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Ally Klein

DER WAL

Roman

Literaturverlag Droschl

»Du sagtest, dass du niemals über reale

Menschen schreibst, nicht wahr? Vielleicht

werde auch ich weniger real, wenn du über

mich schreibst.«

– Karl Ristikivi, »Die Nacht der Seelen«


»Sicher, real ist nur einer von uns.«

– Kōbō Abe, »Der Schachtelmann«

Saul


Das wird Saul gesehen haben

Die braunen Blätter, gerippte verdorrte Röllchen, umringten die Buche. Im Wind rotierten sie um den Baum, mit jedem Zug trug er sie davon, vertrieb sie von ihrer Ruhestelle, verrückte den Ort, den die Erdanziehung ihnen in diesem lebensverneinenden Winter zugewiesen hatte, den Ort, an dem sie ihre letzte Stätte hätten finden sollen, aber der Wind gewährte ihnen diese Ruhe nicht, gönnte ihnen ihren reglosen Tod nicht, den langsamen Übergang zu Aas, die stete Verwesung zu Humus. Jedes Mal blies er sie hoch und ließ sie wieder an einer anderen Stelle langsam absinken. Sie kreisten in der Luft, lebensleer und teilnahmslos, und sobald der Wind sich weiter nach oben verzog und sich auf die lichte Krone stürzte, ließen sie sich ihren nächsten Fleck vom Zufall zuteilen.

Der Wind geisterte durch die Leere zwischen den Ästen, so dick und schwer, dass sie seinen Stößen nicht nachgaben, riss das eine oder andere verbliebene Blatt ab, das seit Monaten ausgetrocknet an einem Härchen hing und bloß auf gut Glück am Baum haftete, und trug es mit einem Zug fort.

Es wurde kurz still, aber schon regte sich etwas. In dem Laubhaufen raschelte es, wühlte sich etwas nach oben, aus den Schichten an toten Blättern, aus den birnförmigen Blättergewinden schlüpften Spatzen hervor, hüpften aus den trompetenartigen Gehäusen, zwei, drei, vermehrten sich in Sekundenschnelle, aus den braunen, trockenen Hülsen sprangen braune, quirlige Vögel hervor, sprangen auf der Wiese umher, alle in verschiedene Richtungen, manche flogen davon.

Die Bank war morsch vom feuchten Winter. Das aufgeweichte Holz löste sich ab, sobald man seinen Rücken dagegen lehnte, und die Splitter verfingen sich im Gewebe der Kleidung. Der Lack hatte sich längst abgeschrubbt, nur an den Außenseiten der Bank sah man noch, dass sie einst grün gestrichen war. Der Abstand zwischen den einzelnen Brettern war immer breiter geworden, die Bank magerte sich ab, vergreiste, stöhnte unter eines Gewicht.

Kaum hatte Saul sich hingesetzt, drang die klamme Kälte im Nu durch seine Hose. Er packte sein Brot aus, ein zwischen zwei Scheiben eingequetschtes dickes Stück Käse, das einen säuerlichen Geruch ausstieß, hielt es mit beiden Händen zwischen den kantigen, aufgerissenen Fingern vor sein Gesicht, zwischen den hornhäutigen Kuppen, zu denen kein Gefühl, kein Gefühl der Welt vordrang, er umfasste den Pumpernickel in einer klauenartigen Geste, lehnte sich nach vorne, fuhr sich die Schnitte vor den Mund und biss hinein. Eine große, parabelartige Leerstelle zeichnete sich ab, Saul kaute schweigend vor sich hin, sein Unterkiefer malmte das Brot breiig, er hielt inne und schluckte es in einem Brocken hinunter.

