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3. Juristische Qualifikation

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In vielen Fällen ergibt sich das Erfordernis juristischer Qualifikation für das Amt eines Verfassungsrichters implizit aus der regelmäßig geforderten und unter 4. dargestellten Mindestdauer richterlicher oder rechtsberuflicher Tätigkeit. Zum Teil – wie beispielsweise in Österreich[87], in Portugal[88] und in Ungarn[89] – wird das Erfordernis des Abschlusses eines juristischen Studiums ausdrücklich normiert. In Polen müssen die Verfassungsrichter „distinguished by their knowledge of law“ sein.[90] Hinzuweisen ist auf jene Staaten, in denen keinerlei juristische Ausbildung gefordert wird: Dies trifft beispielsweise auf Frankreich und auf die Schweiz zu,[91] wobei als Richter des Schweizerischen Bundesgerichts aber regelmäßig Personen mit (wenn auch möglicherweise nicht formaler) juristischer Bildung bestellt werden.[92] Auch im Conseil constitutionnel sind die rechtskundigen Mitglieder in der Mehrheit. Dabei ist für Frankreich die universitäre Bildung in den politischen Wissenschaften (sciences politiques) eine Qualifikation, die für zahlreiche öffentliche Ämter als Alternative zu den juristischen Studien als hinreichend gilt.[93]

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Dagegen bildet im Falle Belgiens nur für die Hälfte der Richter eine rechtsberufliche Tätigkeit (und demgemäß eine juristische Qualifikation) eine Ernennungsvoraussetzung; für die andere Hälfte ist eine mindestens fünfjährige Mitgliedschaft zu einem parlamentarischen Organ auf Bundes-, Gemeinschafts- oder Regionalebene ausreichend.

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Insgesamt zeigt sich, dass die Voraussetzung juristischer Qualifikation für das Amt eines Verfassungsrichters regelmäßig de jure vorgesehen ist und auch in den wenigen Ausnahmefällen de facto weit überwiegend Juristen als Verfassungsrichter bestellt werden. Eine Bestellung von Personen, deren formale Bildung sich auf eine Schulausbildung beschränkt, erscheint heute undenkbar.

4. Mindestdauer richterlicher oder rechtsberuflicher Tätigkeit vor der Ernennung

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Regelmäßig wird die Bestellung von Richtern nationaler Verfassungsgerichte an ein gewisses Mindestmaß an juristischer Berufserfahrung vor der Ernennung geknüpft. Auffällig ist dabei, dass mitunter zwischen den einzelnen Berufsgruppen im Hinblick auf die geforderte Dauer der Tätigkeit differenziert wird: So wird bei Personen, die bereits vor ihrer Bestellung zum Verfassungsrichter ein richterliches Amt ausgeübt haben, zum Teil keine Mindestdauer dieser Tätigkeit festgelegt. Ein Beispiel hierfür ist die Bestellung zum Richter an den italienischen Corte costituzionale: Als Richter an einem der obersten ordentlichen Gerichte bzw. Verwaltungsgerichte kann man auch ohne bestimmte Mindestdauer dieser Tätigkeit als Richter am Corte costituzionale bestellt werden; demgegenüber wird für Rechtsanwälte eine zwanzigjährige Berufserfahrung gefordert.[94] Sehr ähnlich ist die Situation für zu bestellende Richter am Supreme Court des Vereinigten Königreiches, wo die Kandidaten aus dem Richterkreis lediglich zwei Jahre ein hohes Richteramt ausgeübt haben müssen, jedoch von „praktizierenden Juristen“ (gemeint sind im Wesentlichen Anwälte) eine fünfzehnjährige Berufserfahrung gefordert wird.[95] Eine ähnliche Privilegierung findet sich auch bei Wissenschaftlern, deren berufliche Stellung regelmäßig vom Erfordernis einer gewissen Mindestdauer einer juristischen Tätigkeit dispensiert, wobei zu veranschlagen ist, dass regelmäßig – wie beispielsweise in Italien[96] oder Ungarn[97] – eine Professur an einer Universität gefordert ist und eine solche zumindest einige Jahre einschlägiger Berufserfahrung voraussetzt. In den meisten anderen Fällen wird eine juristische Berufserfahrung von – wie in Österreich[98] oder in Polen[99] – mindestens zehn Jahren bis hin zu – wie in Ungarn[100] – 20 Jahren verlangt. Auch hier bestätigen zwei Ausnahmen die Regel: Wo keine juristische Berufsausbildung für das Amt eines Verfassungsrichters gefordert wird, kommt auch eine Mindestdauer juristischer Berufserfahrung naturgemäß nicht in Frage – Beispiele hierfür sind Frankreich und die Schweiz. In Spanien wird demgegenüber einheitlich für Richter, Staatsanwälte, Universitätsprofessoren, Staatsbeamte und Rechtsanwälte eine fünfzehnjährige Berufserfahrung gefordert.[101]

