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Am nächsten Morgen setze ich mich im Bett auf. Ich fühle mich schwer und benommen. Habe ich tief genug geschlafen? Lange genug? Habe ich überhaupt geschlafen? Mit den Jahren bin ich zu einem Experten geworden und kann mein Schlafverhalten beobachten und Diagnosen stellen. Und wie auch bei allen anderen Fachidioten: Je tiefer man gräbt, desto ausschweifender und unverständlicher werden die Antworten. Es ist schon lange her, dass ich auf die Frage Hast du gut geschlafen? ehrlich geantwortet habe. Ich habe mir angewöhnt, einfach nur zu nicken und Ganz okay! zu antworten. Die Frage ist eine Höflichkeitsphrase, niemand möchte eine ausführliche Antwort hören.

Was das Tagesgeschäft betrifft, weiß ich so ungefähr, was auf mich zukommt, aber über die Nächte habe ich keine Kontrolle. Ich weiß nie, was da auf mich zukommt, und in der Regel weiß ich auch hinterher nicht, wie es war. Der Schlaf kommt oder er kommt auch nicht. Ich kann eine ganze Nacht durchschlafen oder auch eine ganze Nacht lang nur wach liegen und die Decke anstarren. Ich kann die halbe Nacht wach liegen und die zweite Hälfte in Tiefschlaf fallen. Ich kann mich um drei Uhr nachts hinlegen und um halb fünf meinen Tag beginnen. Ich kann acht Stunden in einer Art bewusstlosen Dämmerzustandes zubringen, ohne in den Tiefschlaf zu kommen. Ich kann mich vom Bett aufs erste Sofa, von dort aufs zweite Sofa und dann auf den Fußboden vor den Fernseher und wieder zurück ins Bett bewegt haben. Ich kann mir drei Filme hintereinander angeschaut haben. In einigen Nächten finde ich Schlaf, in anderen nicht. Wo auch immer sich der Schlaf hinbewegt, ich versuche, ihm auf den Fersen zu bleiben.

Nachts kann alles Mögliche passieren, und das Einzige, was ich machen kann, ist, in mich hineinzuhorchen und Worte zu finden.

Aber jetzt bin ich unsicher.

Ich höre Line und die Kinder im Obergeschoss miteinander reden. Als Letzter aufzuwachen ist ungewohnt. Ich dusche und ziehe mich an, und wie ich so aus der Nacht auftauche und über die Schwelle in den Tag trete, merke ich, dass mit mir etwas nicht stimmt. Sind das die Nachwirkungen der Tablette? Ich muss irgendwie weggetreten gewesen sein, aber es fühlt sich nicht an, als ob ich geschlafen hätte. Ich bin nicht müde, aber ich habe auch nicht das Gefühl, erholt zu sein, wie sonst nach einer guten Nacht. Als ich ins Obergeschoss gehe, rufen die Kinder fröhlich nach mir, aber Lächeln geht nicht.

»Morgen!«, sagt Line.

»Morgen!«, erwidere ich.

Das erste Wort des Tages, der erste Austausch mit einem anderen Menschen – manchmal ist das, wie eine vollgekramte Rumpelkammer zu öffnen. An manchen Tagen bleibt das Gerümpel da, wo es ist, an anderen fällt dir alles entgegen. An jenem Morgen verstehe ich, dass ich mich zurückhalten muss; ich habe nichts Gutes beizutragen. Einfach nur durchhalten, sage ich mir. In einer Dreiviertelstunde sind die Kinder im Kindergarten und ich bin auf Arbeit. Meine Arbeit gibt mir den Abstand, den ich brauche: Abstand zu anderen Leuten, aber auch zu mir selbst. Hier zu Hause, mit unseren zwei kleinen Kindern, starrt mir das Leben mitten ins Gesicht; es gibt keinen Abstand, ich kann mich nirgendwo verstecken.

Wir machen uns fertig. Jacken und Schuhe müssen zusammengesucht werden, Trinkflaschen und Regensachen dürfen wir nicht vergessen, wir müssen uns anziehen. Das ist eine Situation, in der ich oft schnell ungeduldig werde, aber an diesem Morgen ist es noch schlimmer als sonst: Ich beginne zu schwitzen, dann beginnt es zu jucken. Mein Brustkorb wird eng, ich bekomme keine Luft. Der Flur mit all den Leuten und Klamotten und Schuhen wird für mich zu einem Käfig. Ich muss einfach raus hier.