Gerade als er das Essen wieder an seinen Mund fuhr, fixierten sie ihn – zwei gelbe Augen mit einem senkrechten schwarzen Schlitz in der Mitte. Er erwischte sie, noch bevor er wieder hineinbeißen konnte. Mit offenem Mund, im Biss verharrt, stierte er zurück, auf das rote Tier, das sich leise an ihn herangepirscht haben musste, stierte angestrengt mit seinen runden schwarzen Pupillen in diese schmalen Spalte, wie in Bernstein gemeißelt, Portale in den Kopf einer fremden Wahrnehmung, einer unbekannten Welt. Saul versuchte hineinzusehen, sein Gegenüber zu lesen, den nächsten Schritt vorherzusehen, so lange, bis er die Anstrengung nicht aufrechterhalten konnte. Die eigenen Gesichtszüge lockerten sich endlich, eine Ruhe breitete sich über sein Gesicht aus. Er blickte und hörte auf zu sehen, er blickte und sah nicht mehr, schaute bloß, schaute vor sich hin, schaute selbstvergessen, schaute vergessen in die Augen des anderen, bis sich dieser zu einem ersten Schritt traute. Das rotfellige Tier trat vorsichtig näher, die rechte Vorderpfote veranlasste die anderen dazu, ihrem Schritt zu folgen, ein Stück dichter an Saul heran, den Kopf leicht gebückt, die schwarze ledrige Nase schnüffelnd, blieb stehen, die Blicke beider hafteten noch aufeinander. Saul öffnete langsam die Brotscheiben, löste das dicke Stück Käse heraus und warf es dem Tier vors Maul. Der scharfe Geruch strömte nach oben. Davon wie angezogen, senkte der Fuchs den Kopf, zögernd, die Augen immer noch auf Sauls geheftet, senkte ihn immer tiefer, schnupperte an dem stinkenden Brocken, hielt inne, blickte hinauf, dann schnappte er sich den Käse und schoss davon.

Saul, wieder alleine, legte die zwei Scheiben zusammen und biss in das trockene Brot.

Seit der Morgendämmerung hatte der Himmel die betongraue Farbe nicht abgelegt. Die Wolkenmasse war wie in Zement erstarrt. Überhaupt erinnerte der Tag seit Monaten daran, dass er bloß ein kurzer Übergang von einer Nacht zur anderen war, er war auf ein paar schummrige Stunden zusammengeschrumpft, ein knapper Zeitraum in düsterem Grau zwischen vorherrschender Dunkelheit, ein Bindeglied der Finsternis, mehr war er nicht.

Saul stand im Türrahmen und sah nach draußen. Die Wolken hingen diesmal tiefer über dem Flachland als sonst. Wie vollgestopfte Säcke, klobig und unbeweglich, bedeckten sie den Himmel, und, kaum setzte er zum Schritt an, kaum war er dabei, über die Schwelle zu treten, brach der Regen herab.

In Pfeilen beschoss er die Ortschaft. Bleierne Schäfte aus Wasser stürzten sich hinunter, stürzten sich auf die Siedlung, stürzten sich auf die Straßen, die Dächer, stürzten sich auf alle Oberflächen und zerbarsten daran. Sie zerbarsten am Asphalt, zerbarsten an Ziegeln, zerbarsten am Beton, zerschossen in tausende Spritzer, in winzigen Wasserschutt, flossen zusammen und wuchsen vereint zu einer riesigen Lawine. In einer rasenden Flut strömte das Wasser die Abhänge hinunter, riss alles mit sich, was seiner Gewalt nachgab, alles der Ortschaft Aufgetragene, alles Lose, alles, was sie schmücken sollte, jede Kreidezeichnung spülte es weg, die Lichtgirlanden, die der Regen zuvor von den Dächern, den Balkonen abgeklopft, abgeschlagen hatte. Alles, was der Mensch in seiner Vergesslichkeit, in seiner Ignoranz übrig gelassen hatte – jede Plastiktüte, jeden Zigarettenstummel, jedes Müllpartikel riss die Flut mit sich, das Wasser wallte durch die Straßen, schoss um die Ecke, keine Gasse war davor sicher, alles spülte es fort, alles war ihm ausgeliefert, es hatte über alles Dingliche, alles Körperliche, alles Atmende, alles Kriechende, alles Kämpfende triumphiert, nur Wasserfluten, überall.

Saul ahnte, was in der Ortschaft vor sich ging. Er musste ahnen, dass, wenn er sich jetzt auf den Nachhauseweg machte, den Wal verließe und in die Ortsmitte hinabstiege, ihm das Wasser dort bis zu den Fußknöcheln reichte. Er musste wissen, dass er im Nu nass würde, bis zu seinem Haus müsste er mindestens eine halbe Stunde laufen, quer durch die Siedlung. Er blieb im Türrahmen stehen und blickte hinaus. Fahle, grobkörnige Masse breitete sich vor ihm aus, stufte sich am Horizont in ein trüberes Dunkel ab und wurde über die Felder zu einem mörtelen Grau.