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Insgesamt kann man im Hinblick auf die Mindestdauer richterlicher oder rechtsberuflicher Tätigkeit von einer Zweiteilung sprechen: Personen, welche entweder ein richterliches Amt ausgeübt oder den Endpunkt einer akademischen Karriere erreicht haben, werden von diesem Erfordernis in großem Umfang dispensiert. Praktiker haben demgegenüber regelmäßig eine nicht unbeträchtliche Berufserfahrung nachzuweisen.

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In manchen Staaten ist ein Berufsgruppenproporz gegeben, und zwar entweder kraft ausdrücklicher (verfassungs-)gesetzlicher Anordnung oder informeller Natur. Am weitesten geht die Regelung in Belgien, die bei den juristisch ausgebildeten Richtern nicht nur eine mindestens fünfjährige Praxis in einer von vier bestimmten Gruppen von Ämtern fordert,[102] sondern zusätzlich verlangt, dass mindestens einer der Verfassungsrichter diese Praxis als Professor der Rechte und mindestens einer der Verfassungsrichter diese Praxis als Referent des Verfassungsgerichts[103] zurückgelegt hat.[104] Faktisch bedeutet dies, dass Personen aus diesen Berufsgruppen an das Verfassungsgericht berufen werden.

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Weniger ausdrücklich sind die Regelungen in Deutschland und in Österreich. In Deutschland, wo der Kreis der möglichen Verfassungsrichter in der Verfassung mit „Bundesrichtern und anderen Mitgliedern“ umschrieben wird,[105] sind je drei Mitglieder der beiden Senate aus dem Kreis der Richter an den obersten Gerichten des Bundes zu wählen, wobei eine mindestens dreijährige Tätigkeit an einem solchen Gericht vorliegen soll.[106] Darüber hinaus wird informell auf eine Balance zwischen Richtern und Professoren geachtet.

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In Österreich ist nur für jene Hälfte der Richter (zuzüglich des Präsidenten sowie des Vizepräsidenten), die von der Bundesregierung vorgeschlagen werden, eine Begrenzung auf den Kreis der Professoren, Richter und Verwaltungsbeamten vorgesehen.[107] Bei den auf Vorschlag der beiden Kammern des Parlaments vorgeschlagenen Richter wird regelmäßig auf einen bestimmten Anteil von Rechtsanwälten geachtet.

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In einigen Staaten kommt in den Rechtsvorschriften mehr oder weniger deutlich die Erwartung zum Ausdruck, dass Richter von Höchstgerichten als Verfassungsrichter ernannt werden sollen. Neben der genannten deutschen Regelung ist hier Großbritannien zu nennen, wo auf die mindestens zweijährige Ausübung eines hohen Richteramtes abgestellt wird.[108] In Polen müssen die Verfassungsrichter jene Voraussetzungen erfüllen, die auch für Richter des Obersten Gerichtshofes bzw. des Verwaltungsgerichtshofes vorgesehen sind.[109]

5. Ethisch-moralische Standards

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Ausdrücklich festgelegte ethisch-moralische Standards an die zu bestellenden Verfassungsrichter sind zum Teil implizit festgelegt. So wird beispielweise in Frankreich[110] und in Portugal[111] gefordert, dass die Verfassungsrichter im Besitz der bürgerlichen und politischen Rechte sein müssen. Diese Rechte gehen regelmäßig aufgrund bestimmter strafgerichtlicher Verurteilungen verloren. Explizit wird in Ungarn vom Amt eines Verfassungsrichters ausgeschlossen, wer strafgerichtlich verurteilt wurde.[112] Darüber hinausgehend und auf weichere Kriterien stellt beispielsweise Art. 147 Abs. 3 der bulgarischen Verfassung ab, wonach zum Richter des bulgarischen Verfassungsgerichts nur bestellt werden darf, wer als „moralisch integer“ gilt. In der Tschechischen Republik wird ein „einwandfreier Charakter“[113], in Litauen ein „makelloser Ruf“[114] verlangt während in Polen Verfassungsrichter schlicht „integre Personen“ sein müssen.[115] Ein bekanntes Beispiel bietet auch die in Art. 21 EMRK festgelegte Voraussetzung des „hohen sittlichen Ansehens“ für Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

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Insgesamt zeigt sich, dass ethisch-moralische Standards nicht flächendeckend als normierte Voraussetzung für das Amt eines Verfassungsrichters vorgesehen sind. Dabei ist aber zu bedenken, dass eine derartige Anforderung für den Antritt eines öffentlichen Amtes generell selten ausdrücklich festgelegt, sondern eher bei der konkreten Bestellung im Auswahlprozess mitbedacht wird. Im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen „harten“ Bestellungskriterien liegt es auch auf der Hand, dass Begriffe, welche ethisch-moralische Standards festlegen, nur schwer justiziabel sind und daher wohl eher vermieden werden.

