Morgensonnenschein

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Morgensonnenschein
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Morgensonnenschein

1  Kapitel 1

2  Kapitel 2

3  Kapitel 3

4  Kapitel 4

5  Kapitel 5

6  Kapitel 6

7  Kapitel 7

8  Kapitel 8

9  Kapitel 9

10  Kapitel 10

11  Kapitel 11

12  Kapitel 12

13  Kapitel 13

14  Kapitel 14

15  Kapitel 15

16  Kapitel 16

17  Kapitel 17

18  Kapitel 18

19  Kapitel 19

20  Kapitel 20

21  Kapitel 21

22  Kapitel 22

23  Kapitel 23

24  Kapitel 24

25  Kapitel 25

26  Kapitel 26

27  Kapitel 27

28  Kapitel 28

Kapitel 1

„Zelda, wir kommen noch zu spät!“ Meine Mutter hatte nun den Höhepunkt ihrer Nervosität erreicht.

Schon seit Tagen war sie zappelig und schreckhaft gewesen und obwohl der Termin für die Zeremonie schon seit der Geburt des Jungen vor zwei Wochen feststand, hatte mich schließlich meine Mutter doch mit ihrer Aufregung angesteckt und auch ich war unruhig geworden. Ein letztes Mal zupfte ich an meinem Zopf herum, gab es schließlich auf, ihn zu verschönern, und zwängte mich aus dem eh schon engen Badezimmer in den noch schmaleren, düsteren und schmuddeligen Flur mit der dreckgrünen Wandfarbe und dem grauen Steinboden. Schmuddelig war dieser nicht etwa, weil meine Mutter nicht putzte, sondern weil wir uns jenen, genauso wie das Bad, mit zwei weiteren Familien teilten. Mit drei langen Schritten hatte ich den Gang passiert und traf vor der Haustüre auf meine Mutter, in ihrem blauen Gänseblümchenkleid, dem wertvollsten Kleid, das sie besaß, da es keine Flicken hatte, meine kleine Schwester Dora und meinen neugeborenen Bruder. Eigentlich durfte den Kindern vor der Zeremonie noch kein Name gegeben werden, aber meine Mutter, die der festen Überzeugung war, dass der Junge bei uns bleiben durfte, hatte ihn schon benannt: Leo- Löwe.

Natürlich könnte sich jetzt so mancher fragen, warum ich nicht einfach meiner Mutter erzählte, welchen Preis der kleine Leo hatte, aber so einfach war es dann doch nicht. Besonders bei noch sehr jungen Menschen brauchte es als Preisrichter ein geübtes Auge, um den Wert seines Lebens zu erkennen. Bei Erwachsenen dagegen war es sehr einfach: Ein Blick auf ihre Stirn und du wusstest wahrscheinlich mehr über ihren Wohnort und ihr Leben als die meisten anderen auf der Straße. Zahlen verraten einem vieles…Und selbst wenn ich mehr Übung gehabt hätte, hätte ich meiner Mutter Leos Preis nicht sagen können, zum ersten, weil ich ihr mein Geheimnis nicht einfach verraten konnte und zum zweiten, weil ich nicht diejenige sein wollte, die diese unendliche Trauer in ihren Augen auslöste, falls ihr Kind nicht bleiben durfte. Dies war der Fall, wenn sein Preis den Bereich unter 300 sprengte. Dann kam er zu den „normalen“ Familien, zu der Art von Familie, die es sich leisten konnte, einmal im Jahr in den Urlaub zu fahren, deren Kinder die Schule auch nach dem Beenden ihres 15. Lebensjahres noch besuchen konnten und die ein gesundes und glückliches Leben führten. Schon dieser soziale Aufstieg war selten, fast unmöglich erschien da die Überschreitung der 450 Marke. Von da an gehörte man nämlich zu den Reichen, vielleicht noch nicht zur Elite, die ab 600 begann, aber doch zur höheren Bevölkerungsschicht, die kleinere politische Ämter bekleideten oder in großen Konzernen so etwas wie die rechte Hand ihres Chefs waren. Die Elite bildeten wenige Professoren an renommierten Universitäten, Chefs großer Konzerne, Politiker und natürlich die Preisrichter. Jetzt wäre es wohl interessant zu wissen, warum ich diese Chance auf einen so großen sozialen Aufstieg einfach wegwarf. Der Grund dafür war meine Mutter: Regelmäßig zog sie über die, ihrer Ansicht nach, korrupten Preisrichter her. Ich hatte Angst sie würde mich dafür hassen, was ich war und dafür, dass ich sie verlassen würde.

