Die toten Städte

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„Also sind dir nicht nur menschliche Verfolger auf den Fersen.“ Der Gesichtsausdruck des Jarxri war immer noch schwer zu deuten, doch ließ seine eher lässige Haltung darauf schließen, dass er die Ereignisse eher interessant statt besorgniserregend fand. Nach einer Weile gemeinsamen Schweigens bemerkte er: „Offenbar sind wir nicht die ersten, die diesen Ort als Obdach benutzen.“ Er deutete eher beiläufig auf eine Stelle nicht weit vom Lagerplatz der aufgeschreckten Vögel entfernt. Als Churon der Geste mit den Augen folgte, entdeckte er einen mit Steinen umringten Aschekreis am Waldboden. Langsam näherten sie sich der Stelle, wobei sie nun die Umgebung eingehender musterten.

„Ich sehe weder Hufspuren noch Pferdeäpfel“, merkte Churon an. „Und so alt ist das Lager nicht, als dass diese schon verschwunden sein könnten. Sie waren wohl zu Fuß unterwegs.“ Er bemerkte einige kleinere Knochen in der Asche.

„Dann könnten es Jäger oder Fallensteller aus Elir gewesen sein“, erklärte der Schlangenmensch. „Der Ort ist nicht weit entfernt. Allerdings wäre dies für das Inselvolk ein eher ungewöhnliches Verhalten. Reisende aus Elnanbia wie unsere kürzlich verstorbenen Freunde wären wohl zu Pferd oder Esel unterwegs. Also sind es am wahrscheinlichsten Jäger aus dem Waldland im Osten. Sie kommen manchmal bis zu den Siedlungen der Inselleute, um Handel zu treiben.“

Churon wunderte sich kurz, dass sein Begleiter so viel über die Siedlungen der Menschen wusste. Er ließ den Blick durch das grün-braune, von vereinzelten Säulen aus Sonnenlicht durchsetzte Gehölz schweifen. „Ich frage mich, ob sie noch in der Nähe sind.“ Und ob das für uns jetzt gut oder schlecht ist, fügte er in Gedanken hinzu.

„Wie sieht denn dein Plan für unser weiteres Vorgehen aus?“ fragte der Schlangenmensch, das Thema wechselnd. „Wann die Gefahr vorüber ist, kannst du doch von hier aus schlecht beurteilen.“

„Ich weiß nicht. Wir müssen einfach eine Weile abwarten. Am sichersten ist es natürlich nach Einbruch der Dunkelheit.“

„Wie bitte? Bis dahin sind es noch Stunden, und diejenigen, die uns am Boden auf den Fersen sind, holen währenddessen weiter auf.“

„Da hast du recht, zumal wir bei Tageslicht schneller vorankommen“, gab Churon zu. „Ich schlage vor, dass wir kurz rasten und dann wieder zum Waldrand gehen und nachschauen.“

„Wie du meinst.“

Nachdem sie ein wenig gegessen und danach kurze Zeit schweigend an den Bäumen lehnend geruht hatten, brach Sharezar wieder das Schweigen. „Ich nehme nicht an, dass Du mir erzählen möchtest, was dich in diese Gegend und die derzeitige Lage geführt hat?“

„Da liegst du richtig“, antwortete Churon. Er konnte das Aussehen des Wesens einfach nicht mit dessen Gesprächigkeit zusammenbringen. Für ihn waren Schlangen und Eidechsen (und als eine solche Art von Kreatur betrachtete er seinen Begleiter) nicht für ihre Geselligkeit bekannt. Sharezars Frage war ihm nicht wirklich lästig, sie kam nur unerwartet. Zudem ärgerte sich Churon, dass erst diese Worte nötig waren, um ihn einem beginnenden Dämmerzustand zu entreißen, in den er eigentlich unter keinen Umständen hatte versinken wollen. Er hatte sich nach dem Schlafmangel der letzten Zeit nicht mehr völlig im Griff. Vielleicht war es auch nicht nur die Müdigkeit, sondern ein wesentlich gefährlicherer Einfluss. Vor seinen geschlossenen Augen hatten Schemen getanzt, unzusammenhängende Schattenbilder der Eindrücke der letzten Tage. Er versuchte sie abzuschütteln, als er in das lichtdurchflutete Laubwerk blinzelte.