IV. Rückwirkungen der Ausgestaltung des Amtes auf die Bestellung der Richter

1. Attraktivität des Amtes als Folge von Prestige und materieller Ausstattung

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Das Amt des Verfassungsrichters ist in den meisten Staaten mit hohem Prestige ausgestattet. Stufungen sind durch die Geschichte des Landes und des Verfassungsgerichts, endlich auch mit dem Umfang seiner Kompetenzen bestimmt. Nicht nur über das Land hinausreichend, sondern auch in Deutschland selbst kommt dem Bundesverfassungsgericht eine herausgehobene Stellung im Ansehen und in der Bedeutung zu.

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Zwei Beobachtungen machen dabei deutlich, dass dies von der materiellen Seite abgekoppelt ist und die Anziehungskraft für hervorragende Juristen in der Gerichtsbarkeit sowie an Universitäten nicht primär von materiellen Faktoren bestimmt ist. Zum einen gibt es in materieller Hinsicht deutlich besser ausgestattete Verfassungsgerichte und Verfassungsrichter mit geringerem Einfluss. Zum anderen zeigt sich, dass die Tätigkeit an einem europäischen Gerichtshof für Verfassungsrichter in manchen Staaten nicht attraktiv scheint, solange sie am Verfassungsgericht im Amt sind, obwohl die materiellen Bedingungen an diesen Gerichtshöfen in aller Regel über jenen des Mitgliedstaates liegen.

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Eine Rolle für die Attraktivität des Amtes spielen jenseits materieller Faktoren aber auch Gesichtspunkte wie die politische und mediale Zuspitzung der Debatte um Kandidaten im Auswahlprozess, die Amtsdauer und die Zulässigkeit von Nebentätigkeiten oder die Perspektiven der Berufstätigkeit am Ende der Amtszeit. Ein ungewisser Auswahlprozess, kurze Amtsdauer und die Unmöglichkeit in den Ausgangsberuf oder in einen attraktiveren anderen Beruf zurück zu kehren kann hier hindernd sein für ein großes Angebot an Kandidaten. Mit diesem Problem sind gegenwärtig vor allem die europäischen Gerichtshöfe konfrontiert.

2. Unvereinbarkeit mit anderen Ämtern oder politischer Tätigkeit

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Zum Zweck der Sicherung der Unabhängigkeit ist praktisch in allen europäischen Staaten mit Verfassungsgerichtsbarkeit die Inkompatibilität des Amtes eines Verfassungsrichters mit anderen Tätigkeiten vorgesehen. Auch Unvereinbarkeiten bestimmen die Auswahl der Richter, weil sie auf den Auswahlprozess insoweit vorwirken, als bestimmte Personen angesichts von Unvereinbarkeiten nicht in Betracht kommen oder nicht interessiert sind. Hierbei kann man zwei Kategorien unterscheiden:

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Betrachtet man die Unvereinbarkeitstatbestände näher, so zeigt sich zunächst, dass durchgängig ein Verbot besteht, das Amt eines Verfassungsrichters gleichzeitig mit einem anderen öffentlichen Amt auszuüben. Dies ist beispielsweise in Deutschland,[116] Frankreich,[117] Italien,[118] Österreich,[119] Portugal,[120] der Schweiz,[121] Spanien[122] und Ungarn[123] der Fall, wobei zum Teil auf öffentliche Ämter insgesamt abgestellt wird,[124] zum Teil die inkompatiblen Ämter aufgezählt werden.[125]