Kapitel 2

Gerade hatten wir nach einem Fußmarsch von etwa zehn Minuten durch mein Heimatviertel Limestone die Straßenbahnstation, einen nichtssagenden hölzernen Überstand mit einem ramponierten Ticketschalter vor den verwitterten Bahngleisen, erreicht und stiegen dort in eine Bahn nach Marpel City, dem politischen Zentrum von Stones, ein. Das Kribbeln in meiner Magengegend verstärkte sich zunehmend und um diese Nervosität abzubauen trommelte ich mit meinen Fingern beliebige Rhythmen auf den dreckigen Scheiben unseres Abteils. Warum unseres Abteils? Natürlich hatte meine Familie in dem blauen Zug mit den dynamischen gelben Streifen an der Seite nicht ein einziges Abteil für sich allein. Mit uns meinte ich nämlich auch die vierte Bevölkerungsschicht. Wie die Stadt nach Vierteln für Menschen gleicher Preisklasse aufgeteilt wurde, so wurden auch Straßenbahnabteile oder Bänke für verschiedene Bevölkerungsschichten errichtet, die sich dann natürlich auch in ihrer Ausstattung unterschieden. Die fünfte Bevölkerungsschicht war zusammen mit der vierten in einem Abteil. Die dritte Schicht hatte ihr eigenes und es gab auch eine kleine Loge für höhere Schichten, die mit allem möglichem Schnickschnack ausgestattet worden war, wie ledernen Sitzen oder goldumrandeten Abteilungstüren. In unserem Bereich waren nur wenige Sitzplätze errichtet worden. Diejenigen, die sich am Bahnhof vorgedrängelt hatten, saßen auf unbequemen Holzbänken, die anderen standen. So näherten wir uns der nächsten Haltestelle nach Limestone: Ardesia. Das Viertel der dritten Schicht stellte den puren Gegensatz zu Limestone dar. In Ardesia waren die Straßen sauberer, die Häuser schöner und größer, der Himmel klarer, nicht verrußt vom Schornsteinrauch, und die Menschen besser gekleidet und wohlgenährter. Dieser Anblick Ardesias in den frühen Morgenstunden war einfach unbegreiflich schön: die roten, taunassen Dächer und verlassenen Straßen, die Bäume und Grünflächen, die kleine Parks mit Spielplätzen erahnen ließen und im Sommer mit ihrem kühlen Schatten und den Badegelegenheiten viele Ardesianer anlocken würden. Erst einmal zuvor war ich hier gewesen, vor zwölf Jahren, zur Zeremonie meiner damals neugeborenen Schwester, als ich gerade einmal vier Jahre alt gewesen war. Dieser Gedanke brachte mich in die Gegenwart zurück. Die Zeremonie meines Bruders! Leichte Übelkeit stieg in mir hoch, als ich daran dachte, was letztes Mal, als ein Sohn meiner Mutter an der Zeremonie teilgenommen hatte, geschehen war… Damals hatte mein Vater noch gelebt. Ich kannte die Geschichte nur aus Erzählungen, da ich damals, vor 17 Jahren, noch nicht auf der Welt gewesen war. Meine Eltern waren mit ihrem ersten gemeinsamen Kind zur Zeremonie gegangen, ihre Zukunft als glückliche Familie fest