»Aber ich will keine Jeans anziehen«, jammert unsere Fünfjährige, als ich ihr die Hose überziehen will. Ich merke, wie es in mir brodelt.

»Keine Widerrede!«

»Ich will aber nicht!«

Ich halte sie fest. »Das ist mir egal!«

»Anders!«, warnt mich Line.

Als wir nach draußen und auf die Treppe treten, packe ich unseren Zweijährigen, der nicht über die Türschwelle will.

»Komm schon!«

Er schüttelt den Kopf.

»Verdammt noch mal!«, knurre ich ihn an und zerre ihn ins Tageslicht. »Komm schon!«

Er schaut mich erstaunt an und sagt einfach nur: »Papa!«

»Jetzt reiß dich einfach mal zusammen!« Line schaut mich streng an und hält meinem Blick stand.

Mir ist heiß, der Schweiß läuft mir den Rücken runter und meine Kopfhaut juckt. Wenn ich jetzt wütend werde, ist alles aus, das weiß ich. Aber ich will mich nicht zusammenreißen, ich will mich nicht beherrschen. Wenn die Kinder denn den ganzen Weg über bocken wollen und Line streiten muss – bitte schön! Ich bin bereit.

Jetzt hält Line inne und es sieht aus, als habe sie plötzlich jemand Fremden vor sich.

»Was ist denn los mit dir?«, fragt sie. »Hast du irgendwelche Dr.-Evil-Pillen genommen, oder was?«

Ich schaue in die Gesichter unserer Kinder: Die Fünfjährige schaut mich an, als ob ich nicht ganz dicht sei. Das Gesicht des Zweijährigen ist rot und verweint. Ich nehme ihn auf den Arm und versuche zu trösten, aber er streckt die Arme nach seiner Mutter aus und entgleitet mir.

Zwanzig Minuten später, nachdem ich die anderen abgesetzt habe, sitze ich im Auto und heule. Mein Gesicht fühlt sich an wie eine Maske; die Tränen, die darüberrollen, spüre ich nicht. Ich fühle mich kraftlos, schwer und unter Medikamenteneinfluss. Mein Mund ist trocken, auf der Zunge spüre ich einen anhaltenden metallischen Geschmack.

Es spielt keine Rolle, ob diese Tabletten Schlaflosigkeit oder Trostlosigkeit kurieren sollen, sie wirken jedenfalls nicht.

Eine Woche später stehe ich wieder vor dem Spiegel in der Patiententoilette meines Arztes. Ich beuge mich über das Waschbecken und näher an den Spiegel. Meine Augen glänzen, als ob ich unter Drogen wäre oder Fieber hätte. Ich friere und schwitze abwechselnd, meine Muskeln und Gelenke tun mir weh. Jedes Mal, wenn das Kind im Wartezimmer seinen Spielzeug-Lkw gegen den Kindertisch knallt, zucke ich zusammen. Nicht das Schlafmittel verursacht solche Symptome, es ist vielmehr die natürliche Reaktion meines Körpers auf den Schlafentzug. Am Abend zuvor war ich früh eingeschlafen, doch um 1 Uhr nachts schon wieder aufgewacht und konnte dann nicht mehr einschlafen. Erst als es dämmerte, bin ich auf dem Sofa eingeschlummert. In der Nacht davor war es genauso schlimm.

Ob es an der einen Nacht mit dem Schlafmittel lag, die diese neue schlimme Phase eingeleitet hat, weiß ich nicht. Das spielt auch keine Rolle. Das geht jetzt schon seit sechzehn Jahren so. Sechzehn Jahre machen 5.840 Nächte. Wenn man von täglichen sieben Stunden Schlaf ausgeht, wären das 40.880 Stunden, die ich eigentlich schlafend verbracht haben sollte.

So viele Stunden, in denen ich wach gelegen habe. So viele verlorene Stunden!

Ich gehe wieder ins Wartezimmer, setze mich, nehme ein nicht mehr aktuelles Frauenmagazin in die Hand und sehe, wie meine Hände, die die glänzenden Seiten halten, zittern. Ein fast unmerkliches Zittern. Das habe ich bisher noch nie bemerkt. Hat der Verfall schon eingesetzt? Liegt das am Alter oder an all dem Schlafmangel der letzten Jahre? Stand da in dem Artikel nicht etwas über eine 40 % höhere Wahrscheinlichkeit, Krebs zu bekommen? Oder über 40 %? An einigen Abenden schien mir, als hätte ich Herzrasen. Was war das? Mein Gott, wie konnte ich das nur all die Jahre hinnehmen, ohne etwas zu unternehmen? Ich muss eine Lösung finden. Es geht ja nicht nur um meine eigene Gesundheit oder mein Leben; ich habe eine Familie, die mich braucht, für die ich noch viele Jahre gesund, stark und ausgeruht sein will. Ist es die Angst oder die Hoffnung, die mich hergetrieben haben? Gibt es das eine nie ohne das andere?

