Einmal jagt, fängt und tötet man ihn, das andere Mal wird er gefangen und im Dorf beim Heischegang umhergeführt. In einer dritten Variante erfolgen wiederholte Scheintötungen und Wiederbelebungen, aber beim Einzug ins Dorf wird er freudig begrüßt. In der Literatur ist der Wilde Mann der naturhafte, triebhafte „Gegenspieler des tugendhaften Ritters, oft in riesenhafter Gestalt, Herrscher des Waldes und [<< 107] Beherrscher der Tiere. Der Kampf des Ritters mit dem Wilden Mann, der die ritter­liche Dame fangen will oder schon geraubt hat, wird zum Symbol des inneren Kampfes, den der Ritter mit dem ‚Wilden Mann‘ in sich ausficht.“57 So etwa ließe sich seine Funktion in der literarischen Phase seiner Existenz bestimmen, die in Frankreich bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht. Ob dies aber tatsächlich die älteste Motivschicht ist, bedarf weiterer Forschung.58

Im 15. und 16. Jahrhundert vertritt der Wilde Mann ein ideales Naturleben. „Er tritt aus seiner Vereinzelung heraus und schließt sich mit seinen Artgenossen zusammen. Die Wilden Männer werden zahm, sie haben keine bösen, sinnlichen Gelüste mehr, sondern leben friedlich mit Frau und Kindern.“59 Behaarung, Fleckenkleid, Keule, aber auch Randständigkeit, Ambivalenz, Bedrohung und Bedrohtheit verbinden lose den Narren und die Wildleute. Sie sind Grenzgänger zur schriftlosen Vergangenheit und weisen zuweilen auf die Verkehrtheit der neuen Organisationsformen mensch­lichen Zusammenlebens hin.

Ohne noch die Problematik der Kinderbischofs- und Narrenfeste zu bemühen, sollte deutlich geworden sein, dass der Narr, der in seiner antik-christlichen Tradition in den mittelalterlichen geistlichen Spiele agiert und auch einer der Exponenten der Fastnachtsspiele ist, nicht mittels nur einer Traditionslinie erklärt werden kann. Es bedarf einer Suchbewegung in der Fläche, des Knüpfens eines Beziehungsnetzes, um die simple Ebene des Spaßmachers zu überwinden. Dies könnte sich theaterhistoriografisch lohnen, weil die Narrenfigur die beiden zentralen Bewegungsmomente von Theater verbindet. Sie nutzt das Wiedergeburtsmotiv für szenische Vorgänge der Verwandlung, Nachahmung und Darstellung des Naturzyklus. Die Narrenfigur nutzt aber auch das gänzlich sozial konnotierte Verkehrungsmotiv in dessen doppelter Erscheinungsweise, nämlich als Egalisierung (z. B. mit seinem Dienstherrn) oder in der Gegenhierarchie (z. B. Wiederbelebung im Schwerttanz). Verkehrung ist in Rede und Körpergebrauch das zentrale Wirkungsmittel des Narren. [<< 108]

 
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