im Blick. Doch dann war das fast unmögliche geschehen: mein Bruder hatte den Preis 451 und dieser Wert stufte ihn in die zweite Schicht ein. Meine Eltern flehten die Preisrichter an, ihnen ihren Sohn zu lassen, hatten sie sich doch mit dem Gehalt meines Vaters als Leiter der Schmiede seines Vaters ein kleines Häuschen mit Garten am Rande der Stadt zulegen können, doch vergebens. Die Preisrichter hatten sich von den Tränen meiner Mutter nicht erweichen lassen und auf ihrem Urteil beharrt. Die Starrsinnigkeit der Richter hatte damals meinen Vater so erzürnt, dass er versucht hatte, sich auf diese zu stürzen. Gerade noch hatte sein Freund, der ebenfalls mit seinem Neugeborenen da gewesen war, ihn zurückhalten können, um Schlimmeres zu verhindern, doch die Botschaft war klar angekommen. Anstatt die Frist von drei Tagen abzuwarten, war mein Bruder sofort eingezogen worden. Doch vieles war noch ungeklärt, auch nach diesem Tag. Wie konnte es sein, dass ein Junge, dessen Eltern beide aus der vierten Schicht stammten, einen Preis von 451 hatte? Es wurde gemunkelt, dass meine Mutter einen Liebhaber gehabt hatte oder dass der hohe Preis eine Generation übersprungen hatte und meine Großeltern, die zur damaligen Zeit nicht mehr lebten, etwas damit zu tun hatten, schließlich war der Preis erblich bedingt wie die Haarfarbe, und ich fragte mich in meinen rebellischsten Momenten oft, ob dieser wohl genauso leicht verändert werden konnte wie die angeborene Haarfarbe durch Färben. Jedenfalls bewiesen werden konnte keine jener Anschuldigungen jemals. Den Preisrichtern jedoch war egal gewesen, ob meine Eltern die Spekulationen um ihren Sohn vehement zurückwiesen. Sie sahen nur das Vorliegen eines Gesetzesverstoßes, das Anderssein und aus der Reihe tanzen befürwortete bei den Preisrichtern schon die Annahme eines solchen, und dieser musste geahndet werden, wozu sie sich den auffälligsten und aufrührerischsten aus meiner Familie aussuchten: meinen Vater. Er war in einer Nacht, etwa ein dreiviertel Jahr nach dem Tag der Zeremonie auf dem Weg zwischen seiner Schmiede und seinem Haus tot aufgefunden worden, ermordet. Niemand wusste bis heute, wer ihn getötet hatte, doch viele gingen davon aus, dass es die Strafe der Preisrichter gewesen war. Für meine Mutter brach damals eine Welt zusammen. Sie hatte in einem Jahr ihr Kind, ihren Mann, ihr Zuhause und ihre Zukunft verloren. Dazu war sie mit mir schwanger und mittellos gewesen, ein Umstand, der in der harten Welt Limestones einer Frau nicht viele Wahlmöglichkeiten ließ. So kam es, dass sie den unmenschlichen Job einer Näherin in einer der Fabriken annehmen hatte müssen, und das war auch ein weiterer Grund, warum ich ihr niemals davon erzählen durfte, dass ich selbst eine war, eine Preisrichterin.

