Unheimliche Dimensionen

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Inhalt

Pembroke

Carpe Noctem

Ein Bewohner von Carcosa

Die Dinge, die bleiben

Pembroke

Ronald Malfi

Von außen wirkte Pembrokes Laden für gebrauchte und seltene Bücher eher unscheinbar. Das kleine Geschäft hatte einen engen Platz zwischen einer traurigen Bierstube und der Filiale einer Hypothekenbank an einem von Klinker dominierten Boulevard in der historischen Altstadt von Ellicott City. Der Inhaber, Arthur Pembroke, war seit fast drei Jahrzehnten an diesem Platz im Geschäft, doch trotz des Bekanntheitsgrads der Buchhandlung als fester Bestandteil des Viertels fanden nur wenige Besucher den Weg in den Laden. Es wussten sogar nur wenige Menschen, dass es ihn gab. Das kam Pembroke nur gelegen: er war Mitte sechzig und sein Leben lang Junggeselle geblieben. So hatte er seine größte Freude an den ruhigen Nachmittagen im Laden, an denen er unbehelligt von Touristen oder den gelegentlichen Möchtegernkunstfreunden blieb, die nur die Regale durchstöberten, aber letztlich doch nichts kauften. Pembroke zahlte nicht viel Miete, die Betriebskosten waren überschaubar und Personal hatte er auch keines zu bezahlen, abgesehen von Tom DeLilly, der dienstags und donnerstags vorbeikam, um den Laden in Ordnung zu bringen.

Wovon Pembroke eigentlich lebte, waren die wenigen treuen Stammkunden, zu denen er mit den Jahren ein Verhältnis auf höflicher, aber rein professioneller Ebene aufgebaut hatte – passionierte Sammler seltener Bücher, die den Buchladen gelegentlich aufsuchten, wenn sie besondere Wünsche an Pembroke richteten (die sie auf reichlich verschwörerische und höchst verdächtige Art äußerten, als seien sie auf der Suche nach illegalen Geschäften). Jemand hat zum Beispiel von einem ganz speziellen Buch über Hexenkunst gehört – ob Pembroke wohl eine Ausgabe auftreiben könne? Oder jemand hat Interesse an einem außergewöhnlichen rumänischen Werk über Schwarze Magie – ob sich da etwas machen ließe? Ein anderer hingegen hat vielleicht die Befürchtung, seine Frau gehe ihm fremd und ihm seien Gerüchte zu Ohren gekommen, es gebe ein Buch, das ihm auf die eine oder andere Art behilflich sein könne (ohne dass die untreue Gattin dabei zu Schaden kommt, natürlich) – möglicherweise könne Pembroke ihm helfen?

Solch exotische Wünsche erfüllte er häufig, also wunderte er sich zunächst gar nicht über das Paket, das am Montagmorgen auf den Stufen vor der Tür des Buchladens lag. Er nahm an, es handele sich dabei um eine der Bestellungen, die er kürzlich aufgegeben hatte. Das Päckchen hatte durchaus die Form eines Buches – ein großer Klotz, der aussah wie ein Wörterbuch, dachte Pembroke – und war in braunes Metzgerpapier eingewickelt. Eine fransige Paketschnur hielt das ganze zusammen. Die Verpackung war etwas seltsam, aber nicht unbedingt ungewöhnlich – zumindest nicht ungewöhnlich genug, dass Pembroke lange darüber nachdenken musste. Was jedoch ungewöhnlich war, fiel ihm auf, als er das schwere Paket von der Treppe aufhob und in den Laden trug: Es befanden sich keine Beschriftung, keine Etiketten, keine Adressen und keine Briefmarken darauf. Pembroke dachte eine Zeitlang darüber nach, nachdem er das Buch auf den Tresen gelegt und sich aus seiner Tweedjacke befreit hatte. Dann bemerkte er, dass er noch ewig so auf das unscheinbare braune Papier starren könnte, also löste Pembroke die Schnur, die drahtigen Augenbrauen dabei über den kreisrunden Gläsern seiner Brille hochgezogen, und entfernte das Papier.