Ich werde aufgerufen und schlurfe ins Sprechzimmer.

»Wie lief’s?«, fragt der Arzt.

»Für mich keine Tabletten mehr«, sage ich. »Was kann ich noch machen, um schlafen zu können?«

1 Walker, Matthew. Hvorfor vi sover. Übs. John Grande. Oslo: Forlaget Press 2017, S. 323. Alle Zitate im vorliegenden Buch beziehen sich auf die norwegische Ausgabe. Auf Deutsch ist es unter dem Titel Das große Buch vom Schlaf 2018 bei Goldmann erschienen.

2 Walker, S. 328.

3 Pallesen, Ståle [u. a.]. A 10-year trend of insomnia prevalence in the adult Norwegian population. In: Sleep Medicine. Rochester: 2014, S. 173–179.

4 Bjorvatn, Bjørn. Bedre søvn. 2. Aufl. Oslo: Fagbokforlaget 2015, S. 31.

5 Walker, S. 72.

6 Fougea, Frédéric und Guiot, Jérôme. Premier Homme. Französischer Dokumentarfilm. Paris: 2017.

7 Skard Heier, Mona und Wolland, Anne M. Søvn og søvnforstyrrelser. Oslo: Cappelen Akademisk Forlag 2005, S. 34.

8 In der römischen Mythologie heißt der Gott des Schlafes Somnus.

MAI. SO SCHLÄFT MAN BESSER.

Über Kräuter, Selbsthilfebücher, Meditation, Psychiatrie, Hypnose, Kaffee, Yoga, Selbstbefriedigung und andere gute Ratschläge. Und wie man eine Katze auf seinen Schoß lockt, was eigentlich Träume sind, einen vier Milliarden alten Rhythmus oder wie die Verzweiflung einen alles zweimal ausprobieren lässt.

1

Alles muss man einmal probiert haben. In der Mittagspause fahre ich zur Apotheke, dieses Mal zu einer anderen. Ich will nicht wiedererkannt werden, will nicht als noch verzweifelter dastehen, als ich es ohnehin schon bin, was mich wiederum noch verzweifelter werden lässt. Warum soll man mir meine Verzweiflung eigentlich nicht anmerken können? Ich will ja niemanden vergiften, ich will einfach nur schlafen können. Ich suche nach dem Regal mit rezeptfreien Schlafmitteln. Wo sortiert man den Schlaf ein? Gehört der zu »Schmerzmitteln« oder »Ernährung«? Zum Schluss frage ich die Apothekerin, sie zeigt mir das Regal mit Nahrungsergänzungsmitteln, das auch eine Handvoll Mittel gegen Schlafstörungen enthält: die norwegischen Lifeline Care-Schlafkapseln, die »zur Entspannung, schnellerem Einschlafen und besserer Schlafqualität« beitragen können, Valerina-Tabletten, das heißt Baldrian »für die Linderung von leichten Unruhezuständen und Schlafstörungen« und Pascoflair, bei dem der Beipackzettel hinter dem grünen Aufkleber »Neu!« steckt. Ganz links steht noch eine lila-weiße Schachtel Sedix: »Zur Linderung leichter Symptome von Unruhe und für die Unterstützung der Einschlafphase. Für Erwachsene und Kinder ab 12 Jahren. Pflanzliches Schlafmittel«. Vor dieser letzten Reihe mit Tablettenschachteln klebt ein blaues Schildchen: Bekannt aus der Fernsehwerbung! – Dafür hätte man im Fernsehen Reklame gemacht, erklärt die Apothekerin. »Sie wissen schon, für rezeptfreie Medikamente kann man Reklame machen, für rezeptpflichtige wie Schlaftabletten nicht. Das ist Sache der Ärzte. Jedes Mal, nachdem im Fernsehen eine Reklame gelaufen ist, kommen viele Kunden an und fragen danach.«

»Kaufen viele Leute solche Produkte, also ich meine diese rezeptfreien Schlafmittel?«

»Ja, viele. Sedix wird aber nicht mehr so viel gekauft«, sagt die Frau. »Vielleicht machen die keine Fernsehreklame mehr.«

»Was würden Sie empfehlen?«, frage ich und erzähle, dass ich seit sechzehn Jahren an Insomnie leide und normale Schlafmittel bei mir nicht mehr anschlagen.