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Ebenso weitreichende Beschränkungen finden sich im Hinblick auf politische Funktionen und Tätigkeiten: Stellvertretend sei das portugiesische Beispiel erwähnt, wonach Verfassungsrichter keine Aufgaben in Parteiorganen, politischen Verbänden oder Stiftungen, die mit ihnen verbunden sind, wahrnehmen dürfen; sie dürfen auch nicht an (partei-)politischen Aktivitäten öffentlicher Art beteiligt sein.[126] Mitunter wird auch die privatwirtschaftliche Tätigkeit von Verfassungsrichtern beschränkt: So dürfen beispielsweise ungarische Verfassungsrichter grundsätzlich überhaupt keiner auf Gewinn ausgerichteten wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen.[127] Jedoch wird – ebenso wie bei vielen anderen Verfassungsgerichten – die Nebentätigkeit als Hochschullehrer von diesen Verboten ausgenommen.[128]

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Insgesamt zeigt sich, dass das Amt des Verfassungsrichters zunehmend als exklusive berufliche Tätigkeit verstanden wird, deren Unabhängigkeit es verlangt, dass der jeweilige Richter andere öffentliche oder zum Teil auch privatwirtschaftliche Funktionen zurücklegt. Während dieses Prinzip bei öffentlichen Ämtern nahezu nahtlos durchgehalten wird, werden privatwirtschaftliche Tätigkeiten in weiterem Rahmen zugelassen. Fast schon europäischer Standard ist die Privilegierung der Tätigkeit als Hochschullehrer.

3. Kultur der Bestellung und Distanz zur Politik

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Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Bestellung von Verfassungsrichtern bilden nur einen Teil der Bedingungen. Die faktische Auswahl wird daneben stark mitbestimmt von der Verfassungskultur des Landes. Soweit qualifizierte Quoren verfassungsrechtlich vorgegeben werden, wird der Zwang zum Kompromiss in der Verfassung unmittelbar deutlich. Aber auch darüber hinaus gehend lässt sich in vielen Staaten beobachten, dass in der Tendenz keine Richter bestellt werden, die konsequente Parteigänger sind oder extreme Positionen vertreten. In Österreich hielt sich auch in Zeiten der Alleinregierung einer großen Partei die Übung, der größten Oppositionspartei einen maßgeblichen Einfluss auf die Bestellung einer bestimmten Zahl von Richtern zu lassen.[129]

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Dem stehen jedoch Beispiele gegenüber, in denen es im Gefolge des Wechsels von Mehrheiten im Parlament zu Konflikten um die Wahl von Richtern kommt, die im Ergebnis auch zu echten Verfassungskrisen führen konnten. Das jüngste und wohl negativste Beispiel in der jüngeren Geschichte Europas sind die Richterwahlen rund um die Parlamentswahl vom Oktober 2015 in Polen.[130] Anlassbezogene Änderungen der Regelungen des Gesetzes vor der Wahl (durch die alte Mehrheit) und nach der Wahl (durch die neue Mehrheit) haben zur Wahl einer Zahl von Richtern geführt, die über jene hinausging, die in der Verfassung vorgesehen war.

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Auch in Ungarn war in den Jahren 2011/12 zu beobachten, dass die Parlamentsmehrheit die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts und in der Folge die Mehrheitsverhältnisse bereits kurzfristig dadurch beeinflusste, dass eine Erhöhung der Zahl der Richter von elf auf 15 Richter vorgesehen wurde.

V. Die Zusammensetzung des Gerichts

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Ein vergleichender Blick auf die tatsächliche Zusammensetzung der Verfassungsgerichte fördert einige interessante Einsichten zutage, die in der Untersuchung bloß der verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht deutlich werden.

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Ein gemeinsames Merkmal der Zusammensetzung einer Reihe von Verfassungsgerichten ist die Mitgliedschaft einer größeren Anzahl von Professoren. In Deutschland, Italien, Polen, Portugal, Spanien und in Ungarn bilden sie die am stärksten vertretene Berufsgruppe, in fast allen dieser Fälle sind sie sogar in der (absoluten) Mehrheit. Dagegen sind Verfassungsrichter in Österreich und in Belgien nur etwa zu einem Drittel Professoren, in beiden Staaten sind ehemalige Beamte aus verschiedenen Bereichen der Verwaltung am stärksten vertreten, wiewohl nicht wenige von diesen Lehrtätigkeiten an Universitäten entfalten. Noch stärker sind Vertreter aus dem Bereich der öffentlichen Verwaltung einschließlich der Politik in Frankreich vertreten. Der Conseil constitutionnel weist dafür kaum Professoren und Richter als Mitglieder aus.

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Der Anteil von (ehemaligen) Berufsrichtern aus der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit ist in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich.[131] Am größten ist der Anteil in Deutschland, Italien, Spanien und in Portugal, dort machen sie gemeinsam mit den Professoren nahezu alle Richter aus. Dagegen finden sich in Ungarn lediglich drei, in Polen zwei Berufsrichter. Im österreichischen Verfassungsgericht ist derzeit gar kein Berufsrichter vertreten.