Die Oberfläche von Buchdeckel und -rücken wies eine grobe Struktur auf, der Farbton war grünlich-gelb und mit einer Art winziger fadenartiger Fasern durchzogen. Das Cover wirkte sehr pflanzenartig und erinnerte Pembroke an handgerollte Zigarren, wie er sie sich gelegentlich zu genehmigen pflegte. Weder auf dem Cover noch auf dem recht breiten Buchrücken waren Titel oder Autor eingeprägt. Das war an sich auch nichts Besonderes; ungewöhnlich war nur, dass auch auf der Titelseite keinerlei Informationen zu Titel oder Autor angegeben waren. Es gab nicht einmal einen Copyright-Vermerk oder einen Hinweis auf Verlag oder Herausgeber. Das Buch war umfangreich – vielleicht so um die 800 Seiten –, aber als Pembroke vorsichtig Seite für Seite umblätterte (mit jeder Sekunde intensiver und eifriger), sah er, dass es keine Seitenzahlen gab, keine Überschriften oder Fußnoten – im ganzen Buch gab es überhaupt keinen gedruckten Text.

Er stand da, starrte hinunter auf das leere Buch und fragte sich, ob ihm jemand einen Streich spielen wollte. Tom DeLilly hatte große Freude daran, Gummispinnen zwischen den Büchern zu verstecken oder die Selbsthilfebücher umzustellen, so dass die Kunden ironischerweise Hilfe brauchten, sie zu finden. Diese Sache hier jedoch, so Pembrokes Meinung, ging über Verstand und Fähigkeiten von Tom hinaus.

Vielleicht soll es ein Tagebuch darstellen, vermutete er, oder ein Skizzenbuch. Das würde das Fehlen von Titel, Autor und Text erklären.

Zufrieden mit dieser Antwort machte er das Buch zu und steckte es unter den Tresen. Im Hinterkopf jedoch wunderte er sich über das mysteriöse Auftauchen des Buches. Wenn es ein Tagebuch oder Skizzenbuch war, dann hatte er es nicht bestellt.

***

Pembroke kümmerte sich den Vormittag über größtenteils um seine Geschäfte, rief Kunden an, um ihnen mitzuteilen, dass ihre Bücher eingetroffen seien und ging ans Telefon, wenn es klingelte, weil sich wie üblich jemand verwählt hatte. Irgendwann am späten Vormittag machte er es sich im hinteren Teil des Ladens auf einem knarrenden Holzstuhl mit Armlehnen gemütlich und breitete das seltsame neue Buch auf seinem Schoß aus. Er blätterte Seite für Seite um und untersuchte das Papier dabei, als wolle er den Worten mit seinem Geist befehlen, zu erscheinen. Am Nachmittag nahm er das Buch mit hinaus und blätterte es durch, während er auf der Terrasse eines Straßencafés saß. Als jedoch die junge Kellnerin kam und skeptisch auf die leeren Seiten hinunterblickte, die Pembroke mit der Aufmerksamkeit eines Gelehrten musterte, schlug er das Buch zu und sah das Mädchen verärgert an. Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, das Buch mit hinauszunehmen.

Er machte sich eine gedankliche Notiz, Tom morgen wegen des Buches zu fragen; vielleicht hatte ja er es aus irgendeinem Grund bestellt. Als es aber Dienstag war und Tom frisch wie der Morgen und total aufgedreht durch die Eingangstür des Buchladens gestürmt kam – ting! machte die kleine Glocke über der Tür –, überkam Pembroke auf einmal ein eigenartiges Unbehagen.

„Guten Morgen, Arthur!“

Pembroke nickte Tom zu, als der jüngere Mann den schmalen Gang entlangeilte und seine Jacke über einen Rollwagen warf, auf dem sich stapelweise Taschenbücher türmten. Pembroke hatte gerade das geheimnisvolle Buch durchgeblättert, als Tom hereingekommen war; jetzt machte er das Buch schnell zu und verstaute es wieder unter dem Tresen. Er legte sogar noch ein anderes Buch darauf, als wolle er es verstecken. Dabei kam Tom sowieso nie hinter den Tresen.

„Gibt es heute irgendwelche neuen Bestellungen?“, frage Tom, während er Taschenbücher in ein Regal neben sich einsortierte.

