Read the book: «Die letzte Analyse»
Amanda Cross
Die letzte Analyse
Ein Fall für Kate Fansler
Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen von
Monika Blaich und Klaus Kamberger
DÖRLEMANN
Die amerikanische Originalausgabe »In the Last Analysis« erschien 1964 bei Macmillan, New York.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Copyright © 1964 by Carolyn G. Heilbrun
© 2021 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung einer Illustration von Anna Sommer
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-03820-988-1
Inhalt
Cover
Titelei und Impressum
Inhalt
Prolog
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
Epilog
Zur Autorin und zu ihren Übersetzern
Zum Buch
Prolog
»Ich habe nicht gesagt, ich hätte etwas gegen Freud«, sagte Kate. »Ich habe gesagt, dass ich etwas gegen das habe, was Joyce Freud’sche Fehlleistungen nennt – all diese unsinnigen Schlussfolgerungen, die von Leuten gezogen werden, denen es an Zurückhaltung und Verstand mangelt.«
»Wenn du vorhast, die Psychiatrie für alle möglichen sadistischen Gesellschaftsspiele verantwortlich zu machen, sehe ich keinen Sinn darin, unsere Diskussion fortzusetzen«, antwortete Emanuel. Aber natürlich würden sie die Diskussion dennoch fortsetzen; die dauerte schließlich schon Jahre, und Ermüdungserscheinungen waren nicht zu erkennen.
»Übrigens«, sagte Kate, »ich habe dir eine Patientin geschickt. Jedenfalls hat mich eine Studentin gebeten, ihr einen Psychoanalytiker zu empfehlen, und ich habe ihr deinen Namen und deine Adresse gegeben. Ich habe keine Ahnung, ob sie sich melden wird, aber ich glaube schon. Sie heißt Janet Harrison.« Kate ging zum Fenster und schaute hinaus in das raue, stürmische Wetter. Es war jene Art von Januartag, an dem sogar sie, die sie den Frühling verabscheute, sich nach ihm sehnte.
»Bedenkt man die Meinung, die du von der Psychiatrie hast«, sagte Nicola, »müsste sich Emanuel eigentlich recht geehrt fühlen. Schau geehrt drein, Emanuel!« Nicola, Emanuels Frau, verfolgte diese Diskussion, wie eine Zuschauerin bei einem Tennismatch dem Ball mit den Augen folgt, immer mit dem Kopf hin und her. Es war ihr gelungen, der Psychiatrie gegenüber einen vertrauensvollen Standpunkt einzunehmen, ohne dabei auf ihr Recht auf Kritik zu verzichten, und so applaudierte sie den gelungenen Bällen und stöhnte bei Fehlschlägen. Kate und Emanuel fanden Nicola ein ideales Publikum und hatten an ihren Wettkämpfen nicht nur deswegen ihren Spaß, weil dabei manchmal neue Einsichten herauskamen, sondern auch, weil es sie reizte, sich gegenseitig aus der Fassung zu bringen, ohne einander je zu verletzen. Nicola hatte für beide ein Lächeln.
»Es ist nicht Freud selbst, der zum Widerspruch reizt«, sagte Kate, »und auch nicht die Vielzahl von Theorien, die er entwickelt hat. Es ist die Art, wie sich seine Ideen in der modernen Welt verbreitet haben. Ich muss immer an die Geschichte von dem Japaner und der Heiligen Dreifaltigkeit denken: ›Ehrenwerter Vater, sehr gut; Ehrenwerter Sohn, sehr gut; aber Ehrenwerter Vogel – das verstehe ich einfach nicht.‹«
»Deine Sprüche«, sagte Emanuel, »beleben zwar immer wieder das Gespräch, aber die Diskussion bringen sie nicht weiter.«
»Der einzige Spruch, der mir einfällt«, sagte Nicola, während sie sich umdrehte und nun ihrerseits zum Fenster ging, »ist: ›Auf Regen folgt Sonne.‹«
Wie sich herausstellte, war das die bedeutendste Bemerkung, die an diesem Nachmittag gemacht wurde.