Die Apothekerin ordnet die Stapel mit Schachteln. »Für keines dieser Produkte gibt es einen dokumentierten Effekt«, sagt sie.

Ich verstehe ihre Antwort nicht, muss also selbst entscheiden und nehme mir eine Schachtel Valerina Forte, ganz einfach wegen dem forte im Namen. Wenn ich denn schon von Antipsychotika auf pflanzliche Mittel umsteige, dann kann ich wenigstens das stärkste nehmen, was es auf dem Markt gibt.

Bei meinem letzten Arztbesuch hatte ich eine Überweisung für weitere Untersuchungen im Schlaflabor des Ullevål-Krankenhauses bekommen. Ich würde Geduld haben müssen, meinte der Arzt noch, die Warteliste wäre lang. Als ich aus der Arztpraxis kam, fühlte ich mich ermutigt: keine Tabletten mehr, aber eine Überweisung. Man würde mich genauer untersuchen, wir würden der Sache auf den Grund gehen.

Das Schlaflabor: Ich stelle mir vor, wie ich spätabends zum Krankenhaus komme, von Ärzten und Pflegern in grünen Kitteln in Empfang genommen werde, die mich auf eine Krankenbahre legen und mich in einen dunklen Raum voller riesiger Maschinen und Messinstrumente schieben. Eine Maske wird mir über Mund und Nase gelegt und an meinem Kopf und meiner Brust werden Sonden befestigt. So werde ich allein gelassen, stelle ich mir vor, und die Ärzte und Pfleger warten hinter einem großen Fenster – oder hinter so einem, das nur von einer Seite her durchsichtig ist, wie in den Polizeiserien im Fernsehen –, bis ich eingeschlafen bin. In meiner Fantasie sind wir mehrere, die unter grünen Laken auf Aluminiumbahren in einer Reihe daliegen, ähnlich den Leuten, die von irgendwelchen außerirdischen Wesen entführt worden sind. So dazuliegen, mit extrem teuren Messinstrumenten und einem Ärzteteam, das auch noch Nachtzuschlag bekommt und darauf wartet, dass ich einschlafe, hört sich an wie der ultimative Albtraum eines Schlaflosen. Ich muss schlafen können, damit die kostbaren Untersuchungsgeräte etwas untersuchen können.

Es ist Abend. Die Kinder schlafen und Line gähnt. Ich jedoch bin hellwach. In der Jackentasche draußen im Flur liegt die Schachtel mit dem pflanzlichen Schlafmittel, das ich gekauft habe. Ich bin unsicher, ob ich Line einweihen soll. Mir liegt daran, als ein Mensch aufzutreten, der funktioniert, besonders ihr gegenüber. Sie weiß ja alles über meine Schlafstörungen, spürt deren Auswirkungen am eigenen Leib. Ich kann ihr aber nicht zumuten, den ganzen Kampf mitanzusehen, das wird zu viel für uns beide. Andererseits war die letzte Tablettenrunde für die gesamte Familie beängstigend, und auch wenn das jetzt nur so etwas wie Placebos sind, werfe ich sie doch ein, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, sogar eine Forte-Wirkung.

Ich hole die Schachtel und zeige sie ihr. »Das sind nur Kräuter. Funktioniert bestimmt nicht, aber versuchen will ich’s«, sage ich.

»Valerina«, sagt Line. »Die hast du doch schon mal genommen!«

»Nein, die nicht.«

»Doch, hast du!«

»Wann denn?«

»Das ist schon lange her. Letztes Mal, als du alles Mögliche versucht hast.«

Letztes Mal, als ich alles Mögliche versucht habe? Warum kann ich mich nicht daran erinnern?