„Nein“, antwortete Pembroke.

„Ich bin Mrs. Teatree im Giant-Supermarkt über den Weg gelaufen“, erzählte Tom. „Sie ist noch ganz hin und weg von dieser Ausgabe von ‚Geheime Wege‘, die sie letzten Monat bekommen hat.“ Tom kicherte fröhlich. „Komische alte Schachtel.“

Pembroke nickte schweigend.

Gegen drei Uhr nachmittags, als Tom gerade im Hinterzimmer versuchte, ein Bücherregal zusammenzubauen, betrat ein Mann das Geschäft, was durch das Bimmeln der kleinen Glocke über der Tür angekündigt wurde. Pembroke, der gerade hinter dem Tresen saß und seine ganzen Bücher in einem großen Bestandsbuch aufnahm, sah auf und musterte den Kerl. Der Mann, der beeindruckend hochgewachsen war, trug einen langen aschgrauen Trenchcoat und einen Humphrey-Bogart-Fedora in derselben Farbe. Unter dem Fedora sah ein langes, hageres und kantiges Gesicht hervor, mit einem Kinn, das aussah, als habe es ein Bildhauer zum perfekten Rechteck gehauen. Er hatte die entstellte Nase eines Berufsboxers und einen starren Mund, der eigentlich nur ein lippenloser Schlitz war. Seine Augen waren klein, aber aufmerksam – wie bei einer Ratte – und sie musterten den kleinen Buchladen, während der Mann regungslos im Eingang stehen blieb.

„Guten Tag“, grüßte Pembroke und machte das Bestandsbuch zu.

Der Mann sah ihn an, offensichtlich verwundert über Pembrokes Stimme. Sein großes, ausdrucksloses Gesicht formte etwas, das entfernt an ein Lächeln erinnerte. Die Rattenäuglein funkelten wie zwei Öltropfen. Er nahm seinen Hut ab, ging zu Pembroke an den Tresen und sagte: „Guten Tag, Sir. Ein nettes Geschäft haben Sie da.“ Seine Stimme war seidenweich.

„Vielen Dank“, erwiderte Pembroke. „Suchen Sie etwas Bestimmtes, was ich helfen kann, zu finden?“

„Das hoffe ich.“ Das Lächeln des Mannes hielt an. „Ich habe einen recht speziellen Wunsch.“

In genau diesem Moment wusste Pembroke, wonach der Mann suchte. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.

„Das Buch hat keinen Namen“, erklärte der Mann. „Genauer gesagt ist es eins von zwei Büchern. Wie Yin und Yang, könnte man sagen.“ Das Lächeln des Mannes wurde erstaunlicherweise breiter und entblößte seine Haifischzähne. „Das Buch, das ich suche, ist sehr groß und in einem seltenen natürlichen Einband gebunden.“

„Sie müssen da schon etwas präziser werden“, entgegnete Pembroke.

 

Das Lächeln des Mannes ließ nach. „Muss ich?“, wunderte er sich.

„Wie lautet der Name des Autors?“ Pembroke holte einen Stapel Papier unter dem Tresen hervor, auf dem Tom das ganze Inventar alphabetisch nach Autoren sortiert gedruckt hatte (mit seinem eigenen Computer).

„Es gibt keinen Autor“, sagte der Mann. Das Lächeln war jetzt völlig verschwunden. „Beziehungsweise gibt es, um genauer zu sein, mehrere Autoren. Ich glaube jedoch, guter Freund, dass Sie dieses Buch eher nicht auf Ihrer Inventurliste finden werden.“

Pembroke schob den Stapel zur Seite. Er zog ein weißes Taschentuch aus der Brusttasche seines engsitzenden Oxfordhemds und tupfte sich damit die Stirn ab.

„Ich habe Grund zu der Annahme“, fuhr der Mann fort, „dass dieses besondere Buch wohl aus Versehen gestern früh an diese Anschrift geliefert worden sein könnte.“

Pembroke schüttelte langsam den Kopf. „Wir haben gestern keine Lieferungen erhalten.“

Der Mann zog kaum wahrnehmbar eine seiner langen, schmalen Augenbrauen hoch. Er räusperte sich und sagte: „Vielleicht haben wir falsch angefangen, Mister …?“

„Pembroke“, antwortete Pembroke.