Der Jarxri blieb hartnäckig. „Gehe ich wohl richtig in der Annahme, dass die Herren unseres gefiederten Freundes dir in ihrem Aussehen recht ähnlich sind?“ Wieder diese vornehme Ausdrucksweise. „Und wohl auch in dem Grad ihrer Geselligkeit?“

Ironie war ebenfalls etwas, das Churon nicht mit einem solchen Wesen verbinden würde. Es fiel ihm aber auch zum wiederholten Mal der offenbar scharfe Verstand seines Reisegefährten auf. Das machte ihm im Ernstfall zu einem gefährlichen Gegner. „Es dürfte kaum von Bedeutung für dich sein“, entgegnete er. Er hatte kein Interesse daran, unnötig viel über seine Geschichte preis zu geben. Er erhob sich wieder auf die Beine und ging zu seinem Pferd hinüber. „Ich will hier nicht länger warten. Wir sollten aufbrechen, wenn die Luft rein ist.“

Er ging mit den Zügeln des Pferdes in der Hand in die Richtung, aus der er in den Wald hineingelangt war. Die gewohnten Geräusche des Waldes umgaben ihn, was eine Veränderung darstellte im Vergleich zu der Stimmung in der Nacht, wie ihm jetzt bewusst wurde. Er erreichte den Rand der Ebene mit ihrem im leichten Wind wogenden Gras und musterte blinzelnd den strahlend blauen Himmel, der nur zum Teil von dünnen weißen Wolkenschleiern durchzogen war. Es war nichts Auffälliges zu erkennen. Langsam entfernte er sich vom Waldrand und suchte dabei den größer werdenden Ausschnitt des Himmelszeltes ab. Als immer noch nichts zu sehen war, schwang er sich wieder in den Sattel und sah sich zum Waldrand um. Der Jarxri hatte bereits aufgesessen und steuerte jetzt wieder die Richtung an, in der das ausgetrocknete Flussbett lag. Churon schlug ebenfalls diese Richtung ein. Sein Begleiter verlor kein Wort mehr über die vermutete Bedrohung, die jetzt nicht mehr vorhanden zu sein schien.

Als sie die Böschung erreichten, sagte der Schlangenmensch: „Im Flussbett kommen wir bei Tageslicht gut voran. Wenn wir uns beeilen, könnten wir vor Anbruch der Dunkelheit möglicherweise schon den tanzenden Fluss erreichen.“

Sie schafften es nicht ganz. Die Sonne versank im Westen hinter den flachen Hügeln, die jetzt immer mehr die Landschaft prägten, durch die sich das trockene Flussbett schlängelte. Der Blick in die Ferne war nicht mehr möglich, sofern man nicht auf einen der mit Gras und vereinzelten Bäumen bewachsenen Hügel stieg. Als sie dies taten, während die Halbkugel der Sonne am westlichen Horizont das Land mit rotem Licht flutete, konnten sie weiter im Süden an einigen Stellen zwischen den bewachsenen Hügeln ein orange-rotes Glitzern wahrnehmen. Der wilde Fluss führte also tatsächlich Wasser. Sie stimmten aber darin überein, dass die Entfernung noch zu groß wäre, um erst dort zu rasten. Als Churon den Blick nach Westen schweifen ließ, erblickte er in weiter Ferne eine größere Wasserfläche hinter den Hügeln. Als er seinen Begleiter danach fragte, antwortete dieser: „Das ist der Chalnej-See. Die Menschen nennen ihn aber, glaube ich, den Elir-See, nach der Stadt, die sie an seinem Nordwestufer erbaut haben. Der tanzende Fluss speist den See, bevor er seinen Weg Richtung Meer im Osten wieder fortsetzt.“

Sie schlugen ihr Lager in einer Senke zwischen zwei Hügeln auf, die sich ein Stück weit entfernt vom Flussbett erhoben. Sie entfachten kein Feuer, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Es war angesichts der noch nicht sehr kalten Nächte auch nicht unbedingt notwendig. Churon vermisste nur eine gute Portion gebratenes Fleisch. Er hatte in der letzten Zeit seinen Proviant gestreckt, was im Zusammenspiel mit den körperlichen Anstrengungen ein ständig nagendes Hungergefühl mit sich brachte.