Als die Schlaftabletten damals keine Wirkung mehr zeigten, war ich, was das nächtliche Wachliegen betrifft, immer noch ein Amateur. Damals wusste ich es noch nicht, aber das war lediglich der Beginn meiner langen Karriere als Schlafloser. Ohne Tabletten, zu denen ich greifen konnte, wurde ich noch verzweifelter. Ich tat all die Sachen, von denen ich heute weiß, dass sie falsch sind: Ich ging früher ins Bett, in der Hoffnung, schlafen zu können. Ich lag die ganze Nacht wach und wartete auf den Schlaf. Lag morgens länger im Bett – oder am Nachmittag und an den Wochenenden –, um den verpassten Schlaf nachzuholen. Gelang mir das, bekam ich auch wieder Boden unter den Füßen, verlor dafür aber den Tag-Nacht-Rhythmus. Der Arzt, zu dem ich damals ging, wusste sich auch keinen Rat mehr, ich war also auf mich selbst angewiesen. Ich tat alles, was verzweifelte Leute so tun, die nicht schlafen können und bei denen die Tabletten nicht mehr wirken: Ich änderte meine Ernährung, ich trank keinen Kaffee mehr. Ich trank zuerst mehr Alkohol, dann weniger und zum Schluss gar keinen mehr. Mehrere Monate lang lebte ich total enthaltsam, trank freitags abends mit den Kumpels nur noch Brause und alkoholreduziertes Bier und hielt durch, bis die Schere zwischen den anderen Betrunkenen und mir, dem Nüchternen, zu groß wurde. Erst dann fuhr ich nach Hause. Ich probierte Meditation, fuhr sogar in die Sporveisgata in Oslo zur Acem-Meditation, besuchte einen Anfängerkurs, bekam einen Meditationslaut zugeteilt, den ich, im Schaukelstuhl in unserem Wohnzimmer sitzend, immer wieder wiederholte. Ich versuchte morgens und abends zu meditieren, musste aber vor jeder Meditation dafür sorgen, dass Line unterwegs oder eingeschlafen war. Ich hatte Angst, dass sie sich totlachen würde, wenn sie mich so, in Lotusstellung mit den Handflächen gen Himmel und geschlossenen Augen, finden würde. Ich konnte mich fast nie von der Selbstreflexion lösen, ich sah mich die ganze Zeit von außen. Während ich da so saß und versuchte, in irgendeinen anderen Bewusstseinszustand überzugehen, gelang es mir keinen einzigen Moment, eine Stimme, meine eigene, loszuwerden, die sagte: »Du Idiot!«

Bei Insomnie geht es auch um Selbst-Bewusstsein. Ein schlafloses Gehirn ist ein Gehirn, das nicht aufhören kann, an sich selbst zu denken. Der Wunsch, den Schlaf kontrollieren zu können, kann das genaue Gegenteil bewirken. Und das gilt nicht nur für den Schlaf. Es ist, als ob dir jemand sagt: Denk bloß nicht an Erdbeereis! Natürlich denkt man dann an Erdbeereis! Der amerikanische Psychologieprofessor Daniel Wegner entwickelte die Theorie von den ironischen Prozessen der mentalen Kontrolle. Er führte mit 110 Studenten folgendes Experiment durch: Er gab ihnen einen Walkman und eine Kassette – es war in den Achtzigern – und schickte sie nach Hause. Dort sollten sie sich die Kassette anhören, nachdem sie sich schlafen gelegt und das Licht gelöscht hatten. Die eine Hälfte hörte die Anweisung, so schnell wie möglich einzuschlafen, die andere, einzuschlafen, wenn ihnen danach war. Die erste Gruppe schlief natürlich am schwersten ein, aber damit nicht genug. Diese Gruppe war noch einmal geteilt worden: Ein Teil der Gruppe hörte stressige Marschmusik, der andere Teil beruhigende New-Age-Musik. Damit sollte das Stressniveau für diejenigen noch weiter angehoben werden, die sowieso schon davon gestresst waren, rasch einschlafen zu müssen. Und das hatte folgenden Effekt: Diejenigen, die rasch einschlafen sollten und Marschmusik hören mussten, schliefen am schwersten ein und schliefen auch die gesamte Nacht über schlechter als die anderen, noch lange nachdem die Musik nicht mehr gespielt wurde. Das Experiment hatte nicht nur die Einschlafphase gestört, sondern auch den Teufelskreis der Insomnie etabliert.1 Je mehr man an den Schlaf denkt, je dringender man schlafen möchte, desto geringer wird die Chance, dass man auch wirklich schläft. Viktor Frankl, Professor für Psychiatrie, schrieb einmal, dass der Schlaf wie eine Taube sei, »die neben deiner Hand gelandet ist und so lange dort sitzen bleibt, wie du ihr keine Beachtung schenkst. Versuchst du aber, sie zu greifen, flattert sie rasch davon.«2 Sein Bild ähnelt meinem: Ich denke, der Schlaf ist eine eigenwillige Katze, die ich versuche, auf meinen Schoß zu locken. Die Katze kommt nur zu mir, wenn ich sie nicht mehr beachte. Während sie mich beobachtet, streicht sie lautlos und mit gesenktem Kopf um mich herum. Sie wartet und wittert, so als ob sie meine Verzweiflung riechen könnte. Ich versuche, die Katze zu vergessen, sodass sie lautlos auf meinen Schoß springen, sich zusammenrollen und zur Ruhe kommen will.