1
Jemand hatte mit Kreide »April ist der grausamste Monat« auf die Stufen der Baldwin Hall geschrieben. Unbeeindruckt von der Belesenheit, die dahintersteckte, stimmte Kate dem Satz innerlich zu. Der Frühling auf einem amerikanischen Universitätsgelände, selbst auf einem städtischen wie diesem, ließ die Fakultät unvermeidlich in eine Stimmung von Mattigkeit, Gereiztheit und Überdruss verfallen. Vielleicht, dachte Kate, ist das so, weil wir älter werden, während die Studenten, wie die Volksmassen Caesars auf der Via Appia, immer gleich alt bleiben. Sie warf einen Blick auf die Studenten, die auf jedem erreichbaren Rasenstück lagerten oder miteinander schmusten, und sie sehnte sich, wie jedes Mal im Frühling, nach einem würdevolleren, weniger unordentlichen Zeitalter. »Die Jungen, einer in des anderen Armen«, hatte Yeats geklagt.
Das sagte sie auch zu Professor Anderson, der ebenfalls stehengeblieben war, um über die Botschaft aus Kreide zu sinnieren. »Zu dieser Jahreszeit«, sagte er, »möchte ich mich immer am liebsten in einen dunklen Raum zurückziehen, die Vorhänge schließen und Bach spielen. Wissen Sie«, sagte er und betrachtete immer noch das Eliot-Zitat, »eigentlich hat die Millay es besser ausgedrückt: ›Zu welchem Zweck, April, kehrst du zurück?‹« Kate war einigermaßen überrascht, denn Professor Anderson war ein Mann, der in der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts lebte und eine ausgeprägte Abneigung gegen alle weiblichen Schriftsteller nach Jane Austen hegte. Sie betraten zusammen das Gebäude und stiegen die Stufen zum Englischen Seminar im ersten Stock hinauf. Das war es, tatsächlich: Was immer man erwartete, der April sorgte für Überraschungen.
Auf der Bank vor Kates Büro saßen Studenten, die auf ihre Sprechstunde warteten. Auch das war ein Symptom des Frühlings. Die guten Studenten verschwanden entweder vollkommen vom Campus, oder sie tauchten zu den seltsamsten Zeiten auf und wollten höchst absonderliche Gesichtspunkte einer Interpretation diskutieren. Die mittelmäßigen, vor allem die ärmeren unter ihnen, fingen an, sich um ihre Noten Gedanken zu machen. Der April rührte düstere Gedanken auf und erinnerte sie daran, dass die Zeit der Notengebung nahte und die B-Note, die sie sich voller Selbstvertrauen zum Ziel gesetzt hatten, unendlich weit entfernt war. Die saßen jetzt hier, um mit ihr darüber zu reden. Kate seufzte, als sie die Tür zu ihrem Büro aufschloss, hielt dann aber inne, überrascht und ärgerlich. Ein Mann stand am Fenster und wandte sich um, als sie eintrat.
»Bitte, kommen Sie herein, Miss Fansler. Vielleicht sollte ich Frau Doktor sagen oder Professor; ich bin Captain Stern von der Kriminalpolizei. Ich habe der Sekretärin draußen im Vorzimmer meinen Ausweis gezeigt, und sie hat mir vorgeschlagen, ich sollte vielleicht besser hier drinnen warten. Sie war so freundlich, mich hereinzulassen. Ich habe nichts durcheinandergebracht. Wollen Sie sich nicht setzen?«
»Ich versichere Ihnen, Captain«, sagte Kate und setzte sich an ihren Schreibtisch, »ich weiß nur sehr wenig über das Privatleben meiner Studenten. Ist einer von ihnen in Schwierigkeiten?« Sie sah den Kriminalbeamten mit Interesse an. Als leidenschaftliche Leserin von Kriminalromanen wurde sie nie den Verdacht los, dass Detektive im wirklichen Leben ganz schrecklich normale Menschen waren, von der Sorte, die zwar mit den kurzen Antworten bei ihren Verhören gut zurechtkamen (zumal sich bei den Niederschriften dann noch einiges korrigieren ließ), komplexe Gedanken, ob literarische oder andere, aber als Belästigung empfanden; von der Sorte, die harte Fakten liebten und auf das Bedürfnis nach Differenzierungen mit Abscheu reagierten.