„Ich übernehme gerne die erste und auch die zweite Wache“, sagte der Jarxri mit freundlichem Ton. „Ich brauche nicht viel Schlaf. Nur ein paar Stunden.“

Churon sah keinen Grund, diesen Worten nicht zu trauen. Er selbst brauchte den Schlaf, und seinen Begleiter erachtete er als nicht gefährlicher als die Halunken, mit denen er bisher unterwegs gewesen war. Seit er auf der Flucht war, hatte er der Nacht und dem Schlaf immer mit Abneigung entgegen gesehen, auch wenn beides unvermeidlich war. Inzwischen hatte er sich schon fast an die düsteren Gedanken gewöhnt, mit denen er sich zur Ruhe begab, falls man dies überhaupt so nennen konnte. Er wickelte sich in seine Decke, während der Jarxri so unbeweglich wie ein Standbild mit angewinkelten Beinen sitzen blieb und ins Leere starrte. Churon erwartete, dass ihn seine kreisenden Gedanken noch eine zeitlang wach halten würden, doch er hatte während des Tages schon genug gegrübelt, und so glitt er unmerklich in den Schlaf hinüber...

Er befand sich in dem Dorf, in dem er aufgewachsen war. Es lag in einer einsamen Gegend im Westen Korvas. Die nächste größere Stadt war Paiemo, die viele Tagesreisen im Osten lag. Die Häuser der Bauern waren im Kreis um den Dorfplatz angelegt, im weiteren Umkreis lagen die Gärten und die Äcker. Im Norden war der Rand des Waldes zu erkennen, der so groß war, dass man viele Tage bräuchte, ihn zu durchqueren, selbst wenn eine Straße hindurchgeführt hätte. Im Süden lag das Heideland, dass irgendwann in ein Moor überging. Die Äcker des Dorfes Melos wurden von Wald und Heide nahezu vollständig umschlossen. Der einzige Weg, der nach Melos hineinführte, endete dort. Hier war das Ende der Welt, und es kam so gut wie nie jemand hierher, der nicht Verwandtschaft im Dorf hatte. Ein Verkünder aus dem benachbarten Marktflecken, der eine Tagesreise entfernt lag, erschien immer nur zu den hohen Feiertagen, oder wenn eine Hochzeit, eine Taufe oder ein Begräbnis anstand. Selbst die Anwerber machten sich meist nicht die Mühe, diese einsame Ansammlung von Hütten aufzusuchen, was von allen Einwohnern als Segen betrachtet wurde.

Doch an diesem Frühlingstag war es anders. Man hörte das Donnern von Hufen und das Spritzen von Schlamm, bevor man die Reiter sehen konnte. Es hatte einige Stunden zuvor geregnet, und die Luft war kühl und klar. Schon als die Reiter in den grauen, schlammbespritzten Leinengewändern auf ihren schnaufenden Pferden auf dem Dorfplatz halt machten, kamen einige Frauen und Kinder vorsichtig aus den Häusern, oft nur, um gleich wieder verschreckt darin zu verschwinden. Die meisten Dorfbewohner arbeiteten aber auf den Feldern oder in den Gärten. Einige waren nah genug, dass man sie sehen konnte, als sie sich aufrichteten und zum Dorfplatz starrten. Churon befand sich damals ebenfalls auf einem nahe gelegenen Feld. Er hatte seine Arbeit niedergelegt und war neugierig auf die seltsamen Fremden zugegangen. Er war immerhin fast noch ein Kind. In seinem Traum hatte sich diese Erinnerung verändert. Er befand sich schon mitten auf dem Dorfplatz, und er hatte das Gefühl, die Reiter kämen direkt auf ihn zu. Mehr noch, er dachte, sie kämen einzig und allein wegen ihm. Ein unbeschreibliches Gefühl der Furcht hatte Besitz von ihm ergriffen. Auch das stimmte nicht mit der Erinnerung überein, denn er befürchtete damals von den grimmig aussehenden Fremden zunächst nichts Böses. Die Furcht betraf auch nicht nur auf die Reiter. Es war eher ein allumfassendes Gefühl von Ausweglosigkeit und Verhängnis, zusammen mit dem Eindruck, dass alles um ihn herum irgendwie falsch war, nur Schein, etwas, dass eine unergründliche Macht ihm vorgaukelte. Er wusste, dass die Anwerber im Namen des Königs, des erleuchteten Sprechers der äußeren Mächte, alle Dorfbewohner brüllend dazu auffordern würden, sich umgehend auf dem Platz zu versammeln. Er wusste auch, dass sie ihn am Ende der Versammlung, nachdem sie einige verzweifelte Bauern misshandelt und in den Schlamm getreten hatten, mitnehmen würden, zusammen mit drei weiteren Jungen, allesamt zweitgeborene Söhne. Er erinnerte sich an das gramerfüllte Gesicht seines Vaters, der, noch schmutzig von der Arbeit auf dem Feld, die Frage des Anwerbers, ob Churon sein zweitgeborener Sohn sei, mit Ja beantwortete. Damals hatte sein Vater seinen Kopf gesenkt, als könnte er es nicht ertragen, Churon ins Gesicht zu sehen. Vielleicht wollte er auch nicht, dass man ihm seine Trauer ansah. Nur seine Mutter hatte ihn angesehen und dabei lautlos geweint.