 

Kapitel 3

Inzwischen wurde der Zug langsamer, bis er schließlich ganz zum Stehen kam. Meine Familie richtete sich auf und zusammen mit der nun vergleichsweise geringen Menge anderer in trostlose, graue Gewänder gekleideter Fahrgäste verließen wir die Straßenbahn. Wir hatten nun, nach einem kurzen Zwischenstopp in Ardesia, Marpel, das Viertel, das zwischen Ardesia und Pebble, dem Wohnort der Reichen lag, und dessen Zentrum Marpel City bildete, erreicht. Vor uns erhob sich eine Mauer, nicht eine von der kalten, hässlichen Sorte, sondern eine helle, aus Marmor in warmem Karamellton gemachte und mit Schnörkeln verzierte. Die Gleise hier sahen fast wie poliert aus, die Querstreben bestanden aus neu aussehenden, hellen Holzstücken, die gepflasterte Fläche bis hin zu einem schnuckeligen, in die Mauer integrierten Bahnhofsgebäude mit einer Turmuhr, die gerade zehn Uhr anzeigte, und einer großen goldenen Glocke, die ihren klaren Klang zur vollen Stunde über die Köpfe der überschaubaren Menschentraube verbreitete, war auf die Höhe des Ausstiegs aus dem Wagon angeglichen worden, nicht so wie zu Hause in Limestone, wo man auf einem unebenen Kies- Betongemisch landete, nachdem man einen gigantischen Schritt in Richtung Boden gemacht hatte. Rechts von uns stiegen zwei in Anzug und Melone gekleidete Ardesianer, die lebhaft miteinander gestikulierten, aus ihrem Abteil, und schritten weiter fort von uns, um etwas abseits vom gemeinen Pöbel auf den viel luxuriöseren Anschlusszug nach Marpel zu warten. Ich richtete meinen Blick wieder auf die Verzierungen an der Mauer vor uns. Die Schnörkel, wie ich sie vorher abfällig genannt hatte, bildeten dreidimensionale Fortsätze von Tierköpfen, Löwen-, Schlangen- und edlen Pferdeköpfen. Für die höheren Schichten war eben nichts zu schade. Auch meiner Mutter war dieses Detail nicht entgangen und sie verzog angewidert ihren Mund, einen verbissenen Blick in ihren blauen Augen. Einen Durchgang zum hinter der Mauer gelegenen Umland bildete ein eisernes Tor, vor dem zwei Männer in für Grenzwärter typischen grünen Uniform aus Hose und Jackett mit den silbernen Knöpfen standen. Ihre grünen Schirmmützen mit dem Symbol einer sich um einen Stein windenden Schlange, die verdeutlichte, dass diese Männer Stones schützen sollten, warfen einen Schatten auf ihre Gesichter, während die ersten mit Zetteln in der Hand auf sie zuliefen. Es war nämlich so, dass man als Bürger einer unteren Schicht eine Genehmigung brauchte, um in ein Viertel der oberen Bevölkerung zu kommen, also eine Sondergenehmigung oder einen Nachweis seiner Arbeitsstelle in dem Viertel einer höheren Schicht, wohingegen es andersrum nicht nötig war, ewig lange Formulare auszufüllen oder überhaupt irgendeine Absichtserklärung, was man in einem niederen Viertel wollte, mit sich zu führen. So kam es, auch wenn sich normale Bürger fast nie nach Limestone verirrten, dass doch so mancher der höheren Schicht angehörige Mensch auf die Idee kam, mit unserer Armut ein Geschäft zu machen, unseren Markt mit billigen Lebensmitteln zu überfluten und somit die ansässigen Händler zu vertreiben, die ihre handgefertigten teureren Waren und selbsthergestellten Lebensmittel nicht mehr an den Mann bringen konnten. Und wenn diese Kaufmänner dann merkten, dass doch nicht so viel bei uns zu holen war, zogen sie sich und ihre Produkte von unserem Markt zurück und überließen uns damit dem Hunger, weil niemand mehr Essen verkaufte. Jedes Mal, wenn wir auf der Höhe unseres „Wohlstandes“ waren, kamen die geldgierigen Ardesianer oder gar Pebbler und zerstörten alles. Bald war es wieder so weit, so munkelte man. Aber was tun dagegen? Seine Hoffnung auf die Politiker setzen? Wohl eher nicht. Denen kam die ganze Geschichte doch gerade recht, schließlich wollte man, dass die untere Schicht nicht allzu großen Wohlstand erreichte. Aber was verstanden die schon von unserem Leben, in ihren glitzernden Hochhäusern, nichtsahnend, wie die Realität aussah. Ein Kampf, ein einziger Kampf war das Leben, vor allem als Witwe, wie mir meine Mutter schon früh beigebracht hatte. Die Bösen wollte man nicht spielen! Was für Angsthasen die Politiker doch waren. Angst hatten sie, vor der unteren Schicht, vor einer Wirtschaftskrise, vor dem Zusammenbruch ihres Systems. Deshalb versuchten sie auch den Schein zu bewahren, ihr gutes Image zu behalten. Doch mich konnten auch Armenspeisungen nicht davon abbringen zu sehen, was sie wirklich waren…

„Zelda, nicht trödeln!“ Meine Mutter riss mich aus meinen Gedanken in die Gegenwart zurück.