»Wären Sie wohl so freundlich, Miss Fansler, mir zu sagen, was Sie gestern bis zwölf Uhr mittags getan haben?«
»Was ich getan habe? Also wirklich, Captain Stern, ich versichere Ihnen nachdrücklich, dass …«
»Bitte, seien Sie so freundlich und beantworten Sie nur meine Frage, Miss Fansler. Meine Gründe werde ich Ihnen sofort erklären. Also, gestern Morgen.«
Kate starrte ihn an und zuckte dann mit den Schultern. Wie es die unglückliche Angewohnheit von Leuten ist, die mit Literatur zu tun haben, stellte sie sich schon vor, wie sie dieses außergewöhnliche Ereignis weitererzählen würde. Sie fing den Blick des Kriminalbeamten auf und griff nach einer Zigarette. Er gab ihr Feuer und wartete geduldig. »Donnerstags halte ich keine Vorlesungen«, sagte sie. »Ich schreibe an einem Buch, und ich habe gestern den ganzen Vormittag im Magazin der Bibliothek verbracht und Artikel aus Zeitungen des neunzehnten Jahrhunderts zusammengesucht. Ich war dort bis kurz vor eins, habe mich dann frisch gemacht und mit Professor Popper zum Lunch getroffen. Wir haben im Club der Fakultät gegessen.«
»Leben Sie allein, Miss Fansler?«
»Ja.«
»Wann kamen Sie in Ihrem ›Magazin‹ an?«
»Dieses Magazin, Captain Stern, bezeichnet den inneren Bereich der Bibliothek, in dem die Bücher aufbewahrt werden.« Wieso, fragte sie sich, fühlen sich Frauen eigentlich immer unangenehm berührt, wenn man sie fragt, ob sie allein leben? »Ich habe die Bibliothek gegen neun Uhr dreißig betreten.«
»Hat Sie irgendjemand im Magazin gesehen?«
»Jemand, der mir ein ›Alibi‹ geben könnte? Nein. Ich habe mir die Bände herausgesucht, die ich brauchte, und an den kleinen Tischen gearbeitet, die für den Zweck an der Wand aufgestellt sind. Verschiedene Leute müssen mich dort gesehen haben, aber ob sie mich erkannt haben oder sich an mich erinnern, das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Haben Sie eine Studentin namens Janet Harrison?«
In Büchern, dachte Kate, gingen Kriminalisten immer voller Enthusiasmus an ihre Arbeit, fast wie Ritter bei ihren Kreuzzügen. Aber wirklich klargemacht hatte sie sich bisher nicht, mit welchem Eifer sie tatsächlich an ihre Arbeit gingen. Gelegentlich waren sie natürlich verwandt mit den Angeklagten oder den Ermordeten oder in sie verliebt, doch ob sie nun ihre Ermittlungen beruflich führten oder als Amateurdetektive, sie waren mit großer Leidenschaft bei der Sache. Kate fragte sich, an welchen Dingen Captain Stern wohl sonst Interesse hatte, wenn überhaupt. Könnte sie ihn fragen, ob er allein lebe? Sicher nicht. »Janet Harrison? Sie gehörte zu meinen Studentinnen. Ich meine, sie hatte eine meiner Vorlesungen belegt, über den Roman im neunzehnten Jahrhundert. Das war im letzten Semester. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.« Kate dachte sehnsüchtig an Lord Peter Wimsey; der hätte an dieser Stelle jetzt sicherlich innegehalten und mit ihr ein Gespräch über den Roman im neunzehnten Jahrhundert angefangen. Captain Stern schien davon noch nie gehört zu haben.