An Insomnie zu leiden bedeutet, von der Taube oder der Katze besessen zu sein. Ich habe mehrere Nächte lang nicht geschlafen, ich brauche meinen Schlaf, morgen habe ich ein wichtiges Meeting oder ich soll die Frau, in die ich verliebt bin, treffen oder eine wichtige Prüfung ablegen oder eine längere Reise antreten – einfach alles hängt davon ab, dass ich schlafen kann. Die Verzweiflung gewinnt die Oberhand. Die Taube fliegt weg, die Katze verschwindet.

Normale Menschen wissen, dass sie nachts schlafen werden. Das erwarten sie, doch es ist kein bewusster Gedanke. Der Schlaf kommt einfach, wie immer. Schlafen zu können kann man mit einer zu erledigenden Arbeit vergleichen, so wie ein Vogelhäuschen bauen, eine Wand anstreichen oder ein Gericht zubereiten. Wenn wir es schaffen, uns selbst und all unseren Ballast zu vergessen und mit den Gedanken nur bei der Arbeit zu sein, haben wir gute Aussichten, dass uns alles gelingt. Doch wenn es uns nicht gelingt, uns selbst während der Arbeit beiseitezulassen, wenn wir all unsere Sorgen und Gedanken mit uns nehmen und die ganze Zeit über nur auf die Uhr blicken und zusehen, wie die Sekunden davonticken – dann kann das Basteln des Vogelhäuschens oder das Anstreichen oder die Essenszubereitung zur nicht zu bewältigenden Aufgabe werden. Mein Verhältnis zum Schlaf ähnelt sehr meinem Verhältnis zum Schreiben. Je bewusster ich mir bin, gerade am Schreiben zu sein, desto schwieriger wird es. Je weiter ich mich vom Unbewussten entferne, desto weniger Qualität produziere ich, was das Schreiben oder Schlafen betrifft. Je intensiver ich mich bemühe, desto schwieriger wird es. Und je mehr man denkt, dass man es braucht, desto geringer werden die Chancen, dass man es auch tatsächlich hinbekommt. Oder wie der amerikanische Komiker W. C. Fields es formulierte: »Die beste Behandlung für Insomnie ist viel zu schlafen.«

Ganz gleich, wie lange ich vor vielen Jahren nun dort in der Wohnung in Tøyen in meinem Sessel saß und meinen Meditationslaut wiederholte, ganz gleich, wie lange ich es versuchte, dem Bewusstsein meiner selbst konnte ich nicht entkommen. Ich erreichte rein gar nichts, ganz im Gegenteil: Je länger ich so dasaß, desto mehr hasste ich mich selbst. Und nachts schlief ich auch nicht besser.

Was habe ich noch probiert? Ich ging zu einem Psychiater, der auf Schlafstörungen spezialisiert war und unter anderem Hypnosebehandlungen anbot. Jeden Mittwochnachmittag nahm ich also den Zug nach Sandvika, einem Vorort von Oslo, und war immer jeweils eine halbe Stunde vor dem Termin dort. Dann stand ich da und wartete vor dem Gebäude, in dem sich die Arztpraxis befand. Der Psychiater war ein kleiner Mann mit einer leisen Stimme, einer nervösen Erscheinung und einem kleinen Sprechzimmer, in dem wir uns fünfundvierzig Minuten lang gegenübersaßen. Als ich das zweite Mal dort erschien, hatte ich gerade noch einmal meine Bücher gelesen, die ich bis zu diesem Zeitpunkt herausgegeben hatte, und ich erinnere mich, wie ich dachte: Jetzt kannst du dich nicht so einfach wieder rausziehen! Er gab mir einen Fragebogen mit über hundert Fragen zum Ausfüllen, und nachdem er meine Antworten gelesen hatte, fragte er mich: »Haben Sie einmal daran gedacht, dass Sie vielleicht eine Depression haben?«

»Nein«, antwortete ich.