 

All das war Churon auf eine seltsame Weise im Traum bewusst. Doch diese bekannten Dinge, die vor ihm lagen, waren seltsamerweise nicht der Hauptursache seiner Furcht. Es war vielmehr der Eindruck, als wäre dies alles nur die Kulisse für ein Theaterstück, eine höhnische Täuschung, die nur zu dem Zweck erschaffen worden war, dass Churon sie durchschaute. Vielleicht war es die Kenntnis des Ablaufes der Ereignisse, die dazu führte, dass sich diese zeitlich gerafft abspielten. Der Traum sprang von einem Ereignis zum nächsten. Schon sah er sich selbst, wie er mit drei weiteren Jungen zu Fuß zwischen den Reitern aus dem Dorf lief, den matschigen Weg entlang, erst durch Felder, später durch die Wildnis, den Wald zur Linken und das Heideland zur rechten. Was sich in Vergleich zu den wirklichen Begebenheiten ebenfalls geändert hatte, war der schnelle Einbruch der Dunkelheit. Damals waren sie am helllichten Tag unter Sonnenschein viele Stunden bis zur Abenddämmerung gewandert. Die Dunkelheit jetzt war jedoch keine gewöhnliche Nacht. Es war eher so, als wäre das Dorf ein lichterfülltes Zentrum, und alles Licht ginge von diesem Ort aus. Es wurde dunkler, je weiter sie sich von Melos entfernten. Sie liefen und ritten direkt in die Schwärze einer sternenlosen Nacht hinein, die sich vor ihnen wie eine Wand ausbreitete, oder wie ein Abgrund, der darauf wartete, sie zu verschlucken. Bald war das Licht nur noch ein schwacher Abglanz am Horizont hinter ihnen, während die Umgebung kaum noch zu erkennen war. Die Dunkelheit vor ihnen schien jedoch allmählich eine neue Eigenschaft anzunehmen. Sie wurde auf eigentümliche Weise fester, undurchdringlicher als die Schwärze des Nichts. Bald erkannte Churon, woran dies lag. Der Lichtschein des Dorfes spiegelte sich im Himmelszelt. Die Himmelskuppel vor ihnen war in Wirklichkeit eine Glasglocke, die das Land völlig umschloss. Sie bewegten sich unbeirrt auf diese gläserne Grenze des Universums zu.