»Haben Sie ihr empfohlen, sich an einen Psychoanalytiker zu wenden?«
»Großer Gott«, sagte Kate, »ist es das, worum es hier geht? Bestimmt überprüft die Polizei nicht alle Leute, die eine Analyse machen. Ich habe ihr nicht ›empfohlen‹, einen Psychoanalytiker aufzusuchen; ich fände es unpassend, so etwas zu tun. Als sie zu mir kam, hatte sie den Entschluss bereits gefasst oder zumindest den Rat bekommen, zu einem zu gehen. Sie fragte mich, ob ich ihr jemanden empfehlen könne, denn sie hatte gehört, wie wichtig es sei, einen wirklich kompetenten Menschen zu finden. Jetzt, wo Sie das erwähnen, weiß ich nicht einmal genau, warum sie damit zu mir kam. Ich vermute, wir nehmen nur allzu gern an, dass man uns als Monumente von Klugheit und natürliche Autoritäten auf den meisten Gebieten des Lebens betrachtet.«
Captain Sterns Miene zeigte kein bestätigendes Lächeln. »Haben Sie ihr also einen Psychoanalytiker empfohlen?«
»Ja, das habe ich tatsächlich.«
»Wie heißt der Analytiker, den Sie empfohlen haben?«
Kate wurde plötzlich ärgerlich. Ein Blick aus dem Fenster, wo der April überall Begehren in den Menschen weckte, trug auch nicht dazu bei, ihre Stimmung zu verbessern. Sie wandte sich vom Campus ab und richtete den Blick auf den Kriminalbeamten, den der April nicht anzurühren schien. Zweifellos waren für ihn alle Monate von gleicher Grausamkeit. Worum auch immer es sich hier handeln mochte – und ihre Neugier war einem ziemlichen Ärger gewichen –, hatte es irgendeinen Sinn, Emanuel da hineinzuziehen?
»Captain Stern«, fragte sie, »bin ich verpflichtet, diese Frage zu beantworten? Ich bin mir gar nicht sicher, was meine Rechte angeht, aber müsste man mich nicht darauf hinweisen oder mir sagen, worum es überhaupt geht, wenn ich schon verpflichtet wäre, auf Ihre Fragen zu antworten? Würde es vorerst genügen, wenn ich Ihnen versichere (obwohl ich es nicht beweisen kann), dass ich gestern Vormittag bis ein Uhr mit keinem einzigen menschlichen Wesen außer Thomas Carlyle zu tun hatte, dessen Tod vor mehr als einem halben Jahrhundert allerdings ausschließt, dass ich damit etwas zu tun haben könnte?«
Captain Stern nahm das nicht zur Kenntnis. »Sie sagen, Sie hätten Janet Harrison einen Psychoanalytiker empfohlen. War sie mit ihm zufrieden? Hatte sie vor, die Behandlung bei ihm länger fortzusetzen?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Kate und spürte so etwas wie Scham über ihren sarkastischen Ausbruch, »ich weiß nicht einmal, ob sie zu ihm gegangen ist. Ich habe ihr Namen, Adresse und Telefonnummer gegeben. Ihm gegenüber habe ich die Sache erwähnt. Von dem Augenblick an habe ich das Mädchen nicht mehr gesehen und auch keine Sekunde mehr an sie gedacht.«
»Gewiss hätte der Analytiker es Ihnen gegenüber erwähnt, wenn er sie als Patientin angenommen hätte. Vor allem«, fügte Captain Stern hinzu und zeigte damit zum ersten Mal, dass er schon einiges wusste, »wenn er ein guter Freund von Ihnen war.«
Kate starrte ihn an. Zumindest, dachte sie, spielen wir hier kein sinnloses Fragespiel. »Ich kann Sie natürlich nicht zwingen, das zu glauben, aber er hat es tatsächlich nicht erwähnt, und ein erstklassiger Analytiker täte das auch nicht, besonders dann nicht, wenn ich ihn gar nicht gefragt habe. Der Mann, von dem wir reden, ist Mitglied des New Yorker Instituts für Psychoanalyse, und es verstößt gegen deren Grundsätze, über einen Patienten zu sprechen. Das mag Ihnen befremdlich vorkommen, ist aber doch die schlichte Wahrheit.«
»Was für eine Art Mädchen war Janet Harrison?«
Kate lehnte sich in ihrem Sessel zurück und versuchte, die Intelligenz des Mannes einzuschätzen. Als Lehrerin am College hatte sie gelernt, dass man verfälscht, wenn man allzu sehr vereinfacht. Es gab nur eine Möglichkeit: das, was man meinte, auch möglichst klar zu sagen. Was mochte diese Janet Harrison wohl angestellt haben? Hatten die vor, ihre Labilität unter Beweis zu stellen? Wirklich, dieser lakonische Polizist war höchst anstrengend.