Er hob seine Hand an, streckte sie nach vorn aus, mit der Fläche nach oben – die dicken Regentropfen klatschten auf seine geschwollenen Fingerkuppen. Er wischte das Wasser an der Hose ab, steckte die Hand in die Jackentasche, nestelte dort herum und fischte eine Zigarettenpackung heraus. Saul klopfte auf den Boden, sodass aus der Öffnung eine Zigarette herausrutschte, er steckte sie sich zwischen die Lippen, zündete sie an, zog – ein seimiger, weißer Rauch strudelte sich in seinem Mund zusammen, verschwand sogleich im schwarzen Rachen. Die Lungen bleichten den bläulichen Dunst, nahmen ihm die Essenz, und entseelt verließ der Rauch wieder seinen Mund. Die Glut fraß den Stängel nochmal kürzer, und nochmal, fraß ihn zu grauer Asche, Saul zog den Kragen mit beiden Händen hoch, blies aus und setzte einen Schritt nach vorne.

Kaum war er unter dem Regen, hing die Zigarette lappig von seinen Lippen. Er brach den Filter ab, steckte ihn sich in die Jackentasche, zerdrückte den feuchten Tabak und warf ihn auf den Boden, wo der gekräuselte Schnitt sofort von den Fluten fortgerissen wurde. Das Wasser rann ihm das Gesicht hinunter, den Nacken, kurz vor der Ortsmitte ging es durch die Kleidung, der Stoff hatte sich komplett vollgesaugt. Es tropfte ihm von den Ärmelenden, von den Hosenenden, tropfte vom Jackenbund, lief ihm in Strömen über die Haare. Mühsam schleppte er diese triefende Last voran. Der Regen drängte sich ihm in den Mund, sodass er ihn ausspucken musste, drängte sich ihm in die Augen, Saul konnte kaum geradeaus sehen. Das Wasser hatte ihn aufschwemmen lassen, hatte ihn aufgeweicht, er hätte sich jeden Moment auflösen, in matschige Klumpen zerfallen können. Saul schleppte sich vorwärts, jeder Schritt platschte durch die Ströme, die den Abhang hinunterrollten. Nach der Ortsmitte stampfte er den Hügel hinauf, den es in einer einzigen Woge hinunterspülte, lehnte sich vor, während der Anstieg ihn immer mehr in die Knie zwang. Er beugte sich vor, die Fersen berührten kaum noch den Boden, die Knie wurden mit jedem Schritt hinauf mehr gespitzt. Er stützte sich darauf, die Schritte wurden kürzer, wurden schwerer. Außer Atem, sodass man sogar durch den Regen das Rasseln in seinen Lungen hörte, schnappte er nach Luft, blieb endlich stehen und richtete sich auf. Jedes Mal, wenn er Luft holte, blähte sich der Rücken auf, die Schultern gingen hoch und senkten sich, die Schulterblätter drückten bei jedem Atemzug gegen den robusten Stoff der Jacke. Der Regen beschoss seinen Körper, schlug auf den vollgesaugten Filz ein. Die Haare klebten am Hinterkopf, es rann ihm die Wölbung hinab über den Nacken in den Kragen, die Kleidung haftete auf der Haut.

Oben an der Gabelung, wo der Asphalt aufhörte und Schutt den weiteren Pfad markierte, stand Saul, mit dem Rücken zum Ort, und verharrte. Endlich, langsam und nur nach und nach drehte er seinen Kopf, drehte ihn allmählich zur Seite, immer weiter, sodass das Kinn den Kragen der linken Schulter streifte, der Oberkörper drehte sich mit, schrittweise hob sich der Blick. Noch sahen die Augen nach unten, aber je weiter sich der Kopf nach hinten bewegte, hoben sich die Lider, die Pupillen wanderten nach oben, wanderten immer weiter nach links, Saul drehte sich langsam um, während die Fußspitzen immer noch in Richtung der Anhöhe zeigten, er drehte seinen Kopf immer weiter, den Rumpf, die Pupillen wanderten nach oben, bis sie die Mitte des Augapfels erreichten, und da stoppten sie.