Dann sah Churon das Grauen, dessen Gegenwart er schon die ganze Zeit über gespürt hatte. Etwas bewegte sich von außerhalb der gigantischen Glaskuppel auf sie zu, etwas Gewaltiges, dessen Abmessungen die des geschrumpften, eingesperrten Universums um ein vielfaches übertraf. Es war ein unendlich großer Schädel von bizarrer Form, doch Churon kannte diese Gestalt nur zu genau. Der Kopf gehörte zu ihm. Er blickte von außen in die Glaskugel, so wie Churon in der Wirklichkeit in seinen Stein schauen würde. Die Verhältnisse waren auf den Kopf gestellt. Nicht er selbst war frei, sondern der andere. Churon war der Gefangene, eingeschlossen in einen Käfig und der Willkür einer unbeschreiblich bösartigen Macht ausgeliefert. Die Augen des Anderen waren nur als ein düsteres Funkeln in den schwarzen Augenhöhlen des unmenschlichen, riesigen Schädels zu erahnen, dennoch lag darin das Glitzern unergründlicher Bosheit. Plötzlich zuckte in dem Raum hinter dem Glas und dem gewaltigen Kopf ein Blitz auf, dessen grelles Licht Churon erkennen ließ, dass dieser Raum keineswegs leer war. Was er dort sah, führte dazu, dass im Traum ein Schrei aus seiner Kehle gellte und er anschließend keuchend aus dem Schlaf aufschreckte.

Er hatte seinem Oberkörper halb erhoben und stützte sich nun mit den Ellenbogen in dieser Stellung ab. Er brauchte wie üblich einige Atemzüge, bis er die Wirklichkeit seiner Umgebung begriff. Er setze sich nun ganz auf und versenkte seine schweißnasse Stirn in seinen Händen. „Verdammt, werde ich allmählich verrückt?“ fragte er sich leise selbst. Als er die Hände wegnahm, bemerkte er, dass sich hinter den Hügeln im Osten schon die Morgendämmerung ankündigte. Er sah sich um. Die Dunkelheit war schon einem blau-grauen Zwielicht gewichen. Tau hatte sich auf den Gräsern gebildet. Auf der gegenüberliegenden Seite der Senke verharrte immer noch der Jarxri in seiner hockenden Stellung, als hätte er sich die ganze Nacht nicht vom Fleck gerührt. Churon konnte im Halbdunkel nicht erkennen, ob er in seine Richtung sah, aber er glaubte, dass die Augen des Schlangenmenschen offen waren. „Warum hast du mich nicht geweckt?“ fragte er. „Die Nacht ist schon fast vorbei.“

Sein Begleiter nahm sich Zeit für seine Antwort, so dass Churon fast glaubte, dieser würde doch schlafen, trotz seiner unbequemen Haltung. Als Sharezar sprach, kamen seine Worte deutlich, doch eigenartig langsam heraus. „Ich dachte, du hättest eine Erholung nötiger als ich. Wir Jarxri müssen nicht in tiefen Schlaf sinken, um uns auszuruhen. Ich kann auch mit offenen Augen neue Kraft schöpfen.“

Churon erwiderte nichts, fühlte aber Wut in sich aufsteigen, einerseits, weil der Schlangenmensch ihn offenkundig für schwach hielt, andererseits, weil diese Einschätzung der Wahrheit entsprechen könnte. Alle Bemühungen der letzten Zeit, sich zusammenzureißen, zeigten immer weniger Wirkung. Churon befürchtete, weich zu werden, und was noch schlimmer war: unaufmerksam. Er durfte in seiner Wachsamkeit nicht nachlassen.

Nachdem sie ihre Pferde wieder bepackt hatten, stiegen sie abermals auf die Kuppe eines Hügels, um die Entfernung zu ihrem Ziel einzuschätzen. Die Felsformation, die zwar noch immer weit entfernt, aber inzwischen deutlich als solche zu erkennen war, wurde vom rötlichen Licht der Morgensonne angestrahlt. Das gewundene Band des Flusses, das in der Entfernung nur zum Teil sichtbar war, schien von diesem Landschaftsmerkmal auszugehen, um dann im Osten in den direkt unter dem noch nicht allzu grellen Kreis der Morgensonne liegenden See zu münden.