Die Schlange, die sich vor dem Eisentor gebildet hatte, war in den letzten Minuten beträchtlich geschrumpft. Meine Mutter stand schon vor den Wärtern, ihre Genehmigung in der Hand und winkte mich ungeduldig zu ihr. Schnell hastete ich an ihre Seite und zusammen traten wir, meine Schwester an der Hand meiner Mutter, mein Bruder in meinem Arm durch das Tor. Der Anblick, der sich uns bot, war atemberaubend schön. Überall glitzernde Dächer riesiger Villen, die in den verschiedensten Farben leuchteten: senfgelb, aquamarinblau, zartrosa, grasgrün. Immer wieder waren Tupfen grüner Flecken zu sehen, wo sich ein Park befand oder eines der kleineren Hochhäuser am Rande Marpel Citys vollkommen begrünt worden war. Zwischen uns und diesem Teil Stones lag eine Landschaft aus sanften mit saftigem Gras überzogenen Hügeln. In Richtung Ardesia wurde diese ungebändigte Schönheit doch auch Wildheit mit den vereinzelten knorrigen Bäumen und wuchernden Hecken von Zäunen für Weideflächen von Kühen, Schafen und Ziegen gebändigt und noch weiter westwärts konnte man im Dunst des Morgens gerade noch die großen Bauernhöfe ausmachen, die sich an die Wohnhäuser Ardesias anlagerten. Meine Schwester jedoch hatte nur Augen für Marpel, sie stierte regelrecht ins Häusermeer, als wollte sie jedes noch so kleine Detail in sich aufsaugen. Doch mein Blick glitt weiter über die großen, geräumigen Grundstücke hinweg zum Zentrum des Farbenschauspiels, dem Zentrum von Stones, dem Ziel auf unserem Weg: Marpel City. Die vielen gleichmäßig angeordneten Hochhäuser, in denen sich vor allem Büros befanden, wurden nur von einem Gebäude überragt: Diamond Tower. Und er machte seinem Namen alle Ehre. Die aufgehende Sonne spiegelte sich in den tausenden von Fenstern an der Fassade des Turms, hart und kalt verschluckten sie alle Wärme. Doch diese Schönheit ließ mich nur noch mehr erkennen, wie scheinheilig unsere Welt doch war, denn hinter den funkelnden Mauern wurde über Armut oder Reichtum, Familie oder Fremde entschieden. Der Diamond Tower bildete nämlich das Hauptquartier der Preisrichter. Das war unser Weg, dorthin mussten wir gehen. Die Welt konnte so schön sein wie ein Diamant, doch man sollte nie vergessen, dass diese genauso hart wie jener war.

Als wir den schmalen Pfad, der von der Anhöhe, auf der der Bahnhof lag, in Richtung Marpel führte, hinabliefen, kam uns eine frische Brise entgegen. Dankbar die klare Luft einatmend schmeckte ich deutlich den Salzgeschmack auf meiner Zunge. Das Meer lag einige Kilometer hinter Marpel, wurde aber gänzlich von den vielen Häusern verdeckt. Nur ein Dunstschleier ließ erahnen, wo sich ungefähr Himmel und Wasser trafen. Verträumt blickte ich nach vorne, dahin, wo sich der breiter werdende Weg in der hügeligen Landschaft verlor. Dieser wies schon deutliche Verfallsspuren auf und da, wo das Wetter Risse hatte entstehen lassen, wuchsen bereits Gräser und Farne, was darauf schließen ließ, dass der Weg vom großen Tor weg nur noch spärlich benutzt wurde, da die meisten Menschen, die es sich leisten konnten, mit der Straßenbahn weiter nach Marpel City fuhren. Nur einmal trafen wir auf ein paar in Lumpen gekleidete Leute im Schatten eines großen Ahorns, doch unsere Mutter zeigte uns mit einem kurzen Kopfnicken an, schnell weiterzulaufen, denn selbst wir mussten uns vor den Menschen aus Coalman, der untersten Schicht, in Acht nehmen. Denn diese Leute hatten wirklich nichts mehr zu verlieren. Sie arbeiteten in Minen und Stollen untertage oder verdienten sich ihr Täglich Brot mit illegalem Betteln in den Stadtvierteln höherer Schichten.