Mir waren die Schlafstörungen ein Rätsel, aber sie waren ein Rätsel an sich, das ich mit nichts anderem in Zusammenhang brachte. Ich wies die Frage rasch von mir. Deprimiert? Ich konnte einfach nur nicht schlafen.

Die Hypnose bestand darin, dass ich die Augen schloss, während er zu mir sprach. Auch dabei konnte ich mich nicht fallen lassen, ich hatte immer noch diesen Blick von außen auf mich selbst. Doch es funktionierte etwas besser als die Acem-Meditation. Ich verließ die psychiatrische Praxis stets mit dem verwirrenden Gefühl, dass ich einen Moment lang eingeschlafen war oder gedöst hatte. Der Psychiater interessierte sich für meine Träume, und auch wenn ich mit den Jahren immer weniger an Traumdeutung glaubte, konnte er doch das, was ich ihm von meinen Träumen erzählte, mit den Dingen aus meinem Leben in Zusammenhang setzen. Wenn ich ihm von einem Traum erzählte, in dem ich mich durch ein überflutetes Haus zu kämpfen versuchte, in dem Kuscheltiere, Lampenschirme und Schuhe an mir vorbeischwammen, sagte er: »Das Haus sind Sie. Das Wasser steht für das Unbewusste.«

Träume können aus jeder mentalen Aktivität während des Schlafes bestehen, doch die meisten verbinden die Traumaktivität mit den vielen Erlebnissen während der REM-Phase.3 In dieser Schlafphase werden gewisse Bereiche des Gehirns äußerst aktiv: die Bereiche im hinteren Teil des Gehirns, die uns mentale Bilder sehen und selbst bilden lassen, der Bereich der Gehirnrinde, der Bewegung steuert, die Bereiche, die für autobiografische Erinnerungen zuständig sind, sowie alle Gefühlszentren, die dazu beitragen, Emotionen zu erzeugen und zu verarbeiten. Mit anderen Worten, all das, was man braucht, um gefühlsgeladene Actionfilme mit sich selbst in der Hauptrolle zu produzieren. Gleichzeitig werden die Bereiche, die die rationalen Gedanken steuern, deaktiviert. Solange ich noch ein bewusstes Verhältnis zu den Träumen hatte, betrachtete ich sie als lose Verbindungsstücke zu den Eindrücken des Tages. Ich gehe durch den Tag, und das, was mir da passiert, wird, wenn ich dann in der Nacht schlafe, in meinen Träumen verarbeitet. Träume sind Filme, die man aus dem zusammensetzt, was am Ende des Tages im mentalen Schneideraum auf dem Boden liegen geblieben ist, dachte ich. Freud nannte das den Rest des Tages.

Doch das stimmt nicht ganz. Studien zufolge, in denen die Teilnehmer detailliert alles, was sie im Laufe des Tages unternommen und während der Nacht geträumt hatten, niederschrieben, haben gezeigt, dass lediglich 1–2 % des Traumerlebens Wiederholungen von tatsächlichen Ereignissen waren. Wenn man jedoch die Emotionen – wie Wut, Trauer, Freude – betrachtet, die man im Laufe des Tages durchlebt, stellt sich heraus, dass 35–55 % dieser emotionalen Erlebnisse in den Träumen wiederauftauchen.4 Träume rekonstruieren keine Erlebnisse, sondern die Emotionen, die in uns im Augenblick des Geschehens aufkommen.