Als sie wieder das trockenen Flussbett entlang ritten, schien sich die Umgebung im Vergleich zum Vortag nicht sonderlich verändert zu haben. Nachdem sie eine Weile stumm nebeneinander geritten waren, beschloss Churon, das Schweigen zu brechen. „Deine Vermutung von gestern war richtig.“

„Welche?“

„Dass ich von meinen eigenen Leuten verfolgt werde. Von Soldaten, wie ich selbst einer bin, oder vielmehr war.“

„Das war nicht schwer zu erraten. Du wirkst in diesem Teil der Welt nicht gerade besonders unauffällig. Selbst für mich, der ich überhaupt nicht so viel über das Reich weiß, aus dem Du kommst. Im Grunde weiß ich so gut wie gar nichts.“

„Das ist vielleicht auch besser so. Und noch besser ist es, dass meine Leute wenig von euch hier im Süden wissen. Jedenfalls vorläufig noch.“ Er hatte kein Interesse, das Thema weiter zu vertiefen. Stattdessen stellte er die Frage, auf die er eigentlich hinauswollte. „Wer waren eigentlich die Leute, die hinter dir her waren? Warum jagten sie dich?“

Der Jarxri sah sich zu ihm um. „Ich denke, sie dürften es aus sehr eigennützigen Gründen getan haben. Sie sind nicht meine eigentlichen Feinde, sondern so etwas wie Helfershelfer. Und wer sie genau waren, kann ich gar nicht mit Sicherheit sagen. Vermutlich eine zusammengewürfelte Truppe, einige aus Elnanbia, andere aus dem Tal der Zauberin. Die Jarxri unter ihnen kamen bestimmt von dort.“

„Wo liegt dieses Tal?“

„Wir reiten ungefähr in die Richtung.“

Er schien Churons Frage voraus zu ahnen. „Keine Sorge, selbst zu Pferd trennen uns noch viele Tagesreisen durch die Wildnis von jenem Ort. Ich habe auch kein Verlangen, in nächster Zeit wieder dorthin zurückzukehren. Es liegt nur zufällig in unserer Richtung.“

Womit das Thema wieder bei den geheimnisvollen Ort wäre, den Sharezar bei den Felsen aufsuchen wollte. Es brachte nichts, sich jetzt schon darüber den Kopf zu zerbrechen. Er musste erst einmal die Gegebenheiten vor Ort abwarten und dann entscheiden, wie er weiter vorging. Vielleicht stellte sich alles als große Enttäuschung heraus, vielleicht musste er sich aber auch seinen Begleiter vom Hals schaffen. Er durfte aber niemals dessen Gefährlichkeit unterschätzen. Er musste jederzeit wachsam bleiben.

Sie rasteten um die Mittagszeit im Flussbett, wobei Churon von dem wenigen Dörrobst und Dauerbrot aß, das ihm noch geblieben war. Auf Pökelfleisch verzichtete er. Der letzte Schluck Wasser aus seinem Schlauch hatte auch so schon kaum seinen Durst gelöscht. Glücklicherweise erreichten sie am späten Nachmittag den Fluss, den der Schlangenmensch als den „tanzenden“ bezeichnet hatte. Plötzlich tauchte er hinter einer Biegung des trockenen Flussbetts vor ihnen auf. Seine Nähe hatte sich jedoch schon vorher durch Rauschen und Plätschern angekündigt, was nicht gerade auf ein ruhiges Gewässer schließen ließ. Als sie schließlich an seinem Ufer standen, stellte Churon fest, dass es zwar kein gewaltiger Strom war, aber auch kein Bach, über den man mit Anlauf hinüberspringen konnte. Außerdem sah er tief genug aus, um ihn nicht durchreiten zu können, und das Durchschwimmen schien ihm angesichts der starken Strömung ebenfalls nicht ratsam. Er begrüßte zunächst einmal die Gelegenheit, seinen Wasserschlauch auffüllen.

Pfade oder sonstige Spuren menschlicher Anwesenheit waren an den Ufern nicht zu erkennen, obwohl die nächste Siedlung nicht allzu weit entfernt sein durfte. Einer seiner verstorbenen Gefolgsleute hatte ihm erzählt, dass die Inselleute aus Elir auf dem See Fischfang betrieben, der von diesem Fluss gespeist wurde. Er hatte die Wasserfläche in letzter Zeit nicht mehr gesehen, schätzte aber, dass der See nur zwei Tagesritte, vielleicht auch nur einen Tagesritt westlich von diesem Ort lag. Anscheinend kam aber niemand regelmäßig in diese Gegend.