Gegen Mittag waren wir unserem Ziel schließlich ziemlich nahegekommen, da wir die ersten Ausläufer Marpels erreichten. Als wir uns dem Stadtviertel immer weiter näherten und uns auf dem nun mit roten und braunen Steinen gepflasterten Weg durch einen kleinen Wald aus Ahorn-, Linden- und Kastanienbäumen die ersten Menschen entgegenkamen, schärfte uns unsere Mutter noch einmal dringlichst ein, den Blick gesenkt zu halten, schließlich wollte man keinen Ärger provozieren. Denn natürlich waren wir Limestoner in Marpel eher unerwünschte Gäste und obwohl wir unsere besten Sachen trugen, unterschieden wir uns deutlich von den sauber gekleideten Marpels mit ihren samtenen oder seidenen Anzügen und Kleidern, die genauso schön wie die Häuser in der Morgensonne leuchteten. Schon allein deshalb war es natürlich nicht einfach, den Kopf gesenkt zu halten. Gerade als ein älterer Herr in einer ziemlich geschäftigen Einkaufszone auf uns zukam, hielt ich es einfach nicht mehr aus und hob meinen Kopf ein Stück, um einen Blick auf seinen royal blauen Anzug zu erhaschen. In diesem Moment trafen sich unsere Blicke: Seine blaugrauen Augen, zwischen denen eine etwas knorrige Nase saß, weiteten sich vor Schreck und ohne Weiteres zu tun, wechselte er auf die andere Seite der Fußgängerzone. Als ich wieder in die demütige Haltung zurückkehrte, sah ich einen Funken Humor in den Augen meiner Mutter aufblitzen, bevor sie sich wieder auf den Weg konzentrierte, der uns immer weiter zu einem neuen Leben ohne Angst um den in seiner imposanten Schafswollendecke noch kleiner und gebrechlicher wirkenden Leo führte, oder zum alles verschlingenden Abgrund. Aber daran wollte ich noch gar nicht denken.

Als ich bereits den Diamond Tower durch die Kamine der Häuser sehen konnte, machte sich wieder die alte Unruhe in mir breit, die mich schon die Tage davor gequält hatte und die ich durch den anstrengenden Marsch für kurze Zeit verdrängt hatte. Weil sich der Weg, dem wir seit unserer Ankunft im Viertel Marpel gefolgt waren, dem Stadtzentrum von Osten näherte, hatten wir nur einen kurzen Marsch durch Einkaufsstraßen mit feinen Stoffläden, Maßschneidereinen, die selbst mein Antihandarbeitsherz höher schlagen ließen, und noblen Restaurants, die einen wundervollen Duft nach Gebäck und Kaffee in die Straße sandten, hinter uns bringen müssen, um zum Hauptquartier der Preisrichter zu gelangen. Man könnte sich jetzt fragen, warum wir uns nicht auf dem geraden Weg, also von unserem südlich gelegenen Standpunkt nach Norden hin, genähert hatten. Ganz einfach! Auch mit einer Lizenz war es uns nicht erlaubt in das Wohngebiet der Elite vorzudringen oder gar hindurch zu reisen. Deshalb hatten wir auch den anderen Weg nehmen müssen, den vom Südtor in Richtung nördlich gelegenes Meer und dann um die Luxusvillen herum in Richtung Osten.

Die Zeit schien sich zu verlangsamen, als wir schließlich den Fuß des Hochhauses erreichten. Ich warf meiner Mutter einen zuversichtlichen Blick zu, während sie vor dem Eingang Leo noch einmal fest an sich drückte. Sie warf nervös ihre offenen glatten kastanienbraunen Haare nach hinten, die sie sonst immer in einem Knoten am unteren Teil des Kopfes trug, brachte gerade einmal ein schwaches Zucken mit den Mundwinkeln zustande, das seine zuversichtliche Wirkung weit verfehlte, und trat mit entschlossener Miene durch die silberne Eingangstür, die von einem in eine schwarze Robe gekleideten Mann bewacht wurde, der uns allerdings keines Blickes würdigte. Ich sah zu meiner Schwester hinab, die verängstigt die schier unendlich lange Glaswand über uns hinaufsah. Ich brachte es zusammen, ihr ein aufmunterndes Lächeln zu schenken und sagte besänftigend: „Keine Sorge Dora. Alles wird gut!“

 

Zwar hatte ich keine Ahnung, ob das stimmte, doch der Gedanke an ein Happy End ließ einen Funken Hoffnung in meiner Brust entstehen, den auch die kalte Fassade des Gebäudes nicht löschen konnte. Und schnell folgte ich meiner Mutter, dahin, wo ihre zierliche Gestalt vor ein paar Atemzügen verschwunden war, hinein in die Höhle der Löwen.