»Captain Stern, während die Studenten hier ihre Vorlesungen besuchen, geht ihr Leben weiter. Die meisten von ihnen leben nicht isoliert in Wohnheimen, sind nicht frei vom Druck ihrer Familien, von finanziellem Druck und von emotionalen Problemen aller Art. Sie sind in einem Alter, in dem sie, wenn sie nicht verheiratet sind – und das bringt wieder seine eigenen Probleme mit sich –, an der Liebe leiden oder an deren Mangel. Sie gehen mit jemandem ins Bett, den sie lieben – ein emotionaler Zustand –, oder sie gehen mit jemandem ins Bett, den sie nicht lieben – ein anderer Zustand –, oder sie gehen mit niemandem ins Bett, das wäre noch ein anderer. Manchmal sind sie farbig, oder sie sind die unreligiösen Kinder religiöser Eltern oder die religiösen Kinder unreligiöser Eltern. Manchmal sind es Frauen, die zwischen ihren intellektuellen Bedürfnissen und der Familie hin- und hergerissen sind. Oft stecken sie in Schwierigkeiten der einen oder anderen Art. Als Lehrer erfahren wir wenig von diesen Dingen, und wenn wir einmal etwas davon aufschnappen, dann spielen wir – wie soll ich es ausdrücken? – nicht den Priester, sondern die Kirche: Wir sind einfach da und machen weiter. Wir repräsentieren etwas, das fortbesteht – die Kunst, die Wissenschaft, die Geschichte. Natürlich haben wir auch ab und zu mal einen Studenten, der mit jedem Atemzug etwas von sich erzählt. Aber in den meisten Fällen erhalten wir nur einen ganz allgemeinen Eindruck, abgesehen natürlich von den eigentlichen Arbeiten der Studenten.«
»Sie fragen«, fuhr sie fort, »was für eine Art Mädchen Janet Harrison war? Ich erzähle Ihnen dies alles, damit Sie meine Antwort verstehen. Ich habe nur einen Eindruck von ihr. Wenn Sie fragen: War sie der Typ, der eine Bank überfällt?, würde ich sagen: Nein, der Typ schien sie nicht zu sein, aber ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen sagen könnte, warum. Sie war eine intelligente Studentin, ein gutes Stück über dem Durchschnitt. Ich hatte den Eindruck, sie wäre fähig, exzellente Arbeit zu leisten, wenn sie sich darauf konzentrierte, aber das hat sie nie getan. Es war, als wäre ein Teil von ihr immer abwesend und wartete ab, was wohl passieren würde. Nur, wissen Sie«, fügte Kate hinzu, »bevor Sie mich danach gefragt haben, habe ich auf die Art noch nie über sie nachgedacht.«
»Hatten Sie irgendeine Vorstellung, warum sie einen Psychoanalytiker aufsuchen wollte?«
»Nein, keine. Die Leute wenden sich heutzutage an einen Analytiker, wie sie sich früher an – ja, an wen? – an Gott, an ihren Pastor, an ihre Familie wandten. Ich erhebe nicht den Anspruch, ich wüsste da Bescheid. Ich habe Leute davon reden hören, wenn auch nur halb im Scherz, dass Eltern heute für die Analyse ihrer Kinder sparen wie früher für deren College-Erziehung. Ein junger Mensch, der sich in intellektuellen Kreisen bewegt, wendet sich heutzutage, wenn er ein Problem hat, an die Psychiatrie, und häufig werden ihm die Eltern dabei helfen, wenn sie können.«
»Und ein Psychiater, ein Psychoanalytiker akzeptiert jeden Patienten, der zu ihm kommt?«
»Natürlich nicht«, sagte Kate. »Aber Sie sind doch sicher nicht hergekommen, um von mir etwas über diese Dinge zu erfahren. Da gibt es eine ganze Reihe kompetenterer Leute …«
»Sie haben dieses Mädchen zu einem Psychoanalytiker geschickt, und er hat sie als Patientin angenommen. Von Ihnen würde ich jetzt gerne erfahren, warum Sie annahmen, dass sie zu einem Analytiker gehen sollte, und warum Sie annahmen, dass dieser Analytiker sie auch nehmen würde.«