Sie mussten sich also durch Gestrüpp und Felsen ihren Weg am Ufer entlang nach Osten suchen, wodurch sie langsamer vorankamen als auf dem natürlich geschaffenen Hohlweg, der am Fluss endete. In der Nacht rasteten sie ein Stück weit abseits des Ufers in einer Senke, von wo der unverwechselbare Klang des wilden Flusses aber noch deutlich zu hören war. Dieses Mal löste Churon seinen Begleiter beim Wachehalten ab, da er ohnehin nicht durchschlief, sondern immer wieder aus dem Schlaf hoch schreckte und auch mehrmals für lange Zeit wach lag. Trotzdem fühlte er sich dabei nicht ganz so elend wie in den letzten Nächten. Vielleicht lag es an dem gleichbleibenden, beruhigenden Gemurmel des fließenden Wassers, dass er beinahe das Gefühl hatte, sich bei dieser Rast wirklich zu erholen. Beinahe.

Ob der Jarxri schlief oder nur stumm und wach dalag, war nicht festzustellen. Weder Geräusche noch Bewegungen schienen sich in irgendeiner Weise zu verändern. Die Stille dieses Wesens hatte etwas Unheimliches an sich.

Als der Morgen anbrach, kündigte sich ein mögliche Wetterveränderung an. Es kam etwas Wind auf, und es zeigten sich einige Wolken mehr als in der letzten Zeit. Während sie ihre Reise fortsetzten, schob sich häufiger ein Schatten vor die Sonne, wenn auch stets nur für kurze Zeit. Sie konnten nun die Felswand ständig vor sich sehen. Als es auf die Mittagszeit zuging, wuchs sie allmählich immer mehr in die Höhe, bis man den Kopf in den Nacken legen musste, um den Himmel darüber zu sehen. Sie war nicht glatt, sondern stark zerklüftet, doch so steil, dass es dennoch schwer sein musste, sie zu erklettern.

 

Sie erreichten eine Stelle, an der eine langgezogene Senke quer zu ihrem Weg verlief und am Fluss endete. Sie ähnelte dem trockenen Bachbett, dem sie bis vor einem Tag gefolgt waren. Als Churon den Verlauf der Senke mit den Augen folgte, erkannte er, dass sie in einem Bogen auf die Felswand zulief. Dort, wo sie auf die Wand traf, verbreiterte sie sich anscheinend etwas. Die Felsen hatten dort auf einem senkrecht von unten zur Oberkante verlaufenden Streifen eine leicht veränderte Farbe angenommen. Dort, wo der Streifen auf die Oberkante traf, war eine breite Einkerbung zu erkennen.

Als wäre der Jarxri Churons Blick gefolgt, sagte er: „Dort, etwas weiter links, stürzte vor langer Zeit einmal der Fluss in einem gewaltigen Wasserfall in die Ebene. Hier vor uns ist noch das alte Flussbett zu sehen. Heute befindet sich der Wasserfall hinter den Felsen, weiter im Osten. Dort stürzt er in ein Tal, das früher einmal ein See war. Der See hatte seinen Abfluss oben auf der Felsebene, und der Fluss kam dann hier als Wasserfall herunter. Du musst wissen, dass wir uns hier an einem Landbruch befinden. Das gesamte Gebiet östlich der Felsen ist höher als die Ebene, in der wir jetzt stehen.“

„Welchen Weg nimmt der Fluss heute?“

„Er verläuft unterirdisch. Er versickert im Tal östlich von uns und tritt dort vorne wieder aus den Felsen aus.“ Der Schlangenmensch deutete mit seinem klauenartigen Finger auf eine Stelle am Fuß der Felsen, die ihrem Blick noch entzogen war. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und ließ es vorsichtig die Senke hinab und am anderen Ende wieder hinauf steigen. Churon folgte dichtauf. Er war einigermaßen neugierig, was für ein Ort dort an dem Austritt des unterirdischen Fluss zu finden war. Er rechnete mit einigen überwachsenen Mauerresten, vielleicht auch Gewölben, die in den Fels gehauen waren. Um so enttäuschter war er von dem Anblick, der sich ihnen darbot, als sie den höchsten Punkt des Ufers vor den Felsen erreichten. Von hier aus konnte man den Verlauf des Flusses überblicken von der Stelle, wo er aus einer dunklen Höhlenöffnung hervorströmte bis zu einer Biegung weit im Westen. Vor der Höhle ergoss sich das Wasser rauschend über einige Felsen, bis es wieder einigermaßen ruhig dahinfloss. Links und rechts des Flusslaufes vermochte Churon nichts weiter zu erkennen als flaches Gras- und Buschland. Auch die Felsen sahen völlig natürlich aus. Keine Spur einer Besiedlung war zu erkennen.