Sie fixierten einen Punkt, diesen einen Punkt, aus dem Saul beobachtet wurde, diesen einen Punkt, der ihm folgte, diese Augen, die jeden seiner Schritte nachvollzogen, jede seiner Bewegungen überwachten, er fixierte sie, stierte in sie hinein. Der Regen strömte über sein Gesicht. Das Wasser rann ihm um die Lider, tröpfelte von den Wimpern hinab, lief über die Wangen. Saul blinzelte nicht, er heftete seinen Blick, stand reglos da, entschlossen, er schaute nicht, schaute diesmal nicht, sondern sah. Erwischt, ertappt hatte er diese Augen, die ihm so unmerklich zu folgen schienen, er sah sie direkt an. Belauert hatten sie ihn, beschattet, unbemerkt hatten sie ihm nachgeschnüffelt. Sie waren überall dabei, waren bei seiner Begegnung mit dem Tier dabei, waren da, als er sich die Zigarette angezündet hatte, anwesend, als er über die Ortschaft schritt und sich vom Regen vollquellen ließ. Sie waren ihm überallhin gefolgt und würden ihm von nun an weiter folgen, heimlich und im Verborgenen, dachten sie, aber Saul wusste um sie. Er sah sie an, durchbohrte sie mit seinem Blick, den schwarzen Iris.

Er nickte unmerklich, drehte langsam seinen Kopf wieder nach vorn, wandte sich um, hielt noch kurz inne und bog nach links ab, den Kieselweg hinauf.

Der feine Schotter prägte sich in den Schlamm unter seinen Sohlen ein, drückte sich in den Dreck und wurde mit jedem seiner Schritte fortgetragen. Saul ging den Hügel hinauf, je höher er stieg, desto mehr schrumpfte er in die Landschaft hinein. Immer kleiner und kleiner verschwand er oben in der Einfahrt.

1.

Mitten in der Nacht hatte der Regen abrupt aufgehört, als hätte man ihm den Hahn abgedreht. Saul öffnete die Augen, das schlagartige Verstummen hatte ihn geweckt. Er setzte sich auf, stellte die Füße auf den Boden – die Kälte schlug in die nackten Sohlen. Vom oberen Rahmen des kleinen Fensters ihm gegenüber schlitterten die verbliebenen Tropfen in Schleifen über die Scheibe. Saul nahm das Wasserglas vom Nachttisch, trank es leer. Er stand auf, holte sich Socken, schlüpfte in die Stiefel, ohne sie zuzubinden, warf sich den Mantel über und zog an der Tür zur Terrasse.

Durch die Feuchtigkeit hatte sich das Holz im Rahmen ausgedehnt, die Tür steckte fest, Saul riss sie mit einem unerwartet großen Kraftaufwand auf, sodass sie vibrierte, und trat über die Schwelle.

Kaum war er draußen, folgte jedem Atemzug ein dampfender Hauch. Jeder seiner wenigen Schritte zum Drahtsessel wurde von einem knarzenden Ton in den Dielen begleitet. Er ließ sich nieder und lehnte den Rücken gegen das weiße Drahtgeflecht. Die Kälte schockte seine Beine, alle Härchen stellten sich sofort auf. Er rieb sich die Oberarme, klemmte die Hände in die Armbeugen, um wenigstens die Finger warm zu halten, warf den Kopf zurück und atmete in einer Wolke aus.

Die überwinterten Grashalme, mit dicken Wassertropfen beladen, hielten deren Gewicht nicht stand, beugten sich bis zum Anschlag. Hin und wieder rutschten die schweren Wasserläufe ihre Buckel hinunter, verschwanden in der klammen Erde. Das Gewicht losgeworden, rappelten sich die Grasspitzen dennoch nicht mehr auf, faulten in den feuchtkalten Boden hinein.

Die Büsche um das Grundstück herum hatten sich aufgefächert, ihre dünnen, spitzen Zweige, die feinen Fühler in alle Richtungen gespreizt und waren erstarrt. Der größte der Bäume, die Platane, reckte sein krummes Astwerk wie Antennen zum Himmel, harrte, horchte in dessen einsame Weiten hinein. In einer Grabesstille warteten sie alle darauf, dass etwas passierte, warteten den ganzen Winter, dass ihre Verlassenheit bemerkt und erhört wurde, warteten und hofften, vergeblich.