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Fast in jedem Gericht finden sich einige wenige ehemalige Politiker, am stärksten ist dieser Anteil in Frankreich und in Belgien, die prominentesten ehemaligen Politiker sind mit ehemaligen Ministern und Ministerpräsidenten auf Landesebene in Deutschland, auf zentraler Ebene in Frankreich anzutreffen.

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In mehreren Verfassungsgerichten finden sich unter den Richtern auch (ehemalige) Rechtsanwälte. In Österreich ist dieser Anteil mit knapp einem Viertel am höchsten; dies ist wohl dem Umstand geschuldet, dass hier die Mitgliedschaft im Verfassungsgericht die Fortsetzung der Tätigkeit als Rechtsanwalt nicht ausschließt, weil das Amt des Verfassungsrichters formal immer noch ein Nebenamt ist.

VI. Europarechtliche Anforderungen und Rahmenbedingungen

1. Europäische Menschenrechtskonvention EMRK (Art. 6 EMRK, Art. 34 EMRK)

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Die EMRK enthält verschiedene Berührungspunkte mit der Verfassungsgerichtsbarkeit. Im Wesentlichen besteht die Anknüpfung darin, dass die EMRK von einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit sowohl in ihren Einzelgarantien (Art. 6, 13) als auch im Verfahrensrecht (insbes. Art. 34) ausgeht.

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Es ist heute unbestritten, dass die Garantie des fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit gilt, und zwar unter bestimmten Voraussetzungen auch im Normenkontrollverfahren.[132] Damit ist das Erfordernis verbunden, dass das Gericht unabhängig und unparteilich ist. Die Erfüllung dieser Kriterien wird maßgeblich durch das Verfahren der Bestellung und die Garantien für die Richter bestimmt.[133] Die Zuständigkeiten von Parlament, Regierung und Staatsoberhaupt beeinträchtigen für sich genommen die Unabhängigkeit nicht, solange hinreichende Garantien gegen die Abberufung bestehen und die Amtsdauer ein Mindestmaß überschreitet. Zwar ist bei den meisten Verfassungsgerichten eine kürzere Amtsdauer als bei Berufsrichtern in der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehen. Die von der EMRK geforderte Mindestdauer der Bestellung wird jedoch in allen Verfassungsgerichten überschritten. Am unteren Rand befinden sich unter diesem Gesichtspunkt der Staatsgerichtshof in Liechtenstein mit einer Amtsdauer von fünf Jahren und der Gerichtshof der Europäischen Union mit sechs Jahren. Zu Lasten der Unabhängigkeit fällt in beiden Fällen ins Gewicht, dass eine (auch mehrfache) Wiederwahl möglich ist. Dennoch besteht kein Zweifel, dass beide Gerichte den Anforderungen des Art. 6 EMRK in organisatorischer Hinsicht genügen. Demgegenüber wurde für den EGMR mit dem 14. Protokoll eine neunjährige Amtsdauer ohne Möglichkeit der Wiederwahl eingeführt. Von diesem Standard gehen auch die meisten Verfassungen für die jeweiligen Verfassungsgerichte aus.

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Auch durch Art. 13 EMRK ist ein Mindestmaß an Unabhängigkeit der Beschwerdeinstanz gefordert,[134] das allerdings nicht über die Anforderungen des Art. 6 EMRK hinausgeht, vielmehr allgemeiner formuliert ist. Die Verfassungsbeschwerde erfüllt in vielen Fällen die Funktion, effektiven Rechtsschutz i.S.d. Art. 13 EMRK zu erfüllen.[135]

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Mit Art. 13 EMRK steht die Zulässigkeitsvoraussetzung der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges nach Art. 35 EMRK in engem Zusammenhang. Nur eine effektive Verfassungsgerichtsbarkeit gehört zu den innerstaatlichen Instanzen, die vor der Erhebung einer Indvidualbeschwerde nach Art. 34 EMRK anzurufen sind.[136] Wird ein Verfassungsgericht durch die Umstände der Bestellung seiner Richter oder die Ausgestaltung des Amtes in einer Weise in seiner Unabhängigkeit beeinträchtigt, dass Rechtsbehelfe an dieses nicht mehr als effektiv angesehen werden können, müsste die Prozesseinrede der Nichterschöpfung des Rechtsweges scheitern. Umgekehrt kann die Beschwerdefrist von sechs Monaten versäumt werden, wenn ein Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde an ein nicht unabhängiges und effektives Verfassungsgericht erhoben hat.