Er machte seiner Enttäuschung Luft. „Der Ort, den du suchst, muss von der Erde verschluckt worden sein.“

„Da hast Du gar nicht mal so unrecht. Vor uns liegt tatsächlich die große Totenstadt und Fluchtburg Tjelxan, erbaut vom Volk der Crin Tjeng.“

Churon grübelte darüber, ob er einem schlechten Scherz aufgesessen war, oder ob sein Begleiter den Verstand verloren hatte. „Was...“

„Die Stadt liegt hinter der Felswand, in den Höhlen, die der Fluss geschaffen hat. Du musst wissen, dass dies alles sehr weiches Gestein ist, sehr leicht formbar. Der unterirdische Flusslauf hat die Höhlen im Verlauf vieler Jahrtausende aus dem Fels gewaschen. Wir sehen dort nur einen kleinen Eingang. Meine Vorfahren haben die Höhlen künstlich erweitert und nach ihren Vorstellungen geformt.“

„Vielleicht stimmt ja wirklich, was du sagst“, erwiderte Churon skeptisch. „Aber wie soll man dort hineinkommen? Ich sehe keinen Eingang außer dem, aus dem das Wasser strömt.“

„Oh, vielleicht gibt es tatsächlich irgendwo verborgen einen zweiten Eingang. Aber es wäre sinnlos, danach zu suchen. Hier bei der Öffnung gab es früher einmal einen Weg am Wasser entlang ins innere, über Treppen und Stege, aber dies alles ist natürlich in den vielen Jahren längst verwittert und verfallen. Damals, als die Höhlen ausgebaut wurden, hatte man die Öffnung, in welcher der Fluss auf der anderen Seite versickerte, versiegelt. Auf diese Weise staute sich das Wasser im Tal, das dann zum See wurde, und die Höhlen wurden trockengelegt. So konnten sie dort in Ruhe die Grabkammern und Vorratsräume anlegen. Später öffneten sie das Fluttor wieder, und der Fluss überspülte den unteren Teil der Anlagen.“

„Das Fluttor?“

Der Jarxri sah sich zu Churon um. „Die Handwerkskunst meiner Ahnen war weiter entwickelt, als du es dir je vorstellen könntest. Sie hatten den jenseitigen Eingang nicht einfach verschüttet, sondern eine Vorrichtung erdacht, mit der Sie die Öffnung nicht nur fast vollständig verschließen, sondern auch später wieder öffnen konnten. So weit ich es weiß, nutzten Sie dafür sogar den gewaltigen Druck des Wasser aus.“

„Das ist ja schön und gut. Aber wie kommen wir heute in das Innere?“

Churon musterte die Felswand nachdenklich. Plötzlich zuckte er zusammen, als ein Schrei irgendwo über ihnen, in der Nähe der Felskante ertönte. Es war ein kurzer, aber äußerst unangenehmer Laut, der etwas von dem Krächzen einer Krähe, dem Schrei einer Möwe und einem fremdartigen, nicht genau zu beschreibenden Ton an sich hatte. Als die beiden Reiter in die Richtung des Geräusches sahen, schoss dort von einer Klippe ein dunkler Schatten in die Höhe, der mit raschen Flügelschlägen in den nördlichen Himmel entschwand.

Für einen kurzen Augenblick saßen sie völlig regungslos auf ihren Pferden und starrten der Gestalt nach.

„Was kann das sein?“ fragte Sharezar schließlich. „Für einen Raubvogel sieht es mir zu groß aus.“

„Ein Späher“, antwortete Churon kurz angebunden und fluchte leise vor sich hin.