Emotionen sind für Traumforscher ebenfalls ein zentrales Stichwort, wenn es um die Suche nach der Funktion der Träume geht. Der britische Traumforscher Matthew Walker meint, dass Träume uns dabei helfen, die starken Gefühle, die wir im Laufe des Tages gehabt haben, zu verarbeiten und uns mit ihnen auseinanderzusetzen, unter anderem, um uns später zu ermöglichen, zu Ereignissen in der Vergangenheit zurückkehren zu können, ohne uns zu den damit verbundenen starken Gefühlen verhalten zu müssen. Wir müssen in der Lage sein, uns zu erinnern, ohne von den ehemaligen Gefühlen überwältigt zu werden. Heute kann ich zum Beispiel an eine Prügelei in der siebten Klasse zurückdenken, ohne noch einmal durch die Angst, Erniedrigung und Wut hindurchzumüssen, die ich damals erlebt habe. Das, so Walker, verdanke ich den Träumen. Und das ist auch das, was Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) nicht gelingt. Sie sind nicht in der Lage, die starken und unangenehmen Gefühle, die sie einmal erlebt haben, zu bearbeiten, abzudämpfen oder loszuwerden. Das liegt zum Teil an den Schlafstörungen, unter denen PTSD-Patienten normalerweise leiden. Walker meint, das liege an den unnormal hohen Mengen an Noradrenalin, die den gesunden Nachtschlaf verhinderten. So gerät man in einen Teufelskreis: Der psychische Stress verhindert den Schlaf, der wiederum den psychischen Stress bearbeiten und vielleicht abbauen könnte. Walker nennt das einen Kratzer in der Schallplatte, an dem die Nadel zum Abspielen hängen bleibt, denn die Patienten durchlaufen Nacht für Nacht denselben Albtraum, ohne dass es ihnen danach besser gehen würde. In klinischen Versuchen 5 wurde das Noradrenalin-Niveau mithilfe von Medikamenten reduziert. Danach kam es zu einem gesunderen REM-Schlaf und die Albträume wurden weniger.

Walker fand auch noch einen anderen Vorteil des Traumschlafes: In ihm wird unsere Fähigkeit, Gefühle zu interpretieren, aufs Feinste justiert. 6 Walker zeigte den Versuchsteilnehmern, die geschlafen hatten, und denen, die nicht geschlafen hatten, Bilder von Gesichtern mit verschiedenen emotionalen Ausdrücken und entdeckte einen deutlichen Unterschied: Diejenigen, die keine REM-Phase durchlaufen hatten, konnten die verschiedenen Gefühlsausdrücke nicht voneinander unterscheiden. Der Traumschlaf – nicht die Träume an sich – hilft uns, unsere eigene Veranlagung, die Gefühle anderer Menschen zu sehen, zu lesen und zu verstehen, genauer zu justieren. Ist es diese grundlegende Fähigkeit, nämlich Mensch unter Menschen zu sein, die der lange, zusammenhängende Schlaf mit sich brachte, die uns im Laufe der Evolution von den anderen Arten entfernt hat?

Die Traumdeutungen in der kleinen psychiatrischen Praxis in Sandvika verbesserten meinen Nachtschlaf nicht, und nach einem halben Jahr musste ich die Behandlung abbrechen, was ein schmerzhafter Prozess war. Der Psychiater war wirklich verletzt und überrascht, als ich ihm sagte, dass wir zum Schluss gekommen seien. Ich benutzte die Psychiater-Patienten-Version von An Ihnen liegt es nicht, sondern an mir und schob alles auf den langen Anfahrtsweg.

Dann wendete ich mich an einen Psychotherapeuten für kognitive Therapie, der sich auf Schlafstörungen spezialisiert hatte. Als ich anrief und meine Situation beschrieb, unterbrach er mich mitten in der Beschreibung meines Elends. »You’ve come to the right place!«, sagte er und ich erinnere mich, dass ich noch nicht einmal reagierte, als er plötzlich in eine Mischung aus Bergenser Dialekt und Englisch überging. Mir kamen die Tränen, Jubel blubberte in meiner Brust: Ich war an der richtigen Stelle! Bald würde ich kuriert sein!

Die kognitive Therapie erwies sich als kostspielig, ich bekam keine Überweisung vom Hausarzt – ich war ja auch an einem Punkt angelangt, an dem ich mich nicht mehr traute, um Überweisungen für weitere Behandlungsangebote zu bitten. Und damit wurden auch die Kosten nicht mehr übernommen, wie damals beim Psychiater. Ich war jedoch so überzeugt, das Richtige zu tun, dass mich das Geld überhaupt nicht interessierte.

Die erste Sitzung begann damit, dass der Therapeut mein Wachsein in den Nächten als positiv wertete.

»Denken Sie einmal an all die Stunden, die Ihnen zur Verfügung stehen! Sie sind ja Autor, Sie können Bücher schreiben, wenn wir anderen schlafen müssen!«

Dann gab er mir einen Notizblock und einen Stift.

»Ich möchte, dass Sie nach Hause gehen und sich eine Liste der Dinge machen, die nicht gut sind, wenn man nicht schlafen kann. Dann aber auch noch eine über die Dinge, die gut sind, wenn man nicht schlafen kann. Und dann hätte ich gern, dass Sie notieren, wie Sie schlafen.«

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