»Das hier ist meine Sprechstunde«, sagte Kate. Nicht dass es ihr an diesem Apriltag etwas ausgemacht hätte, auf die Studenten zu verzichten (»Ich bin Student auf Probe bei Ihnen, Professor Fansler, und wenn ich nicht die Note B in Ihrem Seminar bekomme …«), aber wenn sie an die Studenten dachte, die draußen auf der Bank geduldig warteten und inzwischen schon dicht an dicht saßen … Doch Captain Stern hatte offenbar keine Bedenken, sich vorzudrängen. Vielleicht sollte sie Captain Stern zu Emanuel schicken. Plötzlich erschien ihr der Gedanke, an einem Frühlingstag in ihrem Büro zu sitzen und mit einem Kriminalbeamten über Psychiatrie zu diskutieren, vollkommen lächerlich. »Also, Captain Stern«, sagte sie, »was wollen Sie wissen? Bevor ein guter Analytiker einen Patienten annimmt, muss er sicher sein, dass der Patient sich für eine Analyse eignet. Der Patient muss über eine ausreichende Intelligenz verfügen, eine bestimmte Art von Problemen haben und eine gewisse Aussicht, sich frei zu entwickeln. Ein Psychotiker, sogar bestimmte Arten von Neurotikern sind nicht die richtigen Patienten. Vor allem muss ein Patient tatsächlich eine Analyse wollen, er muss den Wunsch haben, dass man ihm hilft. Andererseits glauben die meisten Analytiker, denen ich begegnet bin, dass jedem intelligenten Menschen durch eine gute Analyse geholfen werden kann, einen größeren Spielraum zu bekommen. Wenn man mich fragt, ob ich einen Analytiker empfehlen kann, dann empfehle ich einen guten, weil ich weiß, dass ein guter Analytiker nur einen Patienten annimmt, der sich für eine Analyse eignet, und zwar für eine Analyse bei diesem speziellen Analytiker. Genauer kann ich mich zu einem Thema, über das ich bemerkenswert wenig weiß, nicht ausdrücken, und jeder Analytiker, der mir jetzt zuhörte, würde wahrscheinlich vor Entsetzen aufschreien und sagen, ich läge völlig falsch, was ich wahrscheinlich auch tue. Also was, um alles in der Welt, hat Janet Harrison angestellt?«
»Sie ist ermordet worden.«
Captain Stern ließ den Satz in der Luft hängen. Vom Campusgelände drang der Frühlingslärm herein. Ein paar Verbindungsstudenten verkauften Lose, mit denen man ein Auto gewinnen konnte. Ein Schatten, wahrscheinlich ein Student, wanderte vor der Glastür zu Kates Büro hin und her.
»Ermordet?«, sagte Kate. »Aber ich wusste nichts von ihr. War es ein Überfall auf der Straße?« Plötzlich schien das Mädchen wieder vor ihrem inneren Auge aufzutauchen; es saß an dem Platz, wo Captain Stern jetzt saß. Du bist gelehrt, sprich du mit ihm, Horatio.
»Sie sagten, Miss Fansler, sie schien abzuwarten, was wohl passieren würde. Was haben Sie damit gemeint?«
»Habe ich das gesagt? Ich weiß nicht, was ich damit gemeint habe. Eine Redensart.«
»Gab es irgendetwas Persönliches zwischen Ihnen und Janet Harrison?«
»Nein. Sie war eine Studentin.« Plötzlich fiel Kate wieder seine erste Frage ein: Was haben Sie gestern Morgen gemacht? »Captain Stern, was hat das denn mit mir zu tun? Weil ich ihr den Namen eines Analytikers genannt habe und weil sie meine Studentin war, soll ich nun wissen, wer sie ermordet hat?«
Captain Stern stand auf. »Verzeihen Sie mir, dass ich Ihren Studenten die Zeit stehle, Miss Fansler. Wenn ich Sie noch einmal sprechen muss, werde ich versuchen, es zu einer passenderen Stunde zu tun. Danke für Ihre Bereitschaft, auf meine Fragen zu antworten.« Er stockte einen Augenblick, als ordne er seine Sätze.