Wie in einer Zeitstarre stand alles reglos da, in der Sekunde erschlagen. Überallhin hatte sich die Dunkelheit ausgeschwärmt. Schweigend saß sie im Gewirr der Sträucher, im fädigen Gewirr der Ruten, saß im hart getrockneten Laub, in jede Leerstelle, jeden Spalt hatte sie sich eingeschlichen. Alles hatte sie sich einverleibt, saß da und lauerte, starrte aus ihrer Leere, mit ihren tausend Augen, die dunkle Materie, die alles in sich eingemummt hatte.

Nur auf der Wäscheleine, mitten auf der Wiese zwischen zwei Pfählen gespannt, rutschten verstohlen die Tropfen in die Mitte des locker angebrachten Seils, hingen einen Moment lang mit ihrem gesamten Gewicht dran, und sobald der Nachschub kam, fielen sie geräuschlos auf die Erde.

Saul saß auf seinem Stuhl, starrte unverwandt auf die einzige Zeitigkeit, die sich in diese Starre eingeschleust hatte, und beobachtete einen Tropfen nach dem anderen, deren Abgleiten in immer größeren Abständen geschah. Langsam stahl sich auch das Licht zwischen die eisenfarbene Masse des Himmels ein und zerteilte sie in Wolken. Aus den Bäumen, wo die Dunkelheit gerade noch alles totgeschwiegen hatte, begann es zu zwitschern. Der Tag kündigte sich an.

2.

Er musste auf dem Stuhl kurz eingenickt sein. Saul öffnete die Augen, das gräuliche Tageslicht hatte jegliche Erinnerung an den Traum ausgelöscht. Er lehnte sich vor, die Glieder, in der morgendlichen Kälte steif geworden, ließen sich nur schwer bewegen. Er beugte den Kopf, buckelte seinen Rücken und spürte jedes Knötchen, das sich in den Muskeln eingenistet hatte. Es rasselte leise aus ihm, über die Dauer des Schlafs hatte sich der übliche Belag in seinen Lungen angesammelt, der dicke, zähe Film hatte seine Lungen eingepuppt, er hustete ihn ab und machte diesem lebensvernichtenden Gespinst mal wieder einen Strich durch die Rechnung.

Saul erhob sich, verließ die Terrasse und setzte einen Kaffee auf.

Der Espressokocher röchelte, lauter als das Geräusch in Sauls Rumpf, er hob frühzeitig den Deckel an, Schaum spritzte aus dem Steigrohr. Er goss den Kaffee in eine kleine Tasse und trank ihn am Herd, gedankenverloren, an die Kochzeile gelehnt. Mit dem Kaffee schnell fertig geworden, stellte er die Tasse auf die heiße Herdplatte – der braune Ring auf dem weißen Boden krustete sofort ein. Er erschrak, als seine Finger den Henkel berührten, um die Tasse in die Spüle zu stellen, sie fiel zu Boden und brach in mehrere grobe Scherben.

Der Bohrhammer drillte sich unter die Fliese. Der schwingende, in seiner Bewegung unsichtbare, aufgelöste Aufsatz stemmte die Fliese hoch, knackte sie entzwei und hinterließ eine Staubwolke, sobald sie auf dem Boden aufkam. Nach und nach fiel eine nach der anderen auf den Beton, krachte auseinander, die Wand wurde nackter, wurde immer kahler, bis sie nichts mehr bedeckte als der verschmierte, verhärtete Zementkleber mit dem Abdruck der Fliesen.

Eine Kolonne der Bruchstücke, aufeinander getürmt, zog sich entlang, eine Zeile geometrischer Körper, durch Zufall bedingter Formen, Mutationen der Mathematik. Saul stellte den Bohrer ab – abrupt kehrte Ruhe in den Raum. Der Lärm echote noch in den Ohren und vertonte so den aufgewühlten Staub, der auf dem Boden landete. Die feinen Körner surrten leise in der Luft, wimmelten herum. Saul stieß mit der Schaufel unter den Haufen, lud einen Teil auf den Schubkarren und fuhr ihn hinaus. Irgendwo draußen hörte man ihn den Schutt kippen, auf einen schon vorhandenen Berg, kippte ihn womöglich in einen Container, Schutt auf Schutt, es hallte von draußen hinein. Er betrat, von einer Staubwolke umrissen, den Raum, packte eine weitere Ladung auf den Karren und kehrte dann erneut vor Staub qualmend zurück. So ging es mehrere Male, bis er endlich mit leeren Händen wiederkam.