„Pembroke“, wiederholte der Mann. „Ich heiße Selwyn, Mr. Pembroke. Ich arbeite für eine Vereinigung wohlhabender Akademiker, die über die ganze Welt verteilt sind und die mir ihre persönlichen, äh, Angelegenheiten anvertrauen. Dieses Buch, Mr. Pembroke, war gerade von einem meiner Kunden zu einem anderen unterwegs. Natürlich überwache ich für gewöhnlich derartige Lieferungen persönlich, jedoch wurde in dieser Sache anderweitig verfahren. Bedauerlicherweise.“ Den letzten Teil fügte er mit unverhohlener Verachtung hinzu, als sei es irgendwie die Schuld von Pembroke, dass das Buch auf dem Postweg verloren gegangen war. „Es wäre für alle Beteiligten höchst unangenehm, Mr. Pembroke, wenn ich nicht in der Lage wäre, dieses Buch aufzuspüren und zurückzufordern.“ Erneut hob sich die schmale Augenbraue kaum merklich, als Selwyn fortfuhr: „Für alle Beteiligten.“

In diesem Moment kam Tom mit dem Bücherregal aus dem Hinterzimmer. Er blieb mit plötzlich erstauntem Gesichtsausdruck stehen, als er sah, dass Pembroke mit dem Mann beschäftigt war. Dann jedoch lächelte er sein College-Boy-Lächeln und rief inbrünstig: „Hallo! Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?“

Selwyn wandte seinen Blick nicht von Pembrokes Augen. Einen Augenblick später sagte Selwyn: „Nein danke, mein Junge. Ich wollte gerade gehen.“ An Pembroke gewandt fügte er hinzu: „Hier haben Sie meine Karte, falls Sie zufällig auf das besagte Buch stoßen. Ich würde eine rasche Benachrichtigung sehr schätzen. Es wäre das Beste für – nun, für alle, wenn diese Sache lieber früher als später als erledigt betrachtet werden könnte.“

Selwyn legte eine kleine weiße Visitenkarte auf den Tresen, dann setzte er seinen Fedora wieder auf und spazierte hinaus ins Tageslicht. Pembroke sah hinunter. Auf der Karte standen nur der Name SELWYN und eine kostenfreie Rufnummer darunter.

***

Am Abend fand Pembroke keinen Schlaf, so sehr hatte er Angst. Es war ein Fehler, das Buch über Nacht im Laden zu lassen; er stellte sich immer wieder vor, wie der große, hagere Fremde einbrach und es stahl. Gegen zwei Uhr morgens, als seine Hände vor Anspannung schon zitterten, zog sich Pembroke an und ging hinaus auf die dunkle Straße. Er ließ die fünf Blocks bis zum Buchladen im Nu ohne Zwischenfall hinter sich. Dabei sah er aber ständig über seine Schulter, denn er fürchtete, jemand könne aus den Schatten treten und ihn verfolgen.

Als er im Buchladen ankam, ging er sofort hinter den Tresen und griff nach dem Buch – es war aber nicht mehr da. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder und er knöpfte sogleich sein Hemd auf, damit er Luft bekam. Er tupfte sich die Stirn mit dem Taschentuch ab und lugte in all die kleinen Fächer und Winkel unter dem Tresen, in der Annahme, er könne das Buch vielleicht selbst verlegt haben. Als er es trotzdem nicht fand, verschlimmerte sich seine Panik. Die Ladentür war fest verschlossen gewesen und die Fenster wiesen ebenfalls keine Einbruchsspuren auf. Dieser seltsame Kerl musste wohl andere Methoden angewandt haben, um hier herein zu gelangen und sich mit dem Buch davonzumachen.