»Janet Harrison wurde in der Praxis des Psychoanalytikers ermordet, zu dem Sie sie geschickt haben. Sein Name ist Emanuel Bauer. Sie war seit sieben Wochen seine Patientin. Sie wurde auf der Couch in seiner Praxis ermordet, auf der Couch, auf der, soviel ich weiß, die Patienten während der Therapiestunde liegen. Wir sind natürlich dringend daran interessiert, alles nur Mögliche über sie herauszubekommen. Scheinbar gibt es bemerkenswert wenige Informationen über sie. Für heute sage ich auf Wiedersehen, Miss Fansler.«
Kate starrte ihm nach, als er hinausging und die Tür hinter sich schloss. Sie hatte seinen Instinkt für dramatische Wendungen unterschätzt, das war ziemlich klar. Ich habe dir eine Patientin geschickt, Emanuel. Was hatte sie ihm geschickt? Wo war er jetzt? Gewiss nahm die Polizei nicht an, dass er eine Patientin auf der eigenen Couch erdolcht hatte. Aber wie war dann der Mörder hereingekommen? War Emanuel da gewesen? Sie hob den Telefonhörer und wählte eine 9, um eine Amtsleitung zu bekommen. Wie war seine Nummer? Sie hatte keine Lust, im Telefonbuch nachzublättern. Beim Wählen der 411 für die Auskunft bemerkte sie überrascht, dass ihre Hand zitterte. »Könnten Sie mir bitte die Nummer von Mrs Nicola Bauer, 879 Fifth Avenue, geben?« Emanuels Praxis war unter seinem Namen eingetragen, die private Nummer unter Nicolas, daran erinnerte sie sich. Das sollte verhindern, dass Patienten ihn zu Hause anriefen.
»Danke, Miss.« Sie schrieb die Nummer nicht auf, sondern sagte sie sich immer wieder vor. Trafalgar 9. Aber sie hatte vergessen, vorher wieder die 9 für eine Amtsleitung zu wählen. Noch einmal von vorn, und zwar langsam. Emanuel, was habe ich dir da eingebrockt? »Hallo!« Es war Pandora, das Mädchen der Bauers. Wie amüsant war ihr der Name einmal vorgekommen! »Pandora, hier ist Miss Fansler, Kate Fansler. Bitte, sagen Sie Mrs Bauer, dass ich sie sprechen muss.«
»Einen Augenblick, Miss Fansler, ich sehe nach.« Der Hörer wurde hingelegt. Kate konnte einen von den Jungen der Bauers hören. Dann war Nicola am Apparat.
»Kate. Ich nehme an, du hast davon gehört.«
»Ein Kriminalbeamter ist hier gewesen. Ich bin in meinem Büro. Tüchtig, kurz angebunden und oberflächlich, fürchte ich. Nicki, erlauben sie euch, dort zu bleiben?«
»Oh, ja. Eine Menge Leute sind bei uns überall herummarschiert, aber sie sagen, wir können bleiben. Mutter sagte, wir sollten zu ihr nach Hause kommen, aber sobald die Polizei sich wieder verzogen hatte, schien es uns irgendwie besser, hierzubleiben. Als ob wir, wenn wir weggingen, vielleicht niemals wiederkämen, als ob Emanuel niemals wiederkommen würde. Sogar die Jungen haben wir bei uns behalten. Ich nehme an, das hört sich verrückt an.«
»Nein, Nicki. Ich verstehe das. Ihr bleibt. Kann ich euch besuchen? Erzählt ihr mir, was passiert ist? Erlauben sie mir, dass ich komme?«
»Sie haben nur einen Polizisten draußen vor der Tür gelassen, um die Neugierigen fernzuhalten. Es waren schon Reporter da. Wir würden dich gern sehen, Kate.«
»Du klingst erschöpft, aber ich komme auf alle Fälle.«
»Ich möchte dich gern sehen. Ich weiß nicht, was Emanuel meint. Kate, sie glauben anscheinend, wir hätten es getan, in Emanuels Praxis. Kate, kennst du niemanden von der Staatsanwaltschaft? Vielleicht könntest du …«
»Nicki, ich bin gleich bei dir. Ich tue alles, was ich kann. Ich fahre gleich los.«
Draußen vor ihrem Büro warteten noch immer ein paar Studenten. Kate eilte an ihnen vorbei die Treppen hinunter. Auf dieser Bank hatte auch – wie viele Monate war das her? – Janet Harrison gewartet. Professor Fansler, könnten Sie mir einen guten Psychiater empfehlen?