Saul steuerte den umgedrehten leeren Wasserkasten an, vor der Wand ihm gegenüber, setzte sich darauf und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Beton. Das Licht, das von oben fiel, erhellte sein Gesicht, blendete, sodass er die Augen schließen musste, und wärmte die Haut.

Blind kramte er die Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche, drehte sie schräg auf den Kopf, klopfte auf den Packungsboden. Mit dem Filteransatz zuerst fiel aus der spärlichen Öffnung eine Zigarette heraus, Saul löste den Kopf von der Wand, öffnete die Augen, klemmte sich das Mundstück zwischen die Lippen und hielt das Feuer ans Ende. Sobald die Zigarette zündete, ließ er sich wieder zurückfallen und atmete aus.

Die Glut fraß sich durch den trockenen Blätterschnitt und ergraute zu Asche. Der Schwanz des Dunstes verschwand beim ersten Zug in der Mundhöhle, Saul hustete auf, als der Rauch in seine Lungen drang, er beugte sich vor, hustete in die schlaffe Faust und lehnte sich wieder nach hinten.

Winzige Staubpartikel umschwirrten ihn, ahmten grob seine Silhouette nach. Sie wagten kaum, ihn zu berühren, den unantastbaren, warmen Körper. Eine trübe Materie bildete einen Kranz um ihn, ein sanfter Schimmer umhüllte seine Gestalt, ein Schwarm aus Leuchtpartikeln, die mit ihren winzigen Körpern um ihn herum stoben, von seiner Statur gefangen genommen. Manche schafften es nicht länger, sich in der Luft zu halten, senkten sich nieder, bedeckten allmählich seinen Körper, seine Schultern, ließen sich auf seine Haare hinab.

Die Zigarette aschte sich auf den kahlen Boden ab, bis die Glut am Filter scheiterte. Saul warf den Stummel auf den Haufen, den er am vorigen Tag zusammengekehrt hatte, Überbleibsel des Schutts, zu fein für die Schaufel, Zementpulver, Mörtelasche, die sich in der Ecke türmten. Er betrachtete die leeren Wände, auf die der Besitzer vor ihm diesen Zementbrei geklatscht hatte, um sie dann zu fliesen. Diesen aschfarbenen, weichen Beton hatte man mit Kacheln vollgekleistert, den seelenlosen, falben, in Farbe einer kränklichen Haut. Auf diesen Beton hatte man Gips geschmiert, seine Zartheit bekleckert und eine Kachel nach der anderen aufgedrückt. Mit seinen Händen, seinem Gewicht hatte dieser Mensch eine Fliese nach der anderen hineingeprägt, hatte sich hineingeprägt, seine Vorstellung von diesem Raum, sein Ich. Die gefliesten Wände hatten dieses Ich ausrufen sollen, jede Fliese hatte Ich! gerufen, ich, ich, ich, ich, Ich. Man hatte diesen Wänden ein Ich aufgedrängt, gegen ihre eigene Identität verstoßen, diese zurückhaltende, bescheidene Identität. Überall, in jeder Fliese, jedem Zwischenspalt, jedem Winkel hatte man dieses fremde, dem Menschen zugehörige Ich eingefangen. Man hatte alle vier Betonwände in Ich-Vierecke eingegittert, einen Käfig hatte man aus ihnen gemacht, man hatte sie in Gefangenschaft genommen, in Verwahrung eines Ichs gebracht.

Tagelang hatte Saul die Fliesen abgetragen. Jeden Zentimeter hatte er mit dem Bohrhammer bearbeitet, jede Kachel sorgfältig entfernt und die Wände ihrem ursprünglichen Zustand näher gebracht. Die Überbleibsel dieser Ich-Vereinnahmung hatten aufgetürmt auf dem Boden gelegen, alles, was vom Menschen übrig blieb, waren Häufchen seines Willens, kleine Zeilen seines Seins.

Noch bedeckten eingehärtete Zementbuckel, höckerige Kleberreste und Schmierereien aus Gips die Wände, aber langsam offenbarte sich der Beton unter ihnen. Ein ins Bläuliche abdriftender Gigant, den diese Parasiten befallen hatten.

Saul ließ sich das Gesicht vom Licht erwärmen. Eine ganze Weile saß er noch mit geschlossenen Augen gegen die Wand gelehnt. Sobald der Schein aber zu schwinden begann, erhob er sich, packte seine Sachen zusammen und verließ den Wal.

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