„Ich werde die Polizei rufen und einen Einbruch melden“, sagte er und ging hinter dem Tresen hin und her, wobei er ruckartig immer wieder mit dem Taschentuch über seine Stirn wischte. Er war sich gar nicht bewusst, dass er laut sprach. „Ja, genau – ein Einbruch. Gewaltsames Eindringen. Und ich kann den komischen Typen von vorhin einem Phantomzeichner beschreiben.“ Jedoch wusste er selbst in seiner Verzweiflung, dass er nicht die Polizei holen konnte. Die Tür war nicht aufgebrochen, die Fenster waren noch ganz. Außerdem fehlte im Geschäft nichts, außer den Sachen, die Pembroke unter dem Tresen aufbewahrt hatte.

Da fiel ihm erst auf, dass unter dem Tresen alles fehlte – die gedruckte Inventurliste, die Bücher, die für besondere Kunden zurückgelegt worden waren, sowie das Bestandsbuch. Er überlegte einen Augenblick lang. Da ihn der Besuch des Mannes am vergangenen Nachmittag etwas verunsichert hatte, war Pembroke früher nach Hause gegangen und hatte Tom alleine im Geschäft zurückgelassen.

Pembroke schnaubte, ging in die Hocke und nahm die Regalböden unter dem Tresen genauer unter die Lupe. Als er etwas kleines, dunkles sah – einen schwarzen Fleck im Schatten eines kleinen Fachs –, griff er danach und holte es hervor. Es war eine von Toms dämlichen Gummispinnen. Erneut überkam ihn die Panik – was, wenn Tom das Buch genommen hatte? Dann fiel sein Blick jedoch auf den Rollwagen, wo er das Bestandsbuch, die Inventurliste, die für Kunden reservierten Bücher und das Buch ohne Namen fand.

Erleichterung machte sich in ihm breit. Er eilte zu dem Wagen und zog das Buch grob aus dem Stapel, so dass andere zu Boden fielen. Das Buch fest an die Brust gepresst ging er zu dem kleinen Lesepult hinten im Laden, schaltete die Wandlampe an und schlug das Buch auf.

Er beschäftigte sich stundenlang mit dem Buch – man konnte es nicht wirklich „lesen“ nennen, denn es gab ja keine Worte, im Grunde aber war es genau das, was Pembroke tat. Denn auf den Seiten standen irgendwie Worte, oder nicht? Zumindest standen Geschichten da geschrieben. Obwohl er die Worte nicht sehen konnte, wusste er doch, dass sie da waren.

Dann fielen ihm zwei wirklich seltsame Dinge direkt hintereinander auf, als hätte eins zum anderen geführt. Das erste, was er bemerkte, war, dass seine Fingerkuppen, seine Handflächen und die Unterseite seiner Handgelenke schmutzig und grau geworden waren. Da er seit drei Jahrzehnten mit alten Büchern zu tun hatte, wusste Pembroke sofort, worum es sich dabei handelte, auch wenn es ihn verwunderte, dass es von dem Buch stammen könnte, das ausgebreitet vor ihm lag: Es waren Flecken, die man normalerweise von der Druckerschwärze auf Buchseiten bekam. Hätte er irgendein anderes Buch gelesen, wäre ihm das völlig normal vorgekommen. Bei diesem Buch jedoch … Nun, es gab ja keinen Text, der Flecken verursachen konnte. Aber die Flecken waren da.

Als zweites fiel ihm auf, dass sich am Rand einer der Seiten unten rechts ein bräunlich-dunkler Streifen befand. Er war schmal und wäre wohl niemandem außer Pembroke aufgefallen, der nicht anders konnte, als jede einzelne Seite, jede Einzelheit des Buches genau zu untersuchen. Seit das Buch am Montagmorgen aufgetaucht war, hatte er jede Seite mehrmals studiert und er wusste, dass der Streifen vorher nicht da gewesen war. Pembroke war der Meinung, dass es wie Blut aussah.

***

Am nächsten Tag, Mittwoch, hatte Pembroke Mühe, im Geschäft wach zu bleiben, denn er hatte die vergangene Nacht damit zugebracht, sich über den Streifen Blut auf der Buchseite Gedanken zu machen, während er gleichzeitig versucht hatte, die verschmierte Druckerschwärze von seinen Fingern, Handflächen und Handgelenken abzuwaschen. Die Flecken wollten jedoch einfach nicht verschwinden; sie schienen im Gegenteil sogar dichter und deutlicher zu werden, so dass sie schließlich fast wie blaue Flecke aussahen. Er versuchte, sich einzureden, dass die Flecken von etwas anderem stammten, aber er konnte nicht leugnen, was er tief drin glaubte – dass sie von dem geheimnisvollen Buch stammten.

Als die Glocke über der Tür klingelte, sah Pembroke vom Tresen auf – er hatte gerade den Blutfleck auf der Seite unter die Lupe genommen – und war besorgt, es könne wieder der Mann mit dem Fedora sein: Selwyn. Aber es war nur Mrs. Teatree, rotgesichtig und stämmig, in einem grellbunt geblümten Kleid und mit einer strassbesetzten Handtasche. Sie tauschten ein paar Höflichkeiten aus, so wie es für gewöhnlich der Fall war. Pembroke bemerkte zum ersten Mal die großen dunklen Poren im Gesicht von Mrs. Teatree, von der jede einzelne einen glänzenden Schweißtropfen beherbergte. Bisher war ihm ihre Anwesenheit noch nie unangenehm gewesen, aber jetzt überkam ihn regelrechtes Unwohlsein in ihrer Nähe. Er gab ihr nur rasch ihre vorbestellten Bücher, ohne ihre kurzen Wurstfinger dabei zu berühren. Als sie aus dem Laden watschelte, atmete Pembroke zitternd auf. Als die Klingel über der Tür wieder ertönte, sah Pembroke erneut auf. Selwyn kam in den Laden und musterte eingehend die Bücherregale, die vom Boden bis zur Decke reichten, so, wie er es schon beim ersten Mal getan hatte. Als er sich Pembroke zuwandte, nahm er seinen aschfarbenen Fedora ab und setzte sein düsteres Haifischlächeln auf.

„Nun“, begann Selwyn und ging auf den Tresen zu.

Pembroke war gerade dabei gewesen, seine Hände mit einem feuchten Lappen abzuwischen. Als Selwyn näherkam, ließ Pembroke den Lappen unter dem Tresen verschwinden und versteckte darunter das Buch ohne Namen, das bei Selwyns Ankunft zum Glück dort unten lag.

„Guten Tag“, grüßte Pembroke mit nervöser Stimme. „Mr. Selwyn, wenn ich mich erinnere.“

„Nur Selwyn“, erwiderte der Mann. Er hielt seinen Fedora in seinen Händen, die in Lederhandschuhen steckten und fuhr mit den Fingern an der Krempe entlang. „Ich hatte gehofft, dass wir heute vielleicht das Thema von gestern aus einem neuen Blickwinkel wieder aufgreifen könnten.“

„Ach?“, sagte Pembroke. Als Selwyn seinen Blick zu den fleckigen Malen auf Pembrokes Händen und Handgelenken wandern ließ, steckte dieser instinktiv seine Hände in die Taschen seiner Cordhosen.

„Sie haben den Ruf, jedes Buch auftreiben zu können, egal, wie selten es ist“, sagte Selwyn. „Ist das richtig?“

„Im Wesentlichen ja“, antwortete Pembroke.

Selwyns scharfes Lächeln flackerte auf und verschwand dann genauso plötzlich. „Ich versuche gerade, ein Buch ausfindig zu machen, das einem meiner Klienten verloren gegangen ist. Es ist auf dem Weg zu einem anderen Kunden verschwunden, worüber beide sehr bestürzt sind. Sie sind übrigens auch beide sehr wohlhabend. Ich versichere Ihnen, dass sie bereit wären, jede Summe zu bezahlen, wenn es jemandem gelänge, das Buch aufzutreiben und er es ihnen, nun ja, verkaufen würde.“

„Ich benötige unbedingt den Namen eines Autors und den Titel des Buches. Wenn Ihre Kunden nach einer speziellen Ausgabe suchen, brauche ich auch noch Informationen über den Verlag. Aber“, fügte Pembroke rasch hinzu, „ich kann Ihnen nichts versprechen. Ich fürchte, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es einige Bücher zu bevorzugen scheinen, im Dunkel zu